P. Ernst-Kühr u.a. (Hrsg.): Geschichte erben. Judentum Re-Formieren

Cover
Titel
Geschichte erben. Judentum Re-Formieren


Herausgeber
Ernst-Kühr, Petra; Hecht, Dieter J.; Hecht, Louise; Lamprecht, Gerald
Erschienen
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Korbel, Andrássy Universität Budapest

Ein Herausgeber/innenteam der Centren für Jüdische Studien der Universitäten Graz und Olmütz rund um Petra Ernst-Kühr nahm den 65. Geburtstag der Historikerin Eleonore Lappin-Eppel zum Anlass, um „Beiträge zur modernen jüdischen Geschichte in Mitteleuropa“ zu versammeln. „Vergessenes und Verdrängtes in Erinnerung [zu] bringen“1, wie es die Herausgeber/innen formulieren, zeichnet die weitreichenden Arbeiten der Jubilarin aus; und das will auch dieser Band leisten: Gegliedert sind die 19 Beiträge nach den thematischen Schwerpunkten „jüdische Geschichte und Gender“, „deutschsprachig-jüdische Presse“, „Nationalsozialismus und Holocaust“ und „Erinnern und Gedenken“. Eine Schwerpunktsetzung, die unmittelbar mit den Forschungsbereichen der Jubilarin zusammenhängt. Eleonore Lappin-Eppel trug wesentlich zum Erkenntnisgewinn in der Forschung zur jüdischen Moderne, zu Frauen und Frauenbildern im jüdischen Pressewesen, zu Zwangsarbeit in Österreich 1944/1945 und zur Erinnerungsforschung, etwa um Gedächtnisorte der Shoa in Wien, bei.2

Einen rezenten Einblick in Diskussionen rund um Geschlecht und Gender im Judentum bietet der Beitrag von Lara Dämming und Elisa Klapheck. Sie zeigen, wie 2016 – nach der 8. Tagung der „Bet Deborah“ – auch in Europa eine „Frauenbewegung zum Ausdruck jüdischer Erneuerung“ stattfindet, diskutiert und dokumentiert wird. „Es war das erste Mal nach der Shoah in Europa, dass die Erneuerung jüdischen Lebens aus jüdischer Frauenperspektive diskutiert wurde“ (S. 104), wird die Situation 1999, als die Autorinnen erstmals zu einer Konferenz luden, geschildert. Auf die USA blickend, wo es bereits wesentlich früher eine Frauenbewegung im Judentum gab, wird gezeigt, wie Jüdinnen in Europa zunehmend ihre Geschichte wiederentdeckten. Diese Wiederentdeckung und neue Auseinandersetzungen waren der Anknüpfungspunkt um Konferenzen zu organisieren, die Rabbinerinnen, Kantorinnen, Historikerinnen, Religionswissenschaftlerinnen, Aktivistinnen und interessierten Jüdinnen und Juden Raum zum Austausch bieten sollten. „Welche Auswirkung hat es auf die jüdische Tradition und Überlieferung, wenn Frauen gleichberechtigt mitbestimmen können?“ (S. 96) Wie diese Frage diskutiert wurde und ebenso den Verlauf der Bewegung kann dieser Beitrag aus der Perspektive der Protagonistinnen darlegen.

Im Kapitel Pressewesen eröffnen die Beiträge von Michael Nagel und Johannes Valentin Schwarz neue Perspektiven auf das Judentum und die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Diskursen. Der erste Beitrag nimmt den Blick der akademischen Welt – christlicher Gelehrter – im 18. Jahrhundert zum Ausgangspunkt einer Analyse von Selbst- und Fremdwahrnehmung und fragt, welches Bild von Juden es in Gelehrtendiskussionen gab, wie Juden in der akademischen Welt partizipierten und welche Interaktionen es zwischen Juden und christlichen Gelehrten gab. Wie das jüdische Pressewesen zur Re-formierung der jüdischen Gemeinschaft vor 1850 beitrug, ist Thema des Beitrags von Valentin Schwarz. Er konstatiert, dass die jüdische Presse in Europa bis ins letzte Drittel des 17. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, sich ein eigenes jüdisches Pressewesen aber erst im Zuge der Haskalah etablierte und mit dem Sprachwandel zum Hochdeutschen überregional agieren konnte.

