Cover
Titel
The Channel. England, France and the Construction of a Maritime Border in the Eighteenth Century


Autor(en)
Morieux, Renaud
Erschienen
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
€ 79,19
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Korb

Grenzen haben derzeit wieder Konjunktur. Die Ereignisse des Spätsommers 2015 waren Wasser auf die Mühlen jener, denen ein grenzenloses Europa seit längerem ein Dorn im Auge war. Die Migrationsbewegung auf der Balkanroute ließ Stimmen laut werden, die den Nationalstaaten nachdrücklich den Schutz des eigenen Territoriums als raison d’être ins Stammbuch schrieben. Die Britinnen und Briten, die im Juni 2016 den Brexit herbeiwählten, wurden von der Sorge um den Verlust nationaler Selbstbestimmung ebenso umgetrieben wie von der Furcht, der europäische Binnenmarkt mit seiner Freizügigkeit von Arbeitnehmern übervorteile die angestammte Bevölkerung. Und in den Vereinigten Staaten zog unterdessen mit Donald Trump ein Agitator ins Weiße Haus ein, der nicht zuletzt dank xenophober Breitseiten gegen Migranten das Abgrenzungsbedürfnis diverser Wählerschichten bediente. Die „postnationale Konstellation“ (Jürgen Habermas) gerät also zusehends unter Legitimationsdruck, zumal sie sich als vermeintliches Elitenprojekt mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, die Lebenswelt ebenso zu kolonialisieren wie etwa ein sozialstaatlich nicht länger eingehegter Kapitalismus.

Renaud Morieux wirft einen Blick zurück in die Zukunft und untersucht am Beispiel des Ärmelkanals, wie in der Frühen Neuzeit Grenzen erfunden, aufgezwungen und überwunden wurden. Seine anregende, detailgesättigte Studie fordert den „geographical determinism“ (S. 2) heraus, der wegen der Insellage Großbritanniens und dessen Konflikten mit Frankreich das lange 18. Jahrhundert zu einem zweiten Hundertjährigen Krieg stilisierte. Morieux will stattdessen den transnational turn nutzen, um der Historiographie der Grenzgebiete und maritimen Räume subtilere Lesarten zuzuführen. Geologische und geographische Kenntnisse über Küstenformationen und den Meeresboden waren während des gesamten Betrachtungszeitraums gleichbedeutend mit politischer Definitionsmacht. Die insulare Existenz Großbritanniens ließ die politische Teleologie ins Kraut schießen, wobei sich die einzelnen Interpretamente um zwei Pole konzentrierten: Während die einen das Inseldasein als Wink des Schicksals deuteten, als Verpflichtung zu einer separaten Entwicklung, beförderten andere Britannien zum „beacon of transatlantic civilization“ (S. 88) mit einer Art Brückenfunktion. Die fortdauernden Souveränitätskonflikte mit Frankreich nahmen die Whig-Ideologen zum Anlass, in der Nachfolge des Themistokles die hölzernen Mauern der britischen Marine als „bulwark of English liberties“ (S. 121) zu sakralisieren, die zuvörderst den Nationalcharakter bewahren sollten. Allerdings kann Morieux am Beispiel der Milizen luzide nachweisen, dass ein nationaler Diskurs lokale Loyalitäten nicht ohne weiteres aushebelte. In Großbritannien blieb die Grafschaft bis weit ins 19. Jahrhundert hinein der politische Angelpunkt der Bevölkerung. Und während hier lokale Milizen vor allem die innere Ordnung aufrechterhalten sollten, war die französische Küstenwache auf den Schutz der maritimen Grenzen festgelegt. Außerdem gewann die französische Marine nie denselben Status wie die britische Navy. Unter Ludwig XIV. wurden einige Häfen massiv befestigt, der Schutz der Küste oblag darüber hinaus jedoch der Bevölkerung vor Ort. Erst 1759 gelangte das küstennahe Befestigungswesen unter die Aufsicht des Pariser Kriegsministeriums.

