C. Bernhardt (Hrsg.): Städtische öffentliche Räume

Cover
Titel
Städtische öffentliche Räume / Urban public spaces. Planungen, Aneignungen, Aufstände 1945–2015 / Planning, appropriation, rebellions 1945–2015


Herausgeber
Bernhardt, Christoph
Reihe
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 19
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
313 S., 27 SW-Abb., 54 SW-Fotos
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Ulrich Weiß, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Urbane Freiraumplanung im 20. Jahrhundert brachte eine vielfältige Gestaltung öffentlicher Stadträume hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich diese zunehmend zum Spiegelbild und Katalysator sozialkultureller und gesellschaftspolitischer Umbrüche und Revolten. So verbindet sich gerade die Geschichte der 1989er Revolutionen, aber auch der jüngsten Aufstände in der Ukraine, Türkei und einigen arabischen Staaten auf besondere Weise mit der politischen Aneignung von Straßen und Plätzen. Der vorliegende Sammelband greift diese Phänomene auf und historisiert in zwölf Beiträgen bzw. zehn Fallstudien städtische Freiraumplanung, eigensinnige Raumaneignung sowie die Nutzung von Stadträumen als Austragungsorte sozialer und politischer Erhebungen.

Der Untersuchungsradius reicht von Ost- und Westdeutschland über Frankreich, Italien und Großbritannien bis in die Türkei und nach Tunesien. Forschungshintergrund ist ein mehrjähriges, am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner durchgeführtes Projekt, das die Planung und Aneignung öffentlicher Stadträume aus historischer Perspektive thematisierte. In seinem Problemaufriss zu Beginn plädiert Herausgeber Christoph Bernhardt dafür, Planungsgeschichte als einen weitreichenden Prozess zu untersuchen, der über „Pläne verfertigen“ prominenter Architektenpersönlichkeiten hinaus Institutionen, Netzwerke, Akteure sowie ihre Diskurse, Debatten und unterschiedlichen Interessenlagen umfasse. Es gehe um eine integrierte Geschichte von planerischer Antizipation und baulicher Umsetzung auf der einen Seite, von nachfolgender Aneignung und Nutzung eben jener Stadträume auf der anderen Seite.

Für Studien im deutsch-deutschen Teilungskontext erweist es sich als fruchtbar, grenzüberschreitende Interaktionen zu betrachten. Andreas Butter setzt sich am Beispiel des Wettbewerbs zum „Wohn- und Erholungsgebiet Umgebung Fennpfuhl“ im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain von 1956/57 aufschlussreich mit ost- und westdeutschen Stadt- und Freiraumplanungen der 1950er-Jahre auseinander. Trotz verschärfter Konfrontation schickten Einsender aus beiden Teilen des Landes und der Stadt Berlin ihre Entwürfe an die paritätisch besetzte Jury, die dann den Vorschlag von Ernst May aus der Bundesrepublik zum Sieger kürte. Für Butter ist der Wettbewerb ein Exempel für die gemeinsame Suche nach städtebaulichen Raumkonzepten, die es den Bewohnern ermöglichen sollten, Bindungen zu ihrer Umgebung aufzubauen. Inmitten des geteilten Berlins ist der Wettbewerb durchaus erstaunlich, zeugt sein Verlauf doch vom Fortleben eines – noch – gesamtdeutschen Fachdiskurses. Butter erkennt unter den Beteiligten zum einen inhaltliche Zusammenhänge gemeinsamer Moderne-Erfahrungen. Zum anderen verweist er auf das Netzwerk der um 1900 geborenen Architekten, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwar in Ost oder West ihren Platz suchten, sich jedoch ideologisch noch nicht gegenseitig blockierten.

Auch Elke Beyer thematisiert Kommunikation, Generation und Vorkriegserfahrung. Am Beispiel des Hamburger Großprojekts Neu-Altona arbeitet sie die besondere Bedeutung Werner Hebebrands (1899–1966) als Oberbaudirektor im Planungs- und Diskussionsprozess heraus. Hebebrand, der über enorme internationale Erfahrungen und fachliche Verbindungen verfügte, sorgte sowohl für einen kreativen Wissenstransfer als auch für die Einbettung des Projekts in die internationale Diskussion über Grundsätze modernen Städtebaus. Mit seiner Denk- und Arbeitsweise definierte er Maßstäbe für die nachfolgende urbane Planungspraxis. Gleichwohl, schränkt Bernhardt in seinem Resümee am Ende des Bandes zu Recht ein, setzten sich innovative raumplanerische Praktiken, Erkenntnisse und Resultate nicht immer gegen lokale Machtkonstellationen und Widerstände durch; zwischen Planungsphase und tatsächlicher Realisierung konnten Welten liegen. Das traf auch für Hebebrands Wirken in Hamburg zu.