Im nächsten Kapitel geht es um die Vertreibung und Ermordung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Gerald Lamprecht setzt sich mit Alfred Lüdtkes Konzept der NS-Herrschaft als „soziale Praxis“ (Lüdtke) anhand eines bislang nicht aufgearbeiteten Fallbeispiels zur Arisierung in der Steiermark auseinander: „Es geht um die Analyse des ‚sozialen Todes’ der jüdischen Bevölkerung vor Ort.“ (S. 165) Und so beleuchtet der Beitrag die vermeintliche Lücke zwischen den Verbrechen, über die die Bewohner/innen nichts gewusst haben wollen, und den Vorkommnissen rund um die Arisierung des Geschäfts der Familie Neufeld. Mit Arisierungs- und Gerichtsakten, die bereitwillige Schreiben von Interessent/innen zur Übernahme dokumentieren, ergänzt durch Unterlagen aus dem Privatarchiv der Familie Neufeld und Zeitungsartikel, gibt der Beitrag detailgenau Einblick in die Praxis der Besitzaneignung und kann aufzeigen, dass sich diese eben nicht im Stillen vollzog, sondern Teil eines öffentlichen (sozialen) Diskurses war.

Der Engerauer Prozess zu den Todesmärschen ungarischer Jüdinnen und Juden war im August 1945 der erste Prozess zu NS-Verbrechen in Österreich. Dem Hauptermittler, Johann Lutschinger, und seinem bestrebten und peniblen Sammeln von Beweisen an Tatorten, an denen Jüdinnen und Juden auf den Todesmärschen ermordet wurden, war eine rasche Anklage und die besondere Intensität dieses Prozesses zu verdanken. Claudia Kuretsidis-Haider stellt den bislang nur mit Namen bekannt gewesenen Ermittler vor und gibt Einblicke in die ersten Ermittlungen zu NS-Verbrechen: Unmittelbar nach Kriegsende wurde der zuvor als „jüdisch versippter Ehegatte“ vom Gendarmeriedienst entlassene Lutschinger wiedereingesetzt und mit den Ermittlungen betraut. Kuretsidis-Haider bringt Prozessprotokolle und Ermittlungsberichte zusammen und analysiert, wie aufgrund der Bemühungen Lutschingers, die Ermordung von 450 Personen, die in fünf Massengräbern am Engerauer Friedhof vergraben worden waren, in die Anklage aufgenommen wurde, und es ihm gelang, durch die Befragung von Zeug/innen, Leichen Ermordeter oder den Anstrengungen der Todesmärsche Erlegener entlang der Wegstrecke finden zu können.

„Nur die Gräber der Gruppe 19a am 4. Tor des [Wiener] Zentralfriedhofs, wo auch katholische Grabsteine neben jüdischen Gräbern zu finden sind, erinnern noch an diese Zeit“ (S. 214), ist das Resümee der Untersuchung von Michaela Raggam-Blesch. Diese zeichnet das Spannungsfeld der Verhandlungen von „Mischehen“ zwischen den jüdischen Gemeinden und dem späteren „Ältestenrat“ heraus. Dem prekären Leben in ständiger Ungewissheit fühlt Michaela Raggam-Blesch am Beispiel Wiens mit von ihr durchgeführten Interviews nach.

