P. Wolter: Neoliberale Denkfiguren in der Presse

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Titel
Neoliberale Denkfiguren in der Presse. Wie ein Wirtschaftskonzept die Meinungshoheit eroberte


Autor(en)
Wolter, Philipp
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sören Brandes, International Max Planck Research School for Moral Economies of Modern Societies, Max Planck Institute for Human Development

„[D]amit die Unternehmer mehr verdienen, muss man den kleinen Leuten erst mal was wegnehmen.“ Mit diesem sarkastischen Spruch zitierte der Spiegel im September 1982 Günter Verheugen, damals Generalsekretär der FDP, der damit Otto Graf Lambsdorffs „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ kritisiert hatte. Das Konzeptpapier, das das Ende der sozialliberalen Koalition besiegelte, weil ein Großteil der SPD mit den darin geforderten sozialen Einschnitten nichts zu tun haben wollte, wurde auch im Spiegel ausführlich dekonstruiert.1 Ganz anders reagierte dasselbe Magazin 20 Jahre später auf die Regierungserklärung, in der Gerhard Schröder seine Agenda 2010 umriss – und im Wesentlichen dieselben Vorschläge machte wie vor ihm Graf Lambsdorff. Der mutlose Kanzler, so befand der Spiegel nun, sei in seiner „Ruckel-Rede“ nicht weit genug gegangen, er habe die „Verkrustungen des Landes“ – womit insbesondere sozialstaatliche Sicherungen gemeint waren – nur beleuchtet, statt sie zu „sprengen“. Anerkennung fanden immerhin seine Forderungen nach Einschnitten beim Arbeitslosengeld.2

Damit ist das Problem umrissen, dessen sich der Soziologe Philipp Wolter in seiner Duisburg-Essener Dissertation annimmt: Wie konnte es dazu kommen, dass in der Presse der Bundesrepublik die Opposition gegen neoliberale Reformideen, die bei der Diskussion von Lambsdorffs Papier 1982 noch deutlich spürbar war, so stark nachließ, dass Schröders Agenda 2003 auch in vormals „linken“ Medien als unumgänglich begrüßt wurde? Wolter betritt damit insofern Neuland, als sich die Neoliberalismusforschung, in die er sich einordnet, bisher meist damit begnügt, die Ideen neoliberaler Großtheoretiker und/oder die Aktivitäten neoliberaler Netzwerke und Think Tanks zu verfolgen. Verbindungen in die Medienwelt wird dabei nur selten nachgegangen, obwohl doch Wolters Vermutung naheliegt, dass gerade Journalisten „das Meinungsklima wesentlich beeinflussen“ (S. 8).

Wolters Methode ist die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse, bei der er „Zeitungs- oder Magazintexte nach bestimmten, im Voraus feststehenden Aussagetypen und Werturteilen“ durchforstet (S. 31). Die dafür benötigten einheitlichen Kriterien gewinnt er aus einem trotz (oder gerade wegen?) einer lückenhaften Literaturerschließung3 durchaus treffsicheren Abriss der neoliberalen Theoriegeschichte. Der daraus abgeleitete, aus 21 „Kernaussagen“ bestehende „neoliberale Katechismus“ wird dann zunächst in einer Querschnittstudie auf die Berichterstattung der „Leitmedien“ Stern, Spiegel, Frankfurter Rundschau, Bild, Zeit, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Welt zum Lambsdorff-Papier und zur Agenda-Rede angewandt. Wie sich zeigt, bediente sich nicht nur die FAZ, die schon seit ihrer Gründung als neoliberale Kaderschmiede fungiert hatte,4 durchgehend neoliberaler Argumentationsmuster, sondern etwa auch die Zeit und die SZ, wo bereits zu Beginn der 1980er-Jahre neoliberale Wirtschaftsjournalisten arbeiteten. Als konsistent neoliberalismuskritisch erweisen sich 1982 nur Frankfurter Rundschau, Spiegel und Stern. Die beiden letzteren bedienten sich dann 2003 konsequent neoliberaler Rhetorik.

Das Kernstück der Arbeit bildet eine Längsschnittanalyse der wirtschaftspolitischen Berichterstattung des Spiegel zwischen 1983 und 2002. Dabei stellt Wolter eine interessante, allmähliche Verschiebung hin zu neoliberalen Vorstellungen fest, die zunächst vor allem bei Gemeinsamkeiten links- und neoliberaler Kritik ansetzten: bei der Staatskritik vor allem, in der der Spiegel schon lange geübt war, aber auch beim Misstrauen gegenüber mächtigen Interessengruppen wie der Agrarlobby sowie gegenüber Politikern und „Bürokraten“. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kam eine vernichtende, häufig hämische Analyse der Dysfunktionalitäten sozialistischer Planwirtschaft hinzu, die Wolter zwar zu grundsätzlich dem Neoliberalismus zurechnet (vgl. S. 42, 186, 199f., 212–215), die aber in der Tat wesentlich zur Untermauerung neoliberaler Argumente beitrug. Als mit dem Keynesianismus und dem realen Sozialismus die Alternativen abhandengekommen waren, stieß seit den 1990er-Jahren eine neue Generation von Wirtschaftsjournalisten (etwa Michael Sauga, Gabor Steingart, Christian Reiermann, Ulrich Schäfer) in die ideologische Lücke und unterstützte entschieden neoliberale Lösungen (S. 286–290, 307).

