Cover
Titel
Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom


Herausgeber
Esposito, Fernando
Reihe
Nach dem Boom
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
280 S., 6 SW-Abb.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hannah Ahlheim, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Nach dem 11. September 2001 sei ihm endgültig bewusst geworden, dass „wir uns in einer völlig anderen Temporalität befanden“ (S. 258), erklärt der Literaturwissenschaftler und Publizist Hans Ulrich Gumbrecht in einem Interview. „[H]inter dem Rücken“ (S. 256) der Intellektuellen habe sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein neuer „Chronotop“ etabliert, der nun die Zeitwahrnehmung bestimme. „In diesem Chronotopen“ sei die „Zukunft kein offener Horizont für Möglichkeiten mehr“, sondern „gefüllt mit Gefahren“. Die Vergangenheit dagegen lasse man nicht mehr hinter sich, sie „überschwemme“ vielmehr „aggressiv“ die nun „breite Gegenwart“ (ebd.).

Das Gespräch mit Gumbrecht schließt einen Band ab, in dem der Herausgeber Fernando Esposito Beiträge über „Veränderungen der Zukunfts-, Gegenwarts-und Vergangenheitsverständnisse und -verhältnisse“ (S. 9) westlicher Gesellschaften in den 1970er- und 1980er-Jahren versammelt hat. Es ist ein ungewöhnlicher, aber durchaus gelungener Abschluss. So bestätigt Gumbrechts autobiographische Erzählung die Überlegungen der Beiträgerinnen und Beiträger, die für die Jahre „nach dem Boom“ in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen einen „Zeitenwandel“ ausmachen. Vor allem aber lässt das Interview noch einmal ein zentrales methodisches, für die Zeitgeschichte freilich typisches Problem sichtbar werden, dem sich der Sammelband stellt: Viele der immer wieder zitierten Zeitexperten wie Gumbrecht1 sind gleichzeitig auch Zeitzeugen; die „Verwandtschaft zwischen Fragendem, Frage und Befragtem“ (Esposito, S. 24) ist eng und unauflösbar.

Um den komplexen „Zeitenwandel“ auf unterschiedlichen Ebenen nachzuvollziehen, nimmt ein Teil der Aufsätze konkrete Fallbeispiele in den Blick. Die Beiträge von Silke Mende und Elke Seefried zum Wandel von Zukunftsvorstellungen im grün-alternativen Milieu bzw. in der SPD knüpfen dabei direkt an die inzwischen etablierte Erzählung eines „Strukturbruchs“ in den 1970er-Jahren an.2 Ausgehend von Michael Endes millionenfach verkaufter Erzählung über Momo und die „Zeit-Diebe“3 kann Mende überzeugend zeigen, dass bestimmte Zeit- und Zukunftsvorstellungen anschlussfähig waren, weil sie aktuelle gesellschaftliche Konflikte, Phantasien und Ängste aufgriffen. Mit dem Ölpreisschock sowie der Angst vor Atomkraft, Atomkrieg und Umweltzerstörung seien zwei „Kernkategorien modernen Denkens“, die „Zukunft“ und der „Fortschritt“, auf den Prüfstand gestellt worden (S. 189), die auch in Endes populärer Erzählung verhandelt wurden. Ganz ähnlich argumentiert Seefried: Die SPD habe sich seit ihrer Gründungszeit im 19. Jahrhundert als „Partei der Zukunft“ verstanden und inszeniert. Dieses Selbstverständnis sei schon vor der Ölkrise zu Beginn der 1970er- Jahre ins Wanken geraten, als die „Schattenseiten industriellen Wirtschaftens und Lebens“ unübersehbar geworden seien (S. 204). Aus der Krise des alten, fortschrittsorientierten Zukunftsmodells habe schließlich die neu justierte und umstrittene Agenda-Politik einen Ausweg bieten sollen.

