E. Décultot u.a. (Hrsg.): Sattelzeit

Cover
Titel
Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen


Herausgeber
Décultot, Elisabeth; Fulda, Daniel
Reihe
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 52
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 306 Seiten
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Langewiesche, Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen

Die deutsch-französische Tagung, aus der dieses Buch hervorgegangen ist, stand unter einem Titel, der genauer als der Buchtitel umschreibt, worum es geht: „Die Vielfalt der Sattelzeit. Strukturen und Tendenzen des historischen Erzählens um 1800 im deutsch-französischen Vergleich“. „Sattelzeit“ ruft Reinhart Kosellecks begriffsgeschichtliche Deutung der Transformationsphase von Alteuropa zur „modernen Welt“ auf, „Vielfalt“ meldet Widerspruch an. Ihn erläutert Fulda in seinem Einleitungsaufsatz. Den Nutzen von Kosellecks Modell sieht er in der idealtypischen „Beschreibung des Übergangs von der alteuropäischen zur modernen Geschichtsauffassung“ (S. 7), den Schaden darin, dass es vielfach als Realbeschreibung aufgefasst werde und zur selektiven Auswahl oder Interpretation der Quellen verführe. Gegen diese Verführung zur Eindeutigkeit, die in der „Konsequenz des Sattelzeit-Modells“ (S. 12) liege, richtet sich die Konzeption der Herausgeber. Sie „plädieren dafür, den sattelzeitlichen Geschichtsdiskurs nicht auf dessen professionellen, akademischen Teil zu zentrieren“, sondern neben „Professionalisierung und Verwissenschaftlichung […] auch Popularisierungs-, Ästhetisierungs-, Politisierungs- und andere Aktualisierungstendenzen“ zu untersuchen (S. 12). ‚Altes‘ und ‚Neues‘ soll nicht wie bei Koselleck als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ modernitätstheoretisch einer Entwicklungslinie zugeordnet, sondern als „Koexistenz des Differenten“ verstanden werden (S. 10f.).

Ob Koselleck hier angemessen referiert wird, muss nicht erörtert werden, denn nur einer der 14 Beiträge (außer Fuldas Einführung) geht genauer auf ihn ein. Wo er sonst erwähnt wird, da meist als Referenz, von der man auszugehen hat, um eine „Historiographiegeschichte jenseits des Kanons“ (S.199) erschließen zu können. Ein solches Programm hätte Koselleck vermutlich goutiert, denn in seiner Einleitung zum Band 1 der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ wünschte er, dass in den Artikeln die „Streuweite der Quellen“1 nicht eingeengt werde. Sie sollten, je nach Stichwort, aus „allen Lebensbereichen und Wissenschaften“ stammen. Die in diesem Tagungsband ausgewerteten Quellenarten waren also nicht ausgeschlossen.

Die Herausgeber gruppieren die Beiträge zu drei Themenfeldern: 1. „Aufbrüche zu einer neuen Geschichtsschreibung im Spannungsfeld von Gelehrsamkeit, Philosophie und Kunst“, 2. „Geschichtsschreibung in politischer Absicht“, 3. „Varianten der Historisierung“. Im Teil 1 werden das Programm des Verlags Gebauer in Halle (Daniel Fulda), die Geschichtsschreibung Montesquieus (Vanessa de Senarclens) und Winckelmanns (Elisabeth Décultot) sowie Herders Auseinandersetzung mit Montesquieu (Moritz Baumstark) und mit A. L. Schlözer und der Reichspublizistik (Markus Hien) untersucht. Was „Vielfalt“, die Leitperspektive des Tagungstitels, bedeutet, machen diese Beiträge deutlich. Das Verlagsprogramm, das vorwiegend aus Übersetzungen bestand (vor allem aus dem Französischen), zielte nicht darauf, „wie die Geschichte zu denken sei“ (S. 32), sondern sie zur vergnüglichen Lektüre zu gestalten. Genau dies wollte Montesquieu nicht. Ihm ging es um den selbstreflexiven „Geist der Unsicherheit“ im „Studium der Vergangenheit“ (S. 53), während aus Herders Montesquieu-Lektüre seine „Verhältnisbestimmung von Individuellem und Allgemeinem“ hervorging (S. 80). An Herders Konzept einer deutschen Geschichte wird zudem das „Aufklärungsdilemma zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung“ erörtert (S. 96). Auch Winckelmann fragte, „wie man Geschichte schreiben soll“ (S. 113). Zwischen Kunst und Geschichte wollte er nicht scharf trennen.

