J. K. Noyes: Herder. Aesthetics against Imperialism

Cover
Titel
Herder. Aesthetics against Imperialism


Autor(en)
Noyes, John K.
Reihe
German and European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S., 10 Abb.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Maurer, Seminar für Kulturgeschichte, Universität Jena,

Wer mit den Meinungen früherer Herder-Leser an dieses Buch herantritt, reibt sich die Augen: Galt Herder nicht einmal als Nationalist und Zentrist? Vorläufer der Romantik und des deutschen Nationalismus? Der kanadische Germanist John K. Noyes situiert ihn nun im postkolonialen Diskurs und liest Herder als einen antiimperialistischen Denker.

So politisch das klingt, ist es doch nicht in erster Linie eine politische oder moralische Argumentation, die er uns vorführt. Seine Idee ist es, dass Herder durch seine Einsichten in das Erkenntnisvermögen des Menschen dazu veranlasst wurde, kulturspezifische Formen zu entwickeln, mit denen er gegen die Unterjochung und Überformung der Welt von Europa her, die er in seiner Epoche erleben musste, aufbegehren konnte. Mit Noyes zu sprechen: Es geht um eine Ästhetik als Konsequenz einer Epistemologie. Herders Aufbegehren gegen die Kolonialisierung der Welt, die Sklaverei und Unterdrückung zahlreicher Völker im Namen des Christentums und im Dienste des Kapitalismus verdankt sich, so die zentrale These des kanadischen Autors, nicht einer moralischen Empörung (obwohl es oft so klingt!), sondern vielmehr einer Strukturvoraussetzung seiner Theorie der Kultur und der Sprache.

In seinem ersten Kapitel „From Epistemology to Aesthetics“ interpretiert Noyes Herders Frühschriften und zeigt, wie die Auseinandersetzung mit Kant im „Versuch über das Seyn“ ihn auf den Weg einer „menschlichen Philosophie“ führt. Die Spannung zwischen logischen Universalien und sinnlicher Wahrnehmung akzentuiert die Poesie, in der Wahrheit ästhetisch darstellbar wird. Über den von Leibniz bezogenen Begriff der ‚Kraft‘ und Kants Geographie gelangt Herder an die Schnittstelle von Natur und Mensch, die Lebenswirklichkeit im Raum. Die geschichtliche Verwirklichung des Menschseins in klimatisch variierter Diversität bedingt die sprachliche Diversität, welche mit der logisch primären Vermittlung der Muttersprache zusammengesehen werden muss („Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen“). Die Zerstreuung der Menschheit seit dem Turmbau von Babel findet ihren Ausgleich im Entdeckungs- und Handelsgeist der Europäer, welche in neuerer Zeit eine globale Kommunikation hergestellt haben.

Im zweiten Kapitel „From Organic Life to the Politics of Interpretation“ geht es um die Entwicklungsmöglichkeiten körperlicher Existenz, die Herder in Anlehnung an die Naturwissenschaften seiner Zeit als organische zu verstehen sucht. Dabei hat er stets auch die Vermittlung des Individuellen und Kollektiven im Blick, die gesellschaftlichen Bedingungen menschlichen Lebens, welche Herder am frühesten in Sprache zu greifen vermag. Politische Ideen zeigen sich in den Überlegungen zum Publikum in der Antike. Das ‚Volk‘ wird als ‚Sprachnation‘ verstanden, was freilich über die politischen Einheiten und Organisationsformen noch nichts aussagt.

Das dritte Kapitel „From Human Restlessness to the Politics of Difference“ führt uns von den Aufbruchsaspekten des Reisejournals von 1769 zur Auseinandersetzung Herders mit Aspekten des Kosmopolitismus und der Wahrnehmung außereuropäischer Völker. Die Bewegung des Reisenden im Raum wird vertieft durch Befassung mit dem Reisen in der Zeit, mit Geschichte. Die Erfahrung der Differenz wird aufgenommen in einer theoretischen Verarbeitung kultureller Diversität.

