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Titel
The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm


Autor(en)
Schmelzer, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 384 S.
Preis
€ 84,84; $ 99.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roman Köster, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

Die aus einer Berliner Dissertation hervorgegangene Studie von Matthias Schmelzer behandelt die Rolle der Organization for Economic Co-operation and Development (OECD), der 1961 gegründeten Nachfolgeorganisation der OEEC, bei der Ausprägung von ökonomischem Wachstum als Zielvorstellung globaler Wirtschaftspolitik. Sie umfasst den Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur ersten Ölkrise 1973/74 und rekonstruiert, wie und warum ökonomisches Wachstum, einschließlich bestimmter Wachstumsziele, von der Organisation vertreten und propagiert wurde. Sie arbeitet heraus, wie aus dem so zum Vorschein kommenden „growth paradigm“ politische Zielvorgaben abgeleitet wurden, die sowohl für die Politikberatung als auch die Entwicklungshilfe seit den 1950er-Jahren eine wichtige Rolle spielten.

In einem ersten Schritt wird dabei rekonstruiert, wie das „growth paradigm“ innerhalb der OEEC bzw. der OECD entstand. Mit Recht weist Schmelzer darauf hin, dass zunächst ökonomische Messgrößen entwickelt und statistisch berechnet werden mussten, bevor über Wachstum sinnvoll vergleichend kommuniziert werden konnte. Dafür brauchte es wirtschaftstheoretische Konzepte, aber auch den technischen Apparat, um die ökonomische Performanz statistisch messen zu können. Insbesondere die Kategorie des Bruttosozialprodukts (bzw. heute Bruttoinlandsprodukts), über deren Entwicklung in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden ist, war in diesem Zusammenhang wichtig.

Bei der bloßen Bestimmung und Messung von Wachstum blieb es aber nicht. Vielmehr stellte sich daran anschließend die Frage, mit welchen wirtschaftspolitischen Mitteln dieses erreicht werden konnte. Um hierfür einheitliche Maßstäbe zu gewinnen, waren nach Schmelzer zunächst bestimmte Expertennetzwerke entscheidend. Insbesondere der britische Wirtschaftspolitiker Robert Hall spielte dabei in den 1950er-Jahren eine wichtige Rolle, aber auch Eisenhowers Chef-Ökonom Gabriel Hauge oder Otmar Emminger von der Bundesbank. Sie propagierten bestimmte wirtschaftspolitische Mittel zur Erzielung von Wachstum, die schließlich von der OECD übernommen wurden. Dabei ging es, was nahe liegt, um Handelsliberalisierung, aber beispielsweise auch um die Erhöhung von Bildungsausgaben und andere staatliche Ausgabenprogramme, die zur Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als sinnvoll erachtet wurden.

Was sich dabei innerhalb der Organisation entwickelte, war ein „Wachstumsbewusstsein“ („growth consciousness“), das ökonomisches Wachstum als zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik formulierte und zugleich den Anspruch erhob, präzise benennen zu können, welche Maßnahmen Wachstum beförderten. Hintergrund hierfür war nicht zuletzt ein keynesianisch inspirierter wirtschaftstheoretischer Ansatz, der mit dem Anspruch einherging, Wirtschaftspolitik als präzise Wissenschaft begründen zu können. Breitenwirksamen Ausdruck fand das in den seit 1961 formulierten Wachstumszielen der OECD, an denen sich insbesondere die Mitgliedstaaten der Organisation zu messen hatten. Auch auf die Forderungen nach institutioneller Neugestaltung im Rahmen der Entwicklungshilfe wirkte sich die erwähnte „growth consciousness“ aus.

Interessant ist jedoch, dass die Idee des „Wachstums um jeden Preis“ seit dem Ende der 1960er-Jahre innerhalb der OECD keineswegs mehr unumstritten war. Vielmehr entwickelte sich im Anschluss an zeitgenössische Debatten eine verstärkte Sensibilität für die ökologischen Folgekosten industrieller Expansion, aber auch ein Bewusstsein dafür, dass die quantitative Erhöhung der Wirtschaftsleistung keineswegs immer mit einer Verbesserung der Lebensqualität einherging. Hier kann Schmelzer auf spannende Art und Weise zeigen, dass die Debatten innerhalb der OECD viele Aspekte des Berichts des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ von 1973 bereits vorwegnahmen. Insbesondere Arbeitsgruppen um die Ökonomen Alexander King und Thorkil Kristensen formulierten Alternativen zum Wachstumsparadigma, die vom Club of Rome aufgenommen wurden. Das führte zwar nicht zu einer 180-Grad-Wende innerhalb der OECD. Es macht jedoch deutlich, dass letztere durchaus kein monolithischer Block war, sondern innerhalb der Organisation um gemeinsame Positionen verhandelt und gestritten wurde. Jedenfalls war die OECD im Zuge solcher Debatten und der Erfahrung der Ölkrise dazu gezwungen, ihre Wachstumsziele und Politikempfehlungen deutlich differenzierter zu formulieren.

Insgesamt ist Matthias Schmelzer eine überzeugend argumentierende und gut lesbare Studie gelungen. Dieser gelingt der Spagat, eine kritische Perspektive gegenüber dem Wachstumsparadigma zu bewahren, ohne dabei an analytischer Schärfe einzubüßen. Sie grenzt sich positiv von den vielen Erzählungen einer angeblichen neoliberalen Verschwörung ab und macht deutlich, dass sich auch explizit wirtschaftsliberal orientierte internationale Organisationen als lernfähig erweisen können. Insgesamt gehört die Studie zu den exzeptionellen Beispielen einer gelungenen Verbindung von Wirtschaftsgeschichte, Ideengeschichte und Internationaler Geschichte, von denen es noch viele mehr bräuchte.

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