Ebenfalls für eine deutsch-deutsche Untersuchungsperspektive haben sich Sylvia Necker und Harald Engler entschieden. Engler nimmt mit dem Alexanderplatz im Osten und dem Breitscheidplatz im Westen zwei Berliner Aushängeschilder unter die Lupe und entdeckt dabei Unerwartetes. So präsentierte sich der Breitscheidplatz vielfach eben nicht als das stadträumliche Symbol für Freiheit und Offenheit, sondern auch als ein Ort, wo regelmäßig angeordnete „Platzsäuberungen“ stattfanden, die sich gegen unerwünschte Nutzer wie Gammler, Punks oder sozial Randständige richteten. Der Alexanderplatz wiederum fungierte weniger als das politische Schaufenster von SED und DDR, sondern vielmehr als eine stark frequentierte Fußgänger- und Freizeitzone sowie – vor allem in den 1980er-Jahren – als Treffpunkt von Punks, Homosexuellen und Skatern. Gleichwohl wurde der „Alex“ immer wieder auch als kurzzeitige, hochprominente Bühne für Protest genutzt, was schließlich zur Dauerüberwachung durch die Stasi führte. Überzeugend hebt Engler noch einmal die Vorzüge von bekannten Stadtplätzen als Seismographen für politischen Wandel in Krisenzeiten und generell für die Analyse von Gesellschaftsordnungen hervor.

Necker wiederum untersucht am Beispiel der Fußgängerzonen „Zeil“ und „Brühl“ in Frankfurt am Main bzw. Karl-Marx-Stadt Planungskonzepte und alltägliche Aneignungen dieses besonderen Freiraumtyps, der sich vor allem nach 1945 europaweit ausbreitete. Dabei stellt sie detailreich heraus, dass in der DDR solche Zonen als elementare Versorgungsareale und zugleich Verbindungsräume selbstverständlicher Bestandteil sowohl von Innenstädten als auch Wohngebieten waren und stärker als in der Bundesrepublik als Orte angesehen wurden, die es durch Kunst und Design zu verschönern galt. Der 1980 eingeweihte Brühl-Boulevard war überzogen von Plastiken, Sitzbuchten, Wasserspielen und Begrünungen, was ihn zu einem der beliebtesten öffentlichen Räume von Karl-Marx-Stadt machte – und zugleich zum Musterbeispiel der SED-Propaganda für gelungene sozialistische Stadtgestaltung. In Westdeutschland hingegen galten Fußgängerzonen primär als umsatzstarke Geschäftsstraßen ohne besondere Kunstwürdigkeit. Doch ihre Entwicklung war keineswegs nur eine Angelegenheit der Kaufleute. Dass es fast 15 Jahre Planung, Diskussion und Umsetzung brauchte, um die Frankfurter „Zeil“ umzugestalten, lag nicht zuletzt am Verfahren der Bürgerpartizipation, die es in der DDR zwar auch gab, jedoch längst nicht im selben Umfang. Zu den größten Herausforderungen zählte im Westen die verkehrspolitische Weiterentwicklung hin zu autofreien Flächen, ohne die Warenversorgung und den Konsum zu beeinträchtigen. Im Ergebnis gehört die „Zeil“ bis heute zu den erfolgreichsten Geschäftsstraßen der Bundesrepublik. Der Brühl-Boulevard hingegen verlor mit dem Ende der DDR und der Eröffnung neuer Geschäftsmeilen am Stadtrand schlagartig seine Attraktivität.

Das ehemals reichhaltige Design war allerdings kein ostdeutsches Spezifikum, wie Loïc Vadelorge zeigen kann. Er arbeitet interessante Parallelen in der künstlerischen Gestaltung bzw. Gestaltungsplanung von öffentlichen Stadträumen in Frankreich und der DDR heraus, die von Planungsseite besonders für neu erbaute Städte und Stadtviertel als wertvoll und notwendig erachtet wurde. Dahinter verbarg sich die Grundannahme, dass es möglich sei, die Bewohner bzw. eine ganze Gesellschaft durch Städtebau und Freiraumgestaltung zu „formen“.

