Cover
Titel
Internet im Kalten Krieg. Eine Vorgeschichte des globalen Kommunikationsnetzes


Autor(en)
Schmitt, Martin
Reihe
Histoire 102
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
29,99 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Röhr, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Seit fast 40 Jahren unterliegt die Debatte, ob Digitalisierung und Vernetzung eher Fluch oder Segen sind, wandelnden Konjunkturen. Während im Verlauf der 1980er-Jahre die zunächst dominierende Wahrnehmung von Computern als Arbeitsplatzvernichtern immer schwächer wurde, wurde in den 1990er- und 2000er-Jahren vor allem das Internet als demokratischer und ökonomischer Heilsbringer zelebriert. In den letzten Jahren gerieten die positiven Deutungen des Internets durch die Enthüllungen von Massenüberwachungen und das Aufkommen von medialen Parallelöffentlichkeiten jedoch zunehmend in die Defensive.

Auch die Historiografie des Internets folgt diesen Konjunkturen. Während in den 1990er-Jahren die Geschichte des Internets noch mit der des amerikanischen Militärforschungsnetz ARPANET gleichgesetzt, das Militär dabei jedoch weitgehend auf die Rolle des Finanziers reduziert wurde1, betonen neuere Ansätze stärker, dass die Computervernetzung, die heute unter dem Begriff Internet zusammengefasst wird, unterschiedliche Wurzeln hat, zu denen auch kommerzielle und private Aktivitäten zählen.2

Martin Schmitt befasst sich in seinem auf einer preisgekrönten Tübinger Magisterarbeit basierenden Buch erneut mit dem ARPANET. Er zeigt, dass sich unter dem Einfluss der Kybernetik bereits in der Frühphase der Computervernetzung um 1970 sowohl emanzipatorische als auch kontrollierende Einflüsse bei der Entwicklung der Technologie zusammenfanden. Schmitt bezieht sich dabei zum einen auf Paul N. Edwards, der bereits 1997 auf die Wechselwirkungen zwischen der militärischen Logik des Kalten Krieges und der Computerentwicklung in den USA hingewiesen hat3, zum anderen auf Fred Turner, der 2006 beschrieben hat, wie utopische und technikbegeisterte Vorstellungen der amerikanischen Counterculture der 1960er-Jahre die Wahrnehmung von Computern und Computernetzwerken als emanzipatorische Werkzeuge geprägt haben.4

Am Schnittpunkt von Edwards und Turner, der militärisch veranlassten Entwicklung des ARPANET als Prototyp für Computervernetzung, setzt Schmitt an und identifiziert drei soziale Gruppen, die auf die Entwicklung der Computervernetzung Einfluss genommen haben: Das Militär, von dem der Impuls für das ARPANET kam, die Wissenschaftler, die es entwickelten, und die „New Communalists“ mit ihrem Verständnis von Technik als nützlichem Werkzeug der Weltaneignung.

Als Klammer, die diesen drei Gruppen ein produktives Zusammenwirken ermöglichte, sieht Schmitt die Kybernetik. Für alle drei Gruppen war hierbei insbesondere bedeutend, dass die Kybernetik die Grenzen zwischen Menschen und Maschinen aufweichte, indem sie beide als Teil von Systemen verstand, die durch Informationsflüsse zusammengehalten wurden. Für das Militär bedeutete dies, dass Computer den als fehleranfällig geltenden Menschen zwar nicht vollständig ersetzen konnten, aber zusammen mit verbesserter Kommunikationstechnik einen flexibleren Informations- und Befehlsaustausch ermöglichen sollten, um die Kampfkraft der einzelnen Soldaten zu erhöhen. Für die Wissenschaftler, die mit dem Aufbau des ARPANET beauftragt wurden, stand dagegen die Weiterentwicklung der Computernutzung im Mittelpunkt. Computervernetzung stellte für diese Gruppe ein faszinierendes Problem und eine Möglichkeit dar, die Verfügbarkeit von Computern und damit ihren Nutzen zu erhöhen. Für die „New Communalists“ wiederum war Kybernetik mit einem umfassenden Verständnis der Erde als einheitliches System verbunden. Auf diesem „Raumschiff Erde“ war der einzelne Mensch über elektronische Medien in die Menschheit eingebettet. Kommunikationstechnik wurde von ihnen daher als nützliches Werkzeug gesehen, um sich mit anderen zu verbinden und Teil der weltgestaltenden Informationsflüsse zu werden.

In der Frühphase der Computervernetzung wirkten diese drei Akteursgruppen zusammen und konnten ihre Interessen in die Technologieentwicklung einbringen. Bereits bei der Entwicklung des Timesharing-Konzepts zu Beginn der 1960er-Jahre, bei dem ein Computer so aufgeteilt wurde, dass mehrere Nutzer zugleich mit ihm interagieren konnten, wirkten, so Schmitt, neben militärischen Überlegungen zur effizienteren Mensch-Computer-Kommunikation auch gegenkulturellen Vorstellungen einer Bewusstseinserweiterung durch Technikeinsatz mit.

Vom Timesharing zur Verbindung von Computern in einem Netzwerk war es konzeptionell nur noch ein kurzer Weg, indem auch die Ressourcen von entfernten Computern geteilt wurden. Die militärische Forschungsbehörde ARPA begann daher Mitte der 1960er-Jahre mit der Entwicklung eines Computernetzwerks als Prototyp für spätere Anwendungen. Hier erwies sich jedoch besonders die Vielzahl der unterschiedlichen Systeme als Problem. Eine Lösung bot der Einsatz von speziellen Minicomputern, die als Interface Message Processors (IMP) das eigentliche Netzwerk bildeten, an das die jeweiligen Computer angeschlossen wurden. Beim technischen Entwurf der IMPs überwogen, wie Schmitt betont, militärische Überlegungen. Sie wurden als geschlossenes System in atombombensicheren Stahlschränken und mit kybernetisch inspirierten Selbstreparatur- und Überwachungsmechanismen ausgeliefert.

