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Titel
Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen


Autor(en)
Berger, Lutz
Erschienen
München 2016: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Leube, Lehrstuhl für Islamwissenschaft, Universität Bayreuth

Mit seinem Buch zur Entstehung des Islams möchte Lutz Berger die „Geschichte frühislamischer Gesellschaften als Beispiel für die Entstehung von Imperien darstellen und sie dabei in ihre zeitgenössische Umwelt einbetten“ (S. 13). Diesem groß angelegten Vorhaben entsprechend ist der doppelte Untertitel des Buches noch untertrieben in Anbetracht einer zeitlichen Spanne von rund fünf Jahrhunderten, die Berger für den großzügig erweiterten Mittelmeerraum und Vorderen Orient behandelt. Hierbei konzentriert er sich im Wesentlichen auf die Beschreibung strukturellen Wandels und der Ereignisgeschichte im Übergang von Antike zu Mittelalter und geht nicht weiter auf die Rezeptionsgeschichte ein.

Das erste Kapitel zu „Gesellschaft und Religion in der Spätantike“ (S. 14–36) ist ein ganz großer Wurf, der in dichter Folge auf Basis der jüngeren Forschungsliteratur prägnante, aufeinander aufbauende Darstellungen von zeitgenössischer Apokalyptik, dem Aufstieg des Christentums, den daran anschließenden innerchristlichen Lehrstreitigkeiten, Zoroastrismus und Manichäismus, sowie dem Judentum bietet. Hierbei ist es allerdings insbesondere bei der Darstellung der Zustände unter sassanidischer Herrschaft zu bedauern, dass dem Verfasser die ebenfalls 2016 erschienene Monographie von Richard E. Payne1 offenbar nicht mehr vorlag, die ein nuancierteres Bild der Zustände im Sassanidenreich zeichnet, als es in der bisherigen Forschung vertreten wurde.

Nach dem furiosen Auftakt bleiben die beiden folgenden Kapitel zu den „antiken Großreiche[n] im 6. Jahrhundert“ (S. 37–60) und der „Krisenperiode des 6. und 7. Jahrhunderts“ (S. 61–83) etwas hinter den (übergroßen?) Erwartungen zurück, die das erste Kapitel geweckt hat. Berger bietet hier eine Zusammenfassung der einschlägigen Forschungsliteratur. Unklar bleibt dabei, warum Berger dem 'Wandel des Klimas' einen eigenen Abschnitt innerhalb des dritten Kapitels widmet, obgleich diesem kein nachvollziehbarer Einfluss auf die Entstehung der islamischen Welt zugesprochen wird. Im Abschnitt zur „Pest“ geht Berger nicht näher auf die These von Josef van Ess ein2, demzufolge die Pest von ʿAmwās eine Erkrankung dargestellt habe, die einzig die arabischen Eroberer befiel, während die sesshafte Bevölkerung Syriens gegen sie immun gewesen sei.

In den folgenden beiden Kapiteln zur „Einigung der Arabischen Halbinsel“ (S. 85–139) und zur „muslimische[n] Expansion“ (S. 141–234) greift der Autor insbesondere in der Schilderung der Eroberung und Eingliederung einzelner Regionen innerhalb der islamischen Welt wiederum weit aus. Aus ereignis- und strukturgeschichtlicher Sicht sind seine Schwerpunkte dabei durchweg gut ausgewählt, allerdings wirkt die Auswahl der wörtlich aus der arabischen Historiographie übersetzten Passagen teilweise eigenwillig. Insbesondere die schein-kannibalische Kriegslist, die Berger eingangs des Abschnittes zur Eroberung von al-Andalus in ganzer Länge übersetzt, ist zwar für die motivische Ausgestaltung der Eroberung durch den Historiker Ibn ʿAbdalḥakam typisch. Da Berger aber auf eine narratologische Analyse der Rezeptionsgeschichte der frühislamischen Eroberungen weitgehend verzichtet, wird nicht ganz klar, was die Übersetzung dieser Anekdote hier motiviert. Dagegen erstaunt die Auslassung der ersten Hiǧra im vorhergehenden Kapitel angesichts der großen Bedeutung dieser Flucht der ersten Unterstützer Muḥammads an den Hof des äthiopischen Negus für die islamische Geschichtserinnerung.

