Cover
Titel
The Betrayal. The Nuremberg Trials and German Divergence


Autor(en)
Priemel, Kim Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 481 S.
Preis
£ 65.00; € 87,71
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Cluster of Excellence „Asia and Europe in a Global Context“, Universität Heidelberg

Wer dieses Werk in die Hand nimmt, fragt sich unweigerlich: noch ein Buch über Nürnberg? Die Regalmeter an Publikationen zum Internationalen Militärtribunal sowie zu seinen zwölf Nachfolgeprozessen scheinen endlos zu sein. „Nürnberg“ ist in gewisser Weise das Synonym geworden für alliierte Abrechnung nach dem Zweiten Weltkrieg, doch trotz der schwer überschaubaren Literatur zum Thema gab es bisher noch keine die neuere Forschung einbeziehende Arbeit zu „den Nürnberger Prozessen“, wie es im öffentlichen Sprachgebrauch oft verkürzend heißt. Gemeint sind damit sowohl das Internationale Militärtribunal in Nürnberg (IMT) als auch die sogenannten zwölf Nachfolgeprozesse, für die sich seit einigen Jahren der Begriff Nürnberger Militärtribunale (und damit die Abkürzung NMT) eingebürgert hat.

Der Historiker Kim Christian Priemel hat diese Lücke nun geschlossen, und es ist ein beeindruckendes Buch geworden. Die Arbeit, die aus seiner Habilitationsschrift an der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen ist, nutzt eine Fülle an Primärquellen, insbesondere die Prozessmitschriften und Hintergrundanalysen, aber auch Archivdokumente aus 44 Institutionen, die so verschiedene Zugänge wie die politische Vorbereitung der Prozesse (mit starkem Fokus auf der US-Position) und private Nachlässe in Beziehung setzen. Man sieht der Arbeit zudem an, dass sie ausreichend finanziert war – zunächst durch ein Lynen-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sodann durch ein Dilthey-Fellowship der Thyssen Stiftung. Mehrere auswärtige Forschungsaufenthalte, unter anderem am Wolfson College in Cambridge, haben die Arbeit bereichert.

Dieses Buch über „Nürnberg“ verfolgt die sehr originelle Frage, auf welche Weise Strafverfahren unser Bild von geschichtlichen Abläufen verändern, und das macht seine Bedeutung aus. Denn Priemel bleibt konsequent seiner Prämisse treu, dass in diesem Prozesskomplex, neben den juristischen Aspekten, vor allem ein historisches Thema verhandelt wurde: Wie und wann hatte Deutschland den Weg des „zivilisierten“ Westens verlassen können, und gab es eine Chance, die Deutschen auf den rechten Weg zurückzuholen? Betrachtet man den Prozess als Vehikel für den Nachweis, dass sich ein ganzes Land außerhalb der westlichen Wertegemeinschaft gestellt habe, dann war es Aufgabe des historischen Narrativs, dies im Detail zu belegen. Während die Amerikaner die Angriffskriegsthese beweisen wollten, die Briten „fair trial“ im Blick hatten und die Sowjets die Geschichte des Zweiten Weltkriegs im eigenen Sinne umschreiben wollten, waren die Franzosen besonders am Beleg der Sonderwegs-These interessiert (S. 405). In diesem Sinne führt der Autor dem Leser konsequent den Wert von Strafprozessen für die Geschichtsschreibung und -deutung vor Augen. Das Erbe von Nürnberg, so legt auch das Schlusswort nahe, liegt in seiner Vorbildfunktion für alle völkerrechtlichen Strafverfahren bis heute – und das ist dem Prozessnarrativ und der in Nürnberg geleisteten historischen Interpretation zu danken.

Noch einmal zur Erinnerung sei hier auf einen fundamentalen Unterschied hingewiesen: Das IMT war ein internationales Gremium, das nach Völkerrecht urteilte und als Ad-hoc-Gerichtshof konzipiert war mit dem Ziel, ausschließlich die Verbrechen des Deutschen Reiches zu verhandeln; hier saßen die vier Hauptalliierten, also Sowjets, Amerikaner, Briten und Franzosen auf der Richterbank. Im Gegensatz dazu waren die NMT zwölf nur unter amerikanischer Ägide und vor US-Militärgerichten verhandelte Verfahren, die gleichsam symbolisch die Verbrechen bestimmter Berufsgruppen dokumentierten und das dezidierte Ziel hatten, die Deutschen auf den rechten Pfad zurückzuführen, also zu „erziehen“. Priemel schließt mit diesem Buch an frühere eigene Arbeiten an, neben seiner Dissertation zum Flick-Konzern1 insbesondere an einen vielbeachteten Sammelband zu den NMT, der neueste Forschungen ergänzt2, und einen Aufsatz zur Kapitalismuskritik in den Nachfolgeprozessen (etwa im Krupp- und IG-Farben-Prozess).3