Besonders zwei Konzepte des ARPANET prägten die weitere Entwicklung der Computervernetzung. Um die Komplexität der Datenkommunikation beherrschbar zu machen, wurde auf die bereits aus der Betriebssystementwicklung bekannte Methode des Layering zurückgegriffen: Jede funktionale Schicht bot über eine definierte Schnittsteile der nächsthöheren Schicht ihre Dienste an. Außerdem bewies das ARPANET, dass eine paketbasierte Datenkommunikation realisierbar und sogar effizienter als die bis dahin übliche Leitungsvermittlung war.

Bei der Entwicklung der Protokolle, welche die einzelnen Computer miteinander verband, waren laut Schmitt sowohl wissenschaftliche als auch gegenkulturelle Einflüsse prägend. Diese Aufgabe wurde von der Network Working Group (NWG) übernommen, die vor allem aus jungen, von der Counterculture beeinflussten Doktoranden der beteiligten Forschungsinstitutionen bestand. Mit dem Dokumentationsformat Request for Comments (RFC) schuf diese Gruppe ein Medium des informellen und offenen Austausches über die Standards und Praktiken der Computervernetzung, was auch in den Netzwerkprotokollen ihren Niederschlag fand. Das zentrale Host-zu-Host-Protokoll des ARPANET, Network Control Program (NCP), gab den Computern und damit vor allem den Nutzern des ARPANET die größtmögliche Gestaltungsfreiheit und schuf damit die Voraussetzung für von Nutzern ausgehende Innovationen.

Die Präsentation des ARPANET auf der International Conference on Computer Communication in Washington DC im Oktober 1972 stellte für Schmitt den vorläufigen Abschluss der Konzeptionierungsphase der Computervernetzung dar, was sich daran zeigte, dass in der Folgezeit der Prototyp ARPANET durch weitere Netzwerke ergänzt wurde. Besonders die Vernetzung von Computern über störanfällige Funkverbindungen stellte hierbei eine Herausforderung dar, war jedoch militärisch von großer Bedeutung. Um eine verlässliche Kommunikation auch über solche unzuverlässigen Netzwerke zu ermöglichen, mussten sich die beteiligten Computer noch stärker selber koordinieren. Die Technik des Layerings ermöglichte es, eine weitere funktionale Schicht hinzuzufügen, die den einzelnen Computern einen zuverlässigen Datenaustausch auch über unzuverlässige und heterogene Netzwerke hinweg ermöglichte.

Die Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten über die Grenzen des eigenen Netzwerkes hinaus erhöhte den Wert des Netzwerkes für alle Beteiligten deutlich. Dies beflügelte einerseits gegenkulturelle Utopien eines kybernetischen Weltgeistes, dessen Macht dezentral in den einzelnen Netzwerkknoten beheimatet ist, andererseits, und darauf weist Schmitt ausdrücklich hin, hatte dies auch einen militärischen Nutzen. Die Kommunikationsfähigkeit bis in den letzten Winkel vermittelte dem Militär (und den Geheimdiensten) ein sehr viel genaueres Bild der Außenwelt und ermöglichte eine Machtkonzentration an jenen Netzwerkknoten, bei denen die Informationen zusammenflossen.5

Computervernetzung ist, das zeigt Schmitt überzeugend, daher von ihrer historischen Anlage her weder ein reines Instrument der Überwachung und Kontrolle, noch bloß ein Werkzeug der Freiheit und der Vergemeinschaftung, sondern kann beides sein. Anders gesagt: Ob das Internet Fluch oder Segen ist, ist letztlich von der Gesellschaft abhängig, die es nutzt.

Es ist daher zu hoffen, dass Schmitts Buch die Historisierung des Internets auch im deutschsprachigen Raum vorantreibt und damit auch zu einer Versachlichung der öffentlichen Debatten beitragen kann. Insgesamt zeigt Schmitt, dass der Forschungsstand zum ARPANET vor allem in den USA bereits weit fortgeschritten ist, dieser jedoch überwiegend technikhistorisch und – der heutigen Globalität von Computervernetzung zum Trotz – noch sehr USA-zentriert ist. In der Durchbrechung dieser Perspektiven und in der Vielzahl der nationalen Geschichten der Computervernetzung liegt für die jüngste Zeitgeschichte ein hohes Erkenntnispotenzial.

Anmerkungen:
1 Vgl. Katie Hafner / Matthew Lyon, Where Wizards Stay Up Late. The Origins of the Internet, New York 1996; Janet Abbate, Inventing the Internet, Cambridge MA 1999.
2 Vgl. Thomas Haigh / Andrew L. Russell / William H. Dutton, Histories of the Internet. Introducing a Special Issue of Information & Culture, in: Information & Culture 50 (2015) 2, S. 143–159; Kevin Driscoll, Hobbyist Inter-Networking and the Popular Internet Imaginary. Forgotten Histories of Networked Personal Computing, 1978–1998, Dissertation, University of Southern California 2014.
3 Vgl. Paul N. Edwards, The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America, Cambridge MA 1997.
4 Vgl. Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago 2006.
5 Computervernetzung und das Internet unterstützen sowohl Tendenzen einer Dezentralisierung als auch der Zentralisierung. Mit dieser Feststellung ergänzt Schmitt Mercedes Bunz, die die Geschichte des Internets primär unter den Aspekt der kontinuierlichen Dezentralisierung erzählt. Vgl. Mercedes Bunz, Vom Speicher zum Verteiler. Die Geschichte des Internet, Berlin 2008.

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