J. C. Burnham: Health Care in America

Cover
Titel
Health Care in America. A History


Autor(en)
Burnham, John C.
Erschienen
Anzahl Seiten
616 S.
Preis
€ 31,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian G. Mildenberger, Europa Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder

Das vorliegende, in vier Teile zu je zwei bis vier Unterkapitel gegliederte Buch reiht sich ein in die Reihe der großen Gesamtdarstellungen der nordamerikanischen Medizin, wie sie seit den 1980er-Jahren entstanden: quellenkritisch, sozialhistorisch angelegt, interdisziplinär und weitgehend ignorant gegenüber den Forscherleistungen jenseits des angloamerikanischen Raums.1 Im Gegensatz zu vielen anderen Gelehrten verwendet Burnham viel Platz für die Gesundheit der nicht-weißen Bevölkerungsteile, wobei er die Hauptakteurin auf dem Gebiet der rassistischen Einordnung von Patienten im ganzen Buch nur sporadisch erwähnt: die pharmazeutische Industrie. Gleichwohl werden zahlreiche erfolgreiche, den amerikanischen Gesundheitsmarkt wie auch den klinischen Alltag nachhaltig verändernde Impulse vorgestellt: Frauenbewegung allgemein, die Professionalisierung der Krankenpflege, die Integration der Psychosomatiker, die Entfaltung von „Public Health“ sowie die Förderung vitaminreicher Ernährung.

Burnham beginnt mit der Ankunft der Europäer in Nordamerika, den Folgen ihres Eindringens für die Indianer, aber auch den Schwierigkeiten der in England, Italien, Deutschland oder Frankreich geschulten Heilkundigen, mit den Verhältnissen in der „neuen Welt“ zurecht zu kommen. Zügig etablierten sich verschiedene Heilkulturen, die allesamt an den Herausforderungen des amerikanischen Bürgerkrieges 1861–65 scheiterten, worauf ein Zwang zu Innovation und Import europäischen Wissens einsetzte. Burnham legt den Schwerpunkt seines gesamten Buches auf diese Phase, die er 1880 beginnen und in den 1950er-Jahren enden lässt. Dies ist der Zeitraum mit der besten Quellenüberlieferung und den nicht gesperrten Akten – allerdings setzte die Umorientierung des amerikanischen Gesundheitssystems schon etwas früher ein und der Fortschritt in den Kliniken und Arztpraxen beschränkte sich weitgehend auf Ost- und Westküste. Nicht zufällig entfalteten sich in den Jahren nach 1880 die bis heute erfolgreichsten Heilkulturen des Mittleren Westens: Osteopathie und Chiropraktik. Sie werden im vorliegenden Buch so gut wie nicht erwähnt. Denn Burnhams Werk ist eine Huldigung an die klinische Medizin und ihre Triumphe. Dies zeigt sich auch im dritten Teil des Werkes, der die Phase der Technisierung des Arztzimmers und den Einmarsch der Labore in den medizinischen Alltag ab den 1950er-Jahren beinhaltet. In diesen Jahren gewann die pharmazeutische Industrie als Akteurin des Gesundheitsmarktes enorm an Bedeutung. Ihre Forscher testeten all ihre später so erfolgreichen Arzneien zunächst einmal in Puerto Rico oder den Südstaaten. Davon liest man bei Burnham freilich so gut wie nichts. Zuletzt widmet sich der Autor dem von ihm avisierten Paradigmenwechsel hin zur „genetic medicine“ seit den 1980er-Jahren. Diese Verlagerung erlaubt es ihm, die Eugenik im ganzen Buch weitgehend auszusparen. Die nordamerikanische, an den Entwicklungen in Mitteleuropa Anteil nehmende Eugenik der 1920er- und 1930er-Jahre könnte man nämlich auch als die erste „genetic medicine“ in den USA bezeichnen. Auch entgeht Burnham die parallele Entwicklung des Rückzugs des Staates aus der Medizinalkontrolle, was insbesondere in der im Buch nur kursorisch angeschnittenen „AIDS-Crisis“ dazu führte, dass Laienorganisationen begannen, einen enormen Einfluss auf den klinischen Alltag und den gesellschaftlichen Diskurs auszuüben.

Als Zukunft avisiert Burnham die von ihm so genannte „desktop medicine“, die – vom Autor nicht thematisiert – den Konsumenten von Science Fiction Filmen als Horrorvision nicht unbekannt sein dürfte. Die neuesten Trends hin zu einer pharmakologischen Krankheitsprophylaxe (Postexpositionsprophylaxe) werden nicht erwähnt. Ein ausführliches Register erleichtert die Lektüre und wer vom Umfang zunächst abgeschreckt ist, dem sei versichert, dass Burnham in jedes Kapitel kurze Zusammenfassungen integriert hat, so dass man sich zielsicher diejenigen Themen herausgreifen kann, die einen besonders interessieren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Burnhams Buch eine ganze Reihe wertvoller Aspekte enthält, aber sein historiographischer Positivismus verursacht viele Fragen, auf die er keine Antwort geben kann.

Anmerkung:
1 Paul Starr, The Social Transformation of American Medicine, New York 1984; Charles Rosenberg, The Care of Strangers. The Rise of America’s Hospital System, New York 1987; Roy Porter, The Greatest Benefits to Mankind, London 1997.