Lukas J. Hezel zeigt am Beispiel der „No Future“-Revolte 1980/81 in der Bundesrepublik Deutschland die Relevanz von Zeitvorstellungen für soziales Handeln auf. Er liest die Aktionen der Jugendlichen, die mit ihren radikalen Parolen, ihrer wütenden Musik und Hausbesetzungen Aufmerksamkeit erregten, als „Symptom“ eines „Chronotopenwandels“ (S. 149). Der Slogan „No Future“ habe ein „Lebensgefühl der anhaltenden existenziellen Bedrohung durch ein ganzes Arsenal realistisch erscheinender Weltuntergangsszenarien“ (S. 143) ausgedrückt, die zudem auf eine „erstarrte“, in Beton gegossene Gegenwartsgesellschaft zuzukommen schienen. Durch ihren „militanten Präsentismus“ (S. 151) hätten die Jugendlichen die Erstarrung für einen Moment aufbrechen und Handlungsmacht zurückerobern wollen.

Diese Beiträge können überzeugend belegen, dass Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft zwar „sozial“ konstruiert sind, gleichzeitig aber durchaus Wirkungsmacht entfalten. Gleiches gilt für den Aufsatz von Tobias Becker, der die sogenannte „Nostalgie-Welle“ der 1970er- und 1980er-Jahre analysiert. Als Beispiele für das von den Medien intensiv begleitete neue Interesse an der Vergangenheit in der Bundesrepublik führt er etwa den Denkmalschutz an, den Erfolg von historischen Museen und Großausstellungen sowie populäre Filme, Musik und Mode. Allerdings überlegt Becker auch, ob nicht doch eher die „modernisierungsoptimistischen, geschichtsvergessenen fünfziger und sechziger Jahre“ die „eigentliche Anomalie“ darstellten und die Beschäftigung mit Vergangenem in den 1970er-Jahren so erstaunlich erschienen ließen (S. 116).

Im letzten Teil seines Beitrags geht Becker noch auf ein für das Thema des Bandes zentrales methodisches Problem ein. Die aktuellen Positionen einer Geschichte der Zeit kämen im Falle der „Nostalgie“-Debatten, so Becker, „kaum über die [Positionen] der siebziger und achtziger Jahre“ hinaus (S. 114). Das „Zeit-Denken“ dieser Jahre stelle ein „Theorieangebot“ bereit, „das nach wie vor Relevanz und Überzeugungskraft besitzt“ (S. 116). So tauchen etwa Reinhart Kosellecks grundlegende Texte in den meisten der hier versammelten Aufsätze an zentraler Stelle auf, Gumbrechts „breite Gegenwart“, Hartmut Rosas „soziale Beschleunigung“ und Aleida Assmanns Diagnose vom Ende des „Zeitregimes der Moderne“ stehen neben Niklas Luhmann, Norbert Elias, Helga Nowotny und den Debatten um die „Posthistoire“ der französischen Strukturalisten. Gleichzeitig jedoch können beispielsweise Kosellecks Texte eben immer auch als „Selbstbeschreibung der 1970er Jahre“ gelesen werden (Becker, S. 106) – die Experten sind zugleich Zeugen des Umbruchs. Eine Geschichte der Zeit setzt sich also nicht nur mit einer bisher viel zu wenig beachteten Grundkategorie ihrer Wissenschaft auseinander. Sie muss sich auch selbst „historisieren“ und ihren eigenen Textkanon als Quellen lesen.