Auch im folgenden Kapitel zur „Entstehung der muslimischen Welt“ (S. 235–273) konzentriert sich Berger auf eine Zusammenfassung des Forschungsstands zur politischen und Strukturgeschichte der frühislamischen Zeit. Spätestens hier hätte ein Nachzeichnen verschiedener Deutungsmuster der frühislamischen Innenpolitik zum Verständnis gerade moderner Debatten innerhalb der islamischen Welt beigetragen. In dieser Weise hätte beispielsweise eine Figur wie Abū Ḏarr al-Ġifārī, der insbesondere in Iran seit der Islamischen Revolution zu einem Befreiungstheologen avant la lettre ausgebaut worden ist, innerhalb der klassischen islamischen Historiographie verortet werden können. Sieht man von diesem weiterführenden Desiderat ab, gehen insbesondere Bergers strukturhistorische Ausführungen auf Basis von Historiographie und materieller Kultur teilweise über eine bloße Zusammenfassung des Forschungsstandes hinaus und zeigen spannende weiterführende Perspektiven auf.

Diese strukturellen Überlegungen fasst Berger in seinem Nachwort (S. 275–282) zusammen. Besonders interessant in ihrer Prägnanz ist hierbei seine These, nach der das „Geheimnis“ des politischen Erfolgs der frühislamischen Staatlichkeit darin gelegen habe, dass die muslimische Herrschaft indirekter gewesen sei, als die sich zusehends bürokratisierende politische Machtausübung in den vorislamischen Großreichen (S. 279). Das geistesgeschichtliche Weiterleben der frühislamischen Geschichte wird auch hier nicht weiter thematisiert. Dies erstaunt insofern, als der Klappentext auf die Interpretation der Eroberungen als göttliches Beglaubigungswunder (muʿǧiza) des Islam anspielt.

Insgesamt beeindruckt Bergers Darstellung der frühislamischen Geschichte durch ihre Kohärenz und Klarheit, insbesondere in seiner Darstellung der Sozial- und Strukturgeschichte. Es erstaunt allerdings, dass Berger, als Autor der maßgeblichen deutschsprachigen Einführung in die Islamische Theologie3 mit den einschlägigen Debatten innerhalb der islamischen Geistesgeschichte bestens vertraut, für seine „Entstehung des Islam“ so wenig auf die Debatten um Glaubenspraxis und ein spezifisch islamisches Ritual eingeht. Eine solche „Innensicht“ bietet er weder für die frühe und klassische islamische Geschichtsschreibung, noch für die reichhaltige nicht-islamische Literatur insbesondere in syrischer Sprache. Folgt man Berger jedoch in diesem Verzicht auf eine systematische Besprechung der Quellenperspektiven, die die Rezeptionsgeschichte maßgeblich bedingen, ist seinen Ausführungen zu Herausbildung und Ausbreitung des Islam im Kontext der spätantiken Welt wenig hinzuzufügen.

Anmerkungen:
1 Richard E. Payne, A State of Mixture. Christians, Zoroastrians and Iranian Political Culture in Late Antiquity, Oakland, California 2016.
2 Josef van Ess, Der Fehltritt des Gelehrten. Die „Pest von Emmaus“ und ihre theologischen Nachspiele, Heidelberg 2001, insbesondere 2.5.3.1.2 Exkurs: Der Charakter der Seuche. Symptome und Vokabular, S. 279–285.
3 Lutz Berger, Islamische Theologie, Stuttgart / Wien 2010.

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