Im Teil 2 werden drei Geschichtswerke – Johannes Müllers „Schweizer Geschichte“ (Johannes Süßmann), Jean-Jacques Fillassiers „Dictionnaire historique d’éducation“ und dessen deutsche Übersetzung durch Friedrich Leopold Brunn (Pauline Pujo), Guillaume-Thomas François Raynals „Geschichte beider Indien“ (Damien Tricoire) – sowie „Journalistische Zeitgeschichtsschreibung um 1800“ (Iwan-Michelangelo D’Aprile) und „Französisch-deutsches Revolutionserzählen im Modus der Zeitgenossenschaft“ (Anna Karla) untersucht. An Müllers Werk wird in präziser Textanalyse gezeigt, wie die „Literarisierung der Historie“ mit deren „Politisierung“ einherging, da sie nun auf ein gebildetes Publikum und auf „Gemeinschaftsstiftung“ zielte (S. 134).Nur Pujos Beitrag zu Fillassier und Brunn bezieht sich dezidiert auf Koselleck, denn sie deutet historia magistra vitae als ein Kulturmuster, dem unterschiedliche Funktionen zukamen und das nicht einer historiographischen „Dichotomie von Tradition und Moderne“ (S. 158) zugeordnet werden sollte. In den Jahrzehnten vor 1800 habe die Geschichte weiterhin als magistra vitae fungiert, wie an pädagogischen Projekten gezeigt wird. In Brunns Übersetzung wurde aus Fillassiers Vermittlung moralischer Grundsätze eine „Geschichte in staatsbürgerlicher Absicht“ (S. 157).Wie fruchtbar die Leitperspektive Vielfalt ist, arbeitet auch Tricoire in seiner Werkanalyse heraus. „Die Geschichte beider Indien erscheint als eine Mischung aus einer Enzyklopädie der kolonialen Welt, einer Kompilation von Reiseberichten, einer Sammlung erbaulicher und epischer Geschichten nach klassischem Muster, eines rhetorischen Werks nach dem antiken Vorbild und einer literarischen utopischen Funktion.“ (S. 175) Selbst die „Bielefelder Schule“ tritt hier ungewohnt vielfältig auf, denn der Autor gruppiert sie um Rüsen und Blanke! Die beiden anderen Texte nehmen eine Vielzahl von Autoren in den Blick. An der journalistischen Zeitgeschichtsschreibung macht D‘Aprile einen neuen Autorentypus sichtbar, der für die Analyse der Vielfalt von Geschichtsschreibung um 1800 unverzichtbar ist: der „Historiker-Journalist“ (S. 179). Diese Form von Historie war europäisch ausgerichtet und bildete also einen Gegenpol zum damaligen Trend der historiographischen Nationalisierung, und sie bot in „naturwissenschaftlich-ökonomischer Terminologie“ Deutungen, die wir heute sozialwissenschaftlich nennen würden (S. 195). In eine andere Form von Geschichtsschreibung führt Karlas Plädoyer, die Französische Revolution „historiographiegeschichtlich aufzuwerten“ (S. 200). Als methodologischen Kern ihrer Autoren bestimmt sie die „Konfrontation von Zeugenwissen“ (S. 215), das in den französischen Memoiren und auch in den deutschsprachigen Vorlesungen, die sie betrachtet, als „ Personendrama“ (S. 216) inszeniert wurde.

Im abschließenden Teil werden unterschiedliche Wege der Historisierung in Frankreich und Deutschland analysiert. Die Beiträge von Chantal Grell („L’histoire des origines en France, 1780–1820“) und Christophe Corbier („L’historiographie de la musique grecque antique de Jean-Jacques Rousseau à August Böckh: Aspects d’un problème européen“) behandeln höchst unterschiedliche Themen, doch sie fragen beide, wie man mit dem Problem einer unzureichenden Quellenlage umgegangen ist. Auch hier koexistierten Verfahren, die man nicht auf einer Achse alt – neu verorten sollte: wissenschaftliche Reflexion und Spekulation. Den Abschluß bilden zwei Beiträge, die nach dem Verhältnis von Historisierung und Systematisierung fragen. Ayşe Yuva (L’histoire permet-elle de résoudre les questions philosophiques? Les histoires de la philosophie de Tennemann et Degérando) untersucht das Spannungsfeld zwischen „la connaissance philosophique“ und „l'histoire de la philosophie“ (S. 287) an einem französischen Werk zur Philosophiegeschichte und dessen deutscher Übersetzung. Christian Helmreich („Alexander von Humboldts Wissenschaftsgeschichte. Über das Fortleben der ‚histoire philosophique‘ im 19. Jahrhundert“) arbeitet die „Zentralität der Geschichte“ (S. 291) in A. v. Humboldts Werk heraus. Dessen fortschrittssicheres, zukunftsoffenes Wissenschaftsverständnis wird im „Bild eines ständig zurückweichenden Horizonts“ (S. 306) anschaulich.

Der Band bereichert zweifellos die Forschung zur Geschichtsschreibung um 1800, indem er den Blick auf die große Vielfalt lenkt. Aus welcher Perspektive man auf sie blickt und aus ihr auswählt, hängt von den Fragen ab, die man beantworten will. Koselleck hatte klare Fragen. Sie zielen auf das, was mit der Vergangenheit brach. Das ist eine Möglichkeit, aus der Vielfalt auszuwählen. Dieser Band hingegen will die „Koexistenz des Differenten“ sichtbar machen. Es verschlösse Erkenntnismöglichkeiten, wenn man diese unterschiedlichen Zugänge gegeneinander ausspielte.

Anmerkung:
1 Reinhard Koselleck, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1: A–D, Stuttgart 1972, S. XXIV.