Cover
Titel
Russlands Westen. Westorientierung und Reformgesetzgebung im ausgehenden Zarenreich 1905–1917


Autor(en)
Beuerle, Benjamin
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 82
Erschienen
Wiesbaden 2016: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
IX, 381 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim von Puttkamer, Historisches Institut, Imre Kertész Kolleg / Friedrich-Schiller-Universität Jena

Den Umschlag des vorliegenden Bandes ziert ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Ilja Repin. Es trägt den Titel „Manifestation. 17. Oktober 1905“ und zeigt eine jubelnde Menge, Frauen und Männer, auf den Straßen St. Petersburgs. Ein Mann reckt triumphierend die gesprengten Ketten der Autokratie in die Höhe. Im Hintergrund sind einige rote Fahnen zu sehen. Der Gesamteindruck hingegen ist ein höchst bürgerlicher. Die Männer tragen Anzug, Uniform oder Livree, einige Frauen rauschende Kleider und Hüte nach der jüngsten europäischen Mode. Sie alle vereinen sich zu einer Sinfonie in blau, weiß und rot, den russischen Nationalfarben schon im ausgehenden Zarenreich. Mit etwas Phantasie mag der Betrachter am linken Bildrand einige Arbeiter und Matrosen erkennen.

Als Illustration der zentralen Aussage des vorliegenden Bandes eignet sich dieses Bild auf das Schönste. Zentrales Thema von Benjamin Beuerles Berliner Dissertation sind drei herausragende Reformvorhaben der russischen Staatsduma zwischen 1905 und 1917: die Agrarreform, die Arbeiterversicherung und die Abschaffung der Todesstrafe. In allen drei Fällen waren Europa oder der Westen nahezu unumstrittener Fluchtpunkt der parlamentarischen Debatten, wenn auch auf recht unterschiedliche Weise und in bisweilen merkwürdigen Konstellationen. In den Debatten um die Stolypinsche Agrarreform etwa verteidigte allein der armenische Sozialrevolutionär Ivan (Ioanes) Sagateljan das Prinzip des Familienbesitzes und wehrte sich gegen die Vorstellung, Russland müsse mit dem Übergang zu bäuerlichem Privateigentum einem universellen, vom Westen vorgegebenen Entwicklungspfad folgen. Ansonsten dominierten die „Kosmopoliten“, mit erstaunlichen Argumenten. Rechte Politiker wie Vasilij Šul’gin beriefen sich auf Karl Kautsky, der Menschewik Iraklij Cereteli auf den preußischen Kanzler Hardenberg. Liberale Kadetten, ein Bolschewik und einige polnische Großgrundbesitzer stritten darum, ob die blühende dänische Landwirtschaft als Argument dafür herangezogen werden könne, den Bauern möglichst viel Gutsland zu übertragen, oder ob Dänemark nicht vielmehr ein Beleg dafür sei, dass agrarisches Privateigentum unantastbar bleiben müsse. Die Referenz auf den Westen legitimierte gegensätzliche Positionen, der Bezug war bisweilen eklektisch. Sergej Kotljarevskij von den oppositionellen Kadetten versuchte als Einziger, unter Verweis auf das dänische Vorbild in der Ersten Duma eine Brücke zum Regierungslager zu bauen, indem er auf das stabilisierende Element bäuerlichen Eigentums verwies. Auf Regierungsseite wurde allerdings nicht erkannt, dass in diesem Argument eine Abkehr von dem staatlichen Landfonds steckte, den die Kadetten zunächst favorisierten. Die schmale Brücke wurde nicht begangen.

In der Diskussion über die Arbeiterversicherung, dem zweiten hier diskutierten Reformvorhaben, erleichterte der gemeinsame Bezug auf das deutsche Vorbild, dass sich zunächst unter den Industriellen, dann aber auch in der Duma einschließlich der Sozialdemokraten ein tragfähiger Konsens herausbildete, dem sich schließlich auch der ebenso konservative wie industriellenfreundliche Senat anschloss. Hier ging es weniger um grundsätzliche Konflikte als um wichtige Details. In der Frage etwa, wie weit Fabrikbesitzer die Kosten medizinischer Versorgung ihrer Arbeiter zu tragen hätten und wie weit der Kreis der Versicherten zu ziehen sei, kam es wiederholt zu unerwarteten Allianzen, die sogar Bolschewiki und Rechte gegen die Industriellen zusammenführten. Wiederum anders gelagert waren die Bezüge auf Europa, als die Erste Duma über die Abschaffung der Todesstrafe debattierte. Diesmal setzten sich Befürworter wie Gegner mit dem Umstand auseinander, dass es hierfür gar kein prominentes westliches Vorbild gab. Die Gegner der Todesstrafe verlegten sich deshalb darauf, mit einer universellen, fortschrittlichen Entwicklungsidee zu argumentieren. Entschieden wurde diese Debatte jedoch durch eine ganz andere Referenz auf den Westen: Als die Erste Duma aufgelöst wurde, befand sich der Gesetzentwurf noch im Vermittlungsausschuss zwischen Duma und Senat. Für das verfassungsrechtlich heikle Anliegen, die Beratungen auch in der neuen Legislaturperiode fortzusetzen, fand sich im Westen jedoch kein Vorbild. Ein abschließendes, viertes Fallbeispiel ist der kurzen Debatte vom Spätsommer 1917 gewidmet, nach deutschem Vorbild eine Arbeitslosenversicherung einzuführen. Dieses Vorhaben scheiterte noch vor dem Oktober nicht an den Bolschewiki, sondern an dem menschewistisch geführten Arbeitsministerium.