Ein abschließendes Kapitel zu „Erinnern und Gedenken“ eröffnet Marsha Rozenblit, die das Bild des „guten, alten Kaisers“ in Autobiographien, Romanen und Zeitungsberichten expliziert. Der Beitrag stellt drei Gründe als wesentlich für die Verehrung Kaiser Franz Josephs dar: Die Sicherheit, die Österreich-Ungarn bot; die Möglichkeit eine politische, kulturelle und ethnische ‚dreifach Identität’ zu leben und die vor Antisemitismus schützende Hand des Kaisers. Rozenblits Argument ist, dass – auch wenn viele der Autobiographien, in denen dieses Konstrukt des „guten, alten Kaisers“ so prominent heraussticht, erst nach 1945 entstanden – dieses Bild nicht erst eine Erfindung der Nostalgie nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Jüdinnen und Juden verehrten Franz Joseph bereits während seiner Regierungszeit.
Wie Video-Aufzeichnungen von Zeitzeug/innengesprächen im Schulunterricht Verwendung finden können, illustriert Werner Dreier an einem länderübergreifenden Projekt (zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz) zu Tablet-basierten Lernumgebungen. Der Beitrag fasst die Ergebnisse dieses Projektes zusammen: Anders, als etwa bei Videoprojektionen im Klassenraum, erlebten die Schüler/innen die Auseinandersetzung mit einem Interview am Tablet persönlicher.

Tania Reytan-Marincheshka gibt einen Überblick über konkurrierende Narrative in Bulgarien und der Balkanregion im Kontext der Ausprägung europäischer Geschichtsbilder. Aus autobiographischen Beobachtungen motiviert, hinterfragt der Beitrag die aktuell stattfindende ideologische Rückbesinnung auf Stereotype aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit vor dem Hintergrund einer stillgeschwiegenen Debatte über die Geschichte der Jüdinnen und Juden. Regionale Aspekte einer ambivalenten Auseinandersetzung mit Erinnerungen im öffentlichen Raum bietet Heimo Halbrainer. Am Beispiel der Steiermark zeigt sein Beitrag auf, wie einerseits Denkmäler für Widerstand, die zeitnahe nach 1945 gesetzt worden waren, als „Jugo-Mahnmal“ denunziert wurden und anderseits Denkmäler für die Opfer der Shoa und die zerstörten jüdischen Gemeinden bis in die 1980er-Jahre fehlten. Über seither stattfindende Initiativen zu Interventionen im öffentlichen Raum – von universitären Institutionen bis Schulklassen – bietet der Artikel einen rezenten Überblick.

Neben den hier eingehender besprochenen Beiträgen erstrecken sich die Themen auch über die Kriegswahrnehmungen jüdischer Soldaten im Ersten Weltkrieg (Dieter Hecht) und die „Aussiedelung, Konfinierung und Internierung“ von Italienern (Hans Hautmann) bis hin zu der Bedeutung „Auschwitzs“ als Synonym für die genozidalen Morde und die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus (Albert Lichtblau) oder der Tätigkeit von aus Wien Vertriebenen im US Secret Service bei den so genannten „Ritchie Boys“ (Siegfried Beer, Robert Lackner). Dem Buch gelingt es, vielschichtige Perspektiven auf rezente Beispiele zu werfen, nicht ohne sich dabei auch immer um generalisierbare Schlüsse zu bemühen. Das lesenswerte Sample deckt somit eine große Breite an aktuellsten Fragestellungen im Fach ab.

Anmerkungen:
1 Klappentext.
2Eleonore Lappin, Jüdische Moderne zwischen Partikularismus und Universalismus dargestellt anhand Martin Bubers Monatsschrift „Der Jude“ (1916–1928), Tübingen 2000; Dies. / Michael Nagel (Hrsg.), Frauen und Frauenbilder in der europäisch-jüdischen Presse von der Aufklärung bis 1945, Bremen 2007. Dies., Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte. Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen, 2 Bände, Bremen 2008. Dies., Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien 2010. Dies. / Albert Lichtblau (Hrsg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerungen. Jüdische Lebensgeschichten, Innsbruck 2008. Dieter Hecht / dies. / Michaela Raggam-Blesch, Topographien der Shoa. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien (mit einem Vorwort von Heidemarie Uhl), Wien 2015.

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