Esposito spricht dieses methodische Problem schon in der Einleitung an. In einem „Parforceritt“ durch Theorien zu Zeit und Geschichte von Koselleck über Luhmann und Foucault bis Rosa diskutiert er den Zusammenhang von historischem Denken mit Konzeptionen von „Moderne“ und „Fortschritt“. Das neue Interesse an der Zeit in den 1970er- und 1980er-Jahren interpretiert er als Folge einer „zweiten Krise des Historismus“ (S. 52ff.). Der Glaube an den Fortschritt geschichtlicher Zeit sei angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen „nach dem Boom“ ebenso ins Wanken geraten wie die nun als eurozentristisch enttarnte Vorstellung einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auf dem einen Weg in die Moderne. Ähnlich weist auch Chris Lorenz im nachfolgenden Artikel darauf hin, dass das chronologische Denken, Ordnen und Erzählen der Geschichtswissenschaft „als Zwillingsbruder der Moderne“ (S. 75) verstanden werden müsse. Schon die für die Geschichtswissenschaft konstitutive Idee einer Periodisierung sei kaum zu trennen von der Annahme einer fortschreitenden oder gar fortschrittlichen Geschichte.

Über einen Ausweg aus diesem Dilemma denkt Achim Landwehr nach. Er zeigt beispielsweise auf, dass das biographische, körperliche Zeiterfahren zwar eine lineare Geschichte von der Geburt bis zum Tod nahelege. Gleichzeitig verwiesen aber gerade körperliche, biographische Zeiten darauf, dass der Mensch in seinem Alltag ständig unterschiedliche Zeitsysteme miteinander synchronisieren müsse. Mit der an Luhmanns Überlegungen anschließenden Idee der „Chronoferenzen“ deutet Landwehr die Möglichkeit einer Neukonzeption an: Vergangenheit und Zukunft müssten interpretiert werden als in der jeweiligen Gegenwart entstandene und damit je nach Situation veränderbare „Entwürfe“ zur Auseinandersetzung mit der „zeitlich abwesenden Umwelt“ (S. 243). Doch so präsent „Pluritemporalität“ auch sei: Die Geschichtswissenschaft habe dafür bisher kein theoretisches Konzept entwickelt (S. 233).

Die Schwierigkeit – und vielleicht auch Unmöglichkeit –, sich aus temporal geordneten Erzähl- und Denkmustern zu lösen, wird auch beim Lesen dieses Sammelbandes deutlich, obwohl – oder gerade weil – die Autorinnen und Autoren insgesamt sehr behutsam und bewusst mit methodischen Implikationen umgehen. So hinterfragen sie zwar durch die Betonung des Bruchs in den 1970er- und 1980er-Jahren die „Fortschrittsgeschichte“ der Moderne. Gleichzeitig lässt sich die Erzählung von der Zäsur der 1970er-Jahre und einer neuen Ära „nach dem Boom“ aber nahtlos in eben diese Geschichte einfügen. Auch drängt sich bei der Lektüre immer wieder der Eindruck auf, die von den damaligen Zeitgenossen geprägten Begriffe träfen dann doch irgendwie einen „Zeitgeist“. Da klopft der vielfach kritisierte, aber vielleicht weiterhin bedenkenswerte Kollektivsingular „der“ Zeit hörbar an die Hintertür.

Indem die Autorinnen und Autoren diese Fallstricke offenlegen und schon die Einleitung deutlich macht, dass eine „Lösung“ dieses grundlegenden erkenntnistheoretischen Problems (S. 24) kaum geboten werden kann, erreicht der Band ein selbstgestecktes Ziel: „Irritation“ im besten Sinne (S. 25). Nur so könne verhindert werden, dass sozial Gemachtes zur „Natur“ werde und „damit als So-Seiendes nicht mehr befragt werden“ könne (Landwehr, S. 253). Angesichts der „Zwillingsbruderschaft“ von moderner Zeitlichkeit und Geschichtswissenschaft bleibt die „Aufklärung der Aufklärung“ unsere Aufgabe – das konsequente Hinterfragen und Historisieren der Begriffe und Vorstellungen, aus denen wir, in Espositos Worten, die „temporale Bühne“ (S. 59) der Geschichte zimmern.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010, 2. Aufl. 2015.
2 Grundlegend: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, 3., ergänzte Aufl. 2012.
3 Michael Ende, Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman, Stuttgart 1973.