Der Leser erfährt in der vorliegenden Studie viel über Alltag und Mechanismen parlamentarischer Arbeit in Russlands erstem konstitutionellem Jahrzehnt. Dass Benjamin Beuerle neben den Plenardebatten erstmals auch die sorgsam protokollierten Diskussionen der Ausschüsse untersucht, ist ein großer Gewinn. Man kann heute nur darüber staunen, wie sachorientiert und konstruktiv die Debatten geführt wurden, als Redeschlachten mit offenem Ausgang jenseits aller Fraktionsdisziplin und über tiefe Gräben hinweg. Die Kenntnis des Westens mochte bisweilen aus einer am Vortag billig erworbenen Broschüre stammen, und doch findet sich in dem gesamten Buch kein Beispiel eines Abgeordneten, der sich etwa durch grobe Unkenntnis lächerlich gemacht hätte. Noch erstaunlicher ist der Befund eines gemeinsamen Grundkonsenses darüber, dass sich Russland auf einem universellen Entwicklungspfad befinde, auf dem es dem Westen zu Fortschritt und Wohlstand folgen könne und müsse. Noch bis zur Revolution von 1905 hatten die konservativen Eliten, allen voran der Oberprokuror des Heiligen Synods, Konstantin Pobedonoscev, sich strikt gegen diese Vorstellung gewandt und dafür beim Zaren ein offenes Ohr gefunden. Kaum zu glauben ist auch, dass die Jahrhundertdebatten zwischen Westlern und Slavophilen, zwischen Volkstümlern und Sozialdemokraten in der Duma derart geringe Spuren hinterließen. Zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte, so könnte man den zentralen Befund von Beuerles Dissertation zusammenfassen, war Russland politisch derart einmütig auf das westliche Europa orientiert. Nur der Zar verblieb einsam außerhalb dieses Westkonsenses.

Aber berechtigt dieser Befund auch zu der These, Russland habe in dieser Situation entscheidende politische Chancen vertan? Mit der Einschätzung, dass sich das politische System Russlands am Vorabend des Ersten Weltkriegs keineswegs am Rande des Zusammenbruches befand, ist Beuerle ja nicht allein. Dennoch reizt seine Beweisführung zum Widerspruch. Zum einen wertet er für die Stolypinschen Agrarreformen seine Materialien nur bis 1908 aus. Als es danach um die konkrete Ausgestaltung der Reformen ging, brach sich die Westorientierung an den Mühen der Ebene und es wurden Probleme sichtbar, die sich über einen Bezug durch den Westen nicht mehr auflösen ließen. Hier zeichneten sich schon in den Debatten sehr spezifisch russische Probleme der obščina ab, welche die Reformen massiv belasten sollten. Diese Debatten aber werden von Beuerle nicht angesprochen. Damit hängt der zweite, gewichtigere Einwand zusammen. Denn von der Fähigkeit der Duma zum Konsens und vom Reformpotential des um ein Parlament erweiterten politischen Systems lässt sich nicht ohne weiteres auf die Reformfähigkeit des Zarenreichs insgesamt schließen. Mit einigen sachorientierten Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki in der Duma war die tiefe Kluft zwischen gesellschaftlichen Eliten, Arbeitern und Bauern noch nicht überwunden. Schon gar nicht lässt sich die Zukunft der Provisorischen Regierung an den späten Debatten über eine Arbeitslosenversicherung bemessen. Die Überlegung, Lenin habe in der Situation vom Herbst 1917 möglicherweise nur noch ein enges Zeitfenster für seine Vorstellung einer Revolution gesehen, ist reichlich verwegen.

Benjamin Beuerle hat eine glänzend geschriebene Studie vorgelegt, die eine alte Debatte neu belebt. Ihr Motto entnimmt er Dostoevskijs Roman „Podrostok“ (Der Jüngling). Der Russe allein habe die Fähigkeit, in höchster Weise Russe zu sein, wenn er in höchstem Maße Europäer sei, heißt es dort. Diese Worte legt Dostoevskij dem charakterlich unsteten Provinzadeligen Versilov in den Mund, und es sei dahingestellt, ob ausgerechnet dieser Versilov ein geeigneter Kronzeuge ist, um Russlands europäische Berufung zu beglaubigen. Er, dessen illegitimer Sohn sich der nihilistischen Bewegung zuwendet, steht nicht minder für die Ambivalenz russischer Westorientierung. So fällt der Blick des Lesers, wenn er das Buch aus der Hand legt, wieder auf Repins Gemälde zur Manifestation vom 17. Oktober 1905. Aus dem Abstand eines Jahrhunderts mögen sich die verschiedenen Farben, welche das politische Spektrum des ausgehenden Zarenreiches symbolisierten, in der Zusammenschau zu einer am Westen orientierten, nationalen Idee zusammenfügen. Aber deshalb waren die jeweiligen Positionen noch längst nicht untereinander vermittelbar. Ein hoffnungsvolles Gesamtbild ergibt sich erst aus der Ferne.

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