Was die rechtliche Fixierung der Grenze im Ärmelkanal betrifft, so führte das Fehlen schriftlicher Vereinbarungen immer wieder zu Konflikten, zumal Großbritannien nach 1603 unter dem Einfluss der schottischen Jurisprudenz die Freiheit der Meere in Abrede stellte. Andererseits eröffneten sich für ökonomische Akteure Spielräume, solange der Ärmelkanal als Allmende betrachtet wurde. Gerade bei den Fischereirechten – bis heute mitunter ein Zankapfel in der Europäischen Union – kam es häufig zur Kollision zwischen internationalen und lokalen Rechtsauffassungen. Im Ärmelkanal existierten deshalb, so Morieux, multiple Territorien. Verlangten Fischer nach staatlicher Unterstützung in maritimen Abgrenzungsstreitigkeiten, so rekurrierten sie wahlweise auf naturrechtliche, xenophobe oder ökonomische Argumentationslinien. Zugleich institutionalisierten sie eine „parallel diplomacy“ (S. 212), um mithilfe informeller Netzwerke Einfluss auf zentralstaatliche Entscheidungsmechanismen zu nehmen. Die Interessen der lokalen Gemeinschaften deckten sich keineswegs immer mit denen der sich entfaltenden Nationalstaaten. Französische und britische Schiffbesitzer koordinierten bisweilen ihre Aktionen und setzten so die Regierungen in Paris und London gemeinsam unter Druck. Der Fremde war nicht automatisch der Feind. Und die Nationalisierung des lokalen Raums schritt in den Küstengemeinden des Ärmelkanals langsamer voran als im Landesinneren, weshalb Fischer bald als romantisch verklärte Patrioten, bald als vaterlandslose Gesellen figurierten.

Besonders augenfällig werden diese unterschiedlichen Modernisierungsgeschwindigkeiten im Zentrum und in der Peripherie beim Umgang der Politik mit Schmugglern. Die Bewohner der Kanalinseln verteidigten ihre Schmuggelaktivitäten als patriotische Großtat und drohten der Krone unverhohlen mit Loyalitätsentzug, sollte diese dagegen einschreiten. Französische Behörden wiederum bauten Dünkirchen zu einer Art merkantilistischer Sonderwirtschaftszone avant la lettre aus: Die Schmugglerboote, die dort mit französischen Waren zur englischen Küste aufbrachen, schadeten dem britischen Fiskus und brachten Devisen nach Frankreich. Dies führte dazu, dass Frankreich britische Bürger in Kriegszeiten sogar gegenüber den eigenen Untertanen mit Privilegien ausstattete. Piraten waren indes aufgrund ihrer wurzellosen Existenz schwieriger in „networks of interpersonal knowledge“ (S. 264) zu verorten. Jedenfalls reiche ein nationalstaatlicher Bezugsrahmen nicht aus, um die Identität dieser Akteure einer florierenden Schattenwirtschaft adäquat zu beschreiben.

Im 18. Jahrhundert prägten Flexibilität und Pragmatismus das britische Rechtssystem, weshalb auch die Kontrolle von Migrationsbewegungen erst im Gefolge der Koalitionskriege in bürokratisch stabilere Formen gegossen wurde. Die britischen Behörden waren erpicht darauf, die Frühindustrialisierung nicht durch einen brain drain in Richtung Kontinent zu gefährden. Der Pass war demnach kein Dokument, welches die Reisefreiheit verbürgte, sondern die Erlaubnis, das Land zu verlassen. Und wenn britische Bürger auf die Insel zurückkehrten, unterlagen sie der Überwachung, damit die lokale Bevölkerung nicht durch vermeintlich staatszersetzende Ideen infiziert wurde. Die Französische Revolution änderte nichts daran, dass „merchant cosmopolitanism“ (S. 321) ein negativ behafteter Begriff blieb, obgleich selbst während der Revolution grenzüberschreitender Handel nie völlig zum Erliegen kam. Allerdings scheiterte ein engmaschigeres Netz der Grenzkontrolle im Zeichen nationalstaatlicher Territorialisierung auch am Ärmelkanal nicht zuletzt daran, dass die professionelle, grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen britischen und französischen Behörden nicht reibungslos funktionierte.

Morieux diagnostiziert resümierend eine weite Kluft zwischen Grenzen, wie sie von Staaten definiert werden, und Grenzräumen, wie sie sich deren Bewohner in der Alltagspraxis aneignen. Eine dynamische Machtbalance sorgte bis zur Wende zum 19. Jahrhundert dafür, dass die Grenzen der Souveränität „both imposed and negotiated“ (S. 328) waren. Patriotismus und Fremdenfeindlichkeit wurden im lokalen Kontext je neu bestimmt. Mit seiner feinziselierten Studie erweitert Morieux unser Verständnis von nationalstaatlichen Ansprüchen und lokalen Wirklichkeiten in der Frühen Neuzeit. Zugleich sensibilisiert er für die ideologischen wie praktischen Schwierigkeiten, dem Abgrenzungsbedürfnis der verschiedensten historischen Akteure gerecht zu werden.

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