Freiraumplanung und -gestaltung differenzierten sich nach 1945 deutlich aus, wobei die Veränderungen vor allem seit den Umbrüchen der 1970er-Jahre besonders spürbar wurden. Dies stand im Kontext zunehmender zivilgesellschaftlicher und politischer Anstrengungen, den wachsenden Autoverkehr zu kanalisieren und zonenweise einzudämmen. Gerd Kuhn befasst sich mit stadträumlichen Aneignungstrends im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und sieht dabei das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 als wichtige Zäsur. Mehr als in den Jahrzehnten zuvor orientierte sich die Stadtplanung nun wieder auf die Koordinaten und ästhetischen Fundamente der jeweils eigenen Stadtgeschichte, was mit behutsamer Stadterneuerung und einer Aufwertung gründerzeitlicher Stadtquartiere einherging. Dabei beobachtet Kuhn eine Zunahme verkehrsberuhigter Zonen bzw. das Austarieren der Raumansprüche von Fußgängern, Rad- und Autofahrern sowie eine „Requalifizierung“ von Stadtraum durch aufwendige Platzprogramme. So wurden in Barcelona und Rom Platzumgestaltungen in dreistelliger Zahl durchgeführt. Dass öffentliche Räume, wie am Beispiel des Alkoholkonsums demonstriert, immer wieder auch eine Aneignung erfahren, die nicht im Sinne der Stadtväter und -planer ist, gehört zu den permanenten, konfliktbeladenen Begleiterscheinungen. Zentrale Aufgabe demokratischer Stadtpolitik sei es, so Kuhn, alle Interessen ausgewogen einzubeziehen und zu diskutieren. Schließlich sei die freie Nutzung öffentlicher Räume ein demokratischer Wert, und Irritationen oder Konflikte seien auch als Ausdruck einer Lebendigkeit von Räumen mit Identifikationspotenzial lesbar. (Die Privatisierung und verstärkte Kontrolle etwa in Shopping Malls ließe sich hier als Gegenpol anführen.)

Die symbolische Inbesitznahme oder Umkodierung städtischer Räume geschieht besonders öffentlichkeitswirksam, wenn politische Revolten ausbrechen. Dabei sind gerade solche Plätze relevant, die über eine lange Vorgeschichte verfügen. Die widerständige Aneignung historisch aufgeladener Orte wie des Taksim-Platzes in Istanbul (Beitrag von Aylin Topal) oder der Avenue Habib Bourguiba in Tunis (Beitrag von Nora Lafi) in der jüngsten Vergangenheit durch Demonstranten bekam schneller als anderswo den Charakter einer Kampfansage gegen das jeweilige politische Regime – ein Vorgang, den sowohl die Protestierenden als auch die Herrschenden so wahrnahmen. Sandra Huning verbindet in diesem Zusammenhang auf überraschende Weise die Leipziger Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989 mit den G-8-Protesten von Genua 2001, indem sie auf symbolstarke Umkodierungen und Kriterien der gewählten Straßen und Plätze verweist. Während die Leipziger Ringstraße inklusive Karl-Marx-Platz seit den 1950er-Jahren eine Route für offiziöse Aufmärsche bildete und 1989 gezielt von den Demonstranten angeeignet wurde, wurden in Genua zahlreiche, eher unbekannte Orte für Aktionen ausgesucht, was zum einen die Spontaneität der Proteste sicherte, zum anderen Schutz vor Polizeieinsätzen bot, deren auswärtige Kontingente sich oftmals weniger gut in den lokalen Gegebenheiten auskannten. Zugleich spiegelte sich in der Vielgestaltigkeit der Orte auch die Vielfalt der Meinungen der G-8-Gegner wider.

Am Schluss des Bandes bilanziert Herausgeber Christoph Bernhardt wichtige Ergebnisse und Forschungstrends. Gerade in der Zusammenführung von Planung, Diskussion, Umsetzung und Aneignung treten die Wechselbezüge verschiedener Akteursgruppen zutage, aber auch die europäische bzw. internationale Dimension und teilweise Verflechtung stadträumlicher Diskurse und Entwicklungsprozesse. Eine solche Betrachtungsweise relativiert nicht nur manch harte Ost-West-Trennlinie im Kalten Krieg, sondern regt auch an, Nord-Süd-Sichtachsen zu schlagen. Gleichzeitig wird der Epochenblick auf die Prägekräfte der 1970er-Jahre gelenkt, die gerade in diesem Themenbereich weit über die Zäsur 1989/91 hinaus wirken. Mit seinen substantiellen Einzeluntersuchungen und dem durchweg hohen Reflexionsniveau stellt der Band, der über reichhaltiges und gut gewähltes Bildmaterial verfügt, nicht nur einen höchst anregenden Forschungsbeitrag dar, sondern eignet sich auch bestens als Studienbuch für die universitäre Lehre.