Als wichtig erwiesen sich in diesem Prozess auch die Krisendiskurse um die vom Spiegel als „Zwangsschicksal“, das „man nicht abwählen kann“,5 begriffene Globalisierung und die damit in Verbindung gebrachte Massenarbeitslosigkeit. Hier stößt Wolters spezielles Verständnis der „innere[n] Logik des Wandels medial vermittelter Sinnwelten“ (S. 302) an seine Grenzen. Denn er fragt hauptsächlich danach, welche Argumente der ursprünglichen neoliberalen Großtheoretiker für „linke“ (ein Begriff, der leider nicht definiert wird) Journalisten anschlussfähig gewesen seien. Damit kommt er zwar spannenden ideologischen Verbindungslinien auf die Spur und kann zurecht darauf hinweisen, dass sich neoliberale Argumente gut auch gegen Konservative ins Feld führen ließen (vgl. insbesondere S. 260f.). Er begreift so aber „den“ Neoliberalismus als ein sich historisch selbst kaum wandelndes, „seit Jahrzehnten im Kern unveränderte[s]“ (S. 17) Programm.

Mit dieser Konzeption hängt auch Wolters Übernahme (vgl. S. 175, 284) von Friedrich Hayeks Top-Down-Medientheorie zusammen, die in Journalisten nur „secondhand dealers in ideas“ zu erkennen vermag, die die ihnen von „original thinkers“ wie Hayek selbst vorgesetzten Ideen in vereinfachter Form wiederkäuen und an die ihnen hörige breite Masse weitergeben.6 So aber unterbleiben systematische Reflexionen der spezifischen Funktionsweise von Zeitungen und Nachrichtenmagazinen als Medien und des Journalismus als Handlungsfeld. Konkret ließe sich argumentieren, dass die hier beobachteten Journalisten eben nicht, wie Hayek es sich erhoffte und wie Wolter implizit annimmt, von der Lektüre abstrakt-philosophischer Traktate oder der professoralen Lehre an den Universitäten für den Neoliberalismus eingenommen wurden, sondern vor allem auf die von ihnen und ihren Kollegen im journalistischen Tagesgeschäft konstruierten Phänomene reagierten. Das Bild des deutschen Wohlfahrtsstaats als „verkrustet“ und „überreguliert“ etwa mag weniger mit neoliberalen Theorien zusammenhängen als mit der journalistisch durchaus notwendigen Gewohnheit, abstrakte Formationen in bildhaften Metaphern darzustellen, die sich dann durch ständige Wiederholung schnell zu Klischees verdichten (die „verstaubte“ Bürokratie, der arbeitslose „Drückeberger“, „mutige“ Reformer gegen „Bedenkenträger“ in Parteien und Verbänden).

Welche metaphorischen Klischees jeweils journalistisch wirkmächtig werden, hängt stark mit oft kurzfristigen Klimaschwankungen innerhalb des journalistischen und politischen Feldes zusammen. Um diese mitbeobachten zu können, wäre mehr Kontextualisierung notwendig gewesen – Wolters Analyse der ideologischen Entwicklung des Spiegel wirkt gerade aus detailverwöhnter historischer Warte etwas blutleer. Für Abhilfe hätte eine Berücksichtigung weiterer Quellen und Literatur etwa zum Globalisierungs- oder zum ökonomischen Wiedervereinigungsdiskurs der 1990er-Jahre sorgen können, oder auch ein tieferer Blick in die bei Wolter weitgehend als Black Boxes erscheinenden Redaktionen. Auch die an keiner Stelle explizit reflektierte oder gerechtfertigte Verengung auf westdeutsche Medien hätte durch Verweise auf ähnliche oder gerade unterschiedliche Fälle in anderen Ländern geöffnet werden sollen.

Trotz dieser Einwände bleibt es erfreulich, dass sich die Neoliberalismusforschung endlich auch der medialen Dimension ihres Gegenstands zuzuwenden beginnt. Hierzu leistet Wolter einen wertvollen Beitrag, indem er nicht nur für ideologische Kontinuitäten und Verbindungen sensibilisiert, sondern auch den häufig gerade bei Neoliberalismushistorikern anzutreffenden „internalistischen“ Blick zu erweitern vermag. Die Diskussion um eine Mediengeschichte des Neoliberalismus ist eröffnet.

Anmerkungen:
1 Koalition: „Der will da raus“, in: Der Spiegel Nr. 37, 13. September 1982, S. 19–25, Zitat S. 24, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14351636.html (23.08.2017); Heiko Martens, „Ein Standort rechts von der Union“, in: Der Spiegel Nr. 38, 20. September 1982, S. 30–32, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14352657.html (23.08.2017).
2 Ralf Beste u.a., Die Ruckel-Rede, in: Der Spiegel Nr. 12, 17. März 2003, S. 20–26, Zitate S. 21, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-26609773.html (23.08.2017).
3 Es fehlen so wichtige Bücher wie Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hrsg.), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge 2009; Angus Burgin, The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge, MA 2012; Matthias Schmelzer, Freiheit für Wechselkurse und Kapital. Die Ursprünge neoliberaler Währungspolitik und die Mont Pèlerin Society, Marburg 2010; Monica Prasad, The Politics of Free Markets. The Rise of Neoliberal Economic Policies in Britain, France, Germany, and the United States, Chicago 2006.
4 Vgl. hierzu auch Maximilian Kutzner, Das Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und die Medialisierung der Wirtschaftspolitik in den 1950er Jahren, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014), S. 488–499.
5 Peter Schneider, Traumfrau Europa, in: Der Spiegel Nr. 14, 30. März 1998, S. 226–232, Zitat S. 232, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7853011.html (23.08.2017).
6 Vgl. Friedrich Hayek, The Intellectuals and Socialism, in: The University of Chicago Law Review 16 (1949), S. 417–433.

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