Das Buch ist in zehn Kapitel untergliedert, die sich den Prozessen auf verschiedene Weise nähern. Priemel gruppiert sie analytisch in drei Bereiche: Es geht erstens um Verfahren wegen Wirtschaftsverbrechen, zweitens um Verbrechen, die von der (Ministerial-)Bürokratie zu verantworten waren, und drittens um den Komplex Militärverbrechen. Die übergreifende These wird sehr deutlich – „The Betrayal“ beschreibt vor allem den Betrug Deutschlands an der Wertegemeinschaft des Westens, die systematische ethisch-moralische Perversion, die ganze Berufsgruppen erfasste: Ärzte, die nicht heilten, sondern töteten; Juristen, die nicht Recht sprachen, sondern Recht beugten; Soldaten, die sich nicht an die 10 Gebote in ihrem Soldbuch hielten, sondern an völkerrechtswidrige Befehle Hitlers und der Wehrmachtführung; Beamte, die den diktatorischen Staat etablierten, statt die Demokratie zu verteidigen; und Geschäftsleute, die für den eigenen Profit auch Sklavenarbeit in Kauf nahmen oder sich schamlos an ihren ausgeplünderten jüdischen Nachbarn bereicherten.

Das Neue an Priemels Buch ist der methodische Zugriff, die „trial transcripts“ mit Hintergrundanalysen in Beziehung zu setzen, denn diese wirkten direkt auf die Prozessplanung ein – Hintergrundpapiere und Ausarbeitungen von Exilanten aus Deutschland, etwa Franz Neumann, George Hallgarten oder Bernhard Menne, die ihre teilweise noch aus der Zwischenkriegszeit stammenden Expertisen insbesondere der Abteilung R & A (Research & Analysis) im Militärgeheimdienst OSS zur Verfügung gestellt hatten.4 Der Schwerpunkt lag dabei auf Wirtschaftsverbrechen, und nicht etwa auf dem Holocaust: In dieser US-Sichtweise war „German ‘organized’ economy the distorted mirror image of their own free market order“ (S. 197).

Mit dem Narrativ des deutschen „Betrugs“ begaben sich die Alliierten aber an manchen Stellen auf dünnes Eis, saß doch beispielsweise mit der Sowjetunion beim IMT ein Partner auf der Richterbank, der weder der Demokratie noch dem Kapitalismus nahestand. Zum anderen zeigt sich in der Analyse mancher Notiz und manches Hintergrundpapiers auch die Ambivalenz des Prozessprogramms, denn allgemeine kapitalistische Wirtschaftspraktiken oder Völkerrechtsverletzungen wie der Bombenkrieg auf Zivilisten blieben wohlweislich von der Anklage ausgespart.

Die Sonderwegs-These wird besonders schön aufgefächert im Kapitel 5, das exemplarisch den Hintergrund von Fall 10 (Krupp-Verfahren) und von Fall 12 („Wehrmacht High Command Case“) in den Blick nimmt, um nachzuzeichnen, wann und wie Deutschland in den Augen der Alliierten den „westlichen Weg“ verlassen hatte. Faszinierend lesen sich die Details aus politischer und juristischer Planung unter Einbeziehung privater Briefe von Richtern, Analysten und Journalisten sowie die eingestreuten Kurzbiographien der Männer aus der zweiten Reihe. Die Erklärung, warum „Nürnberg“ so und nicht anders ablief, wird dadurch sehr stringent.

Durch die ständigen Rückblenden ist das Buch keine leichte Kost für Einsteiger, doch Priemels Arbeit wird sicher zu einem Standardwerk werden, insbesondere mit Blick auf die bisher etwas unterbelichteten Nachfolgeprozesse. Der Wert des Buches liegt zum einen darin, den IMT und die NMT aus der alliierten Perspektive (insbesondere der amerikanischen) strukturell zusammen zu denken, zum anderen in der methodischen Verschränkung aus Hintergrundplanung, tatsächlichem Prozessgeschehen und Ansätzen von Kapitalismuskritik. Eine großartige Forschungsleistung.

Anmerkungen:
1 Kim Christian Priemel, Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007.
2 Einen konzisen Überblick bietet auch Kevin Jon Heller, The Nuremberg Military Tribunals and the Origins of International Criminal Law, Oxford 2011; zu Vorarbeiten Priemels vgl. ders. / Alexa Stiller (Hrsg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013; rezensiert von Annette Weinke, in: H-Soz-Kult, 22.09.2013, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20204 (30.05.2017).
3 Ders., „A Story of Betrayal“: Conceptualizing Variants of Capitalism in the Nuremberg War Crimes Trials, in: Journal of Modern History 85 (2013), S. 69–108.
4 Siehe als Textsammlung neuerdings Franz Neumann / Herbert Marcuse / Otto Kirchheimer, Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949. Herausgegeben von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries, Frankfurt am Main 2016.