Das vierte Kapitel „From the Location of Language to the Multiplicity of Reason“ nimmt seinen Ausgangspunkt von Herders Frage nach dem Ursprung der Sprache und dem komplementären Eindringen in die Geschichte. Schon hier zeigt sich ein heftiger Affekt gegen den Imperialismus, der durch die Begegnung mit Raynal und Forster um die Erfahrungen der Reisenden und Reiseschriftsteller erweitert wird. Die geographischen Varianten des Menschlichen werden konzeptionell einbezogen in eine Philosophie der Geschichte.

Im fünften Kapitel „From Human Diversity to the Politics of Natural Development“ bearbeitet Noyes die treibenden Kräfte unter Bezug auf Blumenbachs ‚Bildungstrieb’ (nisus formativus). Herder mühte sich ab mit der Dialektik von Naturgeschichte und Entwicklung der menschlichen Kultur. Das Zusammenwirken der Menschen im Prozess der Kultur ergibt ja nicht automatisch einen harmonischen Ausgleich; vielmehr ging es für Herder darum, die Grundbedingung der Ruhelosigkeit und des Wandertriebes der Völker in eine Sinnperspektive zu rücken, die gleichwohl die Vielfalt der Erscheinungen nicht überformen sollte. Er setzte dabei auf ‚Nation‘ anstelle von ‚Staat‘, verurteilte die Eroberungen und sprach sich gegen den Begriff ‚Rasse‘ (in Bezug auf Menschen) aus. Seine modifizierte Vorstellung von der Bedeutung des ‚Klimas‘ erlaubte es ihm, Umweltbedingungen menschlichen Lebens einzubeziehen, ohne sie als determinierend zu interpretieren. ‚Klima‘ wird, so gesehen, zur Rechtfertigung von Diversität.

Das sechste Kapitel „The Aesthetics of Revolution and the Critique of Imperialism“ stellt die Verbindung der philosophischen Grundanschauungen Herders mit der lockeren textlichen Form her, welche er in seinem Spätwerk bevorzugte („Zerstreute Blätter“, „Humanitätsbriefe“, „Adrastea“). Weil der Mensch ein sinnliches Wesen ist, kann man ihm nicht durch ‚reine Vernunft‘ gerecht werden. Als sehendes, hörendes und fühlendes Wesen benötigt er Zeichen, ansprechende Produkte, Bilder. Die schwierigen und widersprüchlichen Erscheinungen der Kulturwelt sind deshalb letztlich nur damit erreichbar, dass man den Menschen als homo symbolicus ernst nimmt, ihm Bilder und interpretierbare Zeichen für seine Weltdeutung liefert. Die ästhetische Fähigkeit des Menschen wird von daher zum wesentlichen Kennzeichen und zur privilegierten Form seiner Humanität. Hierher gehören dann die berühmten „Neger-Idyllen“, der irokesische Mythos „Zum ewigen Frieden“ und andere Texte der späten Humanitätsbriefe, in denen Herder diese Konzeption verwirklicht.

In seinem Schlusskapitel spitzt Noyes sein Thema nochmals auf einige Grundbegriffe zu (Sprache, Geschichte, Humanität, Willensfreiheit, Universalvernunft) und tritt in einen direkten Dialog mit Theoretikern des Postkolonialismus (Dipesh Chakrabarthy, Achille Mbembe, Gayatri Chakravorti Spivak). Dabei erweist es sich, dass theoretische Probleme, mit denen sich einst Herder auseinandersetzte, auch in der aktuellen Situation noch ebenso virulent sind und dass praktische Darstellungslösungen, die er einst erprobte (Dichtung, Dialog), ihre Bedeutung als Alternativen zur abendländischen Universalvernunft bis heute nicht verloren haben.

Die Herder-Studie des kanadischen Germanisten John K. Noyes argumentiert wesentlich philosophie- oder geistesgeschichtlich, freilich unter Einbeziehung zahlreicher heterogener Werke Herders. Ausgeblendet ist hier die theologische Seite, die freilich auch zu Herder gehört. Während der Autor in einem engen Diskussionsverhältnis mit anderen englischsprachigen Autoren steht, ist die deutsche Herder-Forschung hier in den Hintergrund gerückt. Entstanden ist ein profundes, quellennahes Werk philosophischer Interpretation, in dem sich erweist, dass Herders Bedeutung für den aktuellen Diskurs der Globalgeschichte und des Antiimperialismus von überraschender Aktualität ist.

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