K. Acham: Vom Wahrheitsanspruch der Kulturwissenschaften

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Titel
Vom Wahrheitsanspruch der Kulturwissenschaften. Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Weltanschauungsanalyse


Autor(en)
Acham, Karl
Erschienen
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dariusz Aleksandrowicz, Philosophische Grundlagen kulturwissenschaftlicher Analyse, Europa-Universität Viadrina

Der Haupttitel der umfangreichen Aufsatzsammlung kann eventuell Missverständnisse evozieren, die man gleich vorweg ausmerzen sollte: Sie setzt sich nicht mit den Kulturwissenschaften in der derzeit aktuellen Bedeutung von „cultural studies“ auseinander; ihr Hauptthema bildet nicht das Problem der „Wahrheit“, gekoppelt an Überlegungen, inwiefern die Kulturwissenschaften befähigt sind, für ihre Erkenntnisleistungen das entsprechende Prädikat zu beanspruchen. „Kulturwissenschaften“ werden dort im traditionellen Sinne verstanden, der diesen Ausdruck etwa auf die Summe der geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen bezieht. Die im ersten Kapitel enthaltene Behandlung der Wahrheitstheorien ist für die weiter folgenden Teile des Buches inhaltlich nicht unbedingt maßgebend. Es verspricht eine systematische Darstellung der Wahrheitsfrage, stellt sich aber unter diesem Blickwinkel als etwas lückenhaft heraus. Die pragmatische Wahrheitstheorie wird in Übereinstimmung mit ihrer populären Interpretation, die ihr eine simple Gleichsetzung von Wahrheit und dem praktischen Nutzen unterstellt, erörtert (S. 37f.). In Wirklichkeit ist aber dieses Konzept um einiges inhaltsreicher und interessanter als es jene populäre Auslegung glauben machen möchte. In der Darstellung wird die Theorie von Tarski gar nicht erwähnt. Sie war aber bahnbrechend für die gesamte Wahrheitsdebatte, weil es ihr gelungen war, das seit der Antike bekannte „Lügnerparadox“ zu beseitigen, das bislang einen logisch schlüssigen Umgang mit den Ausdrücken „wahr“/“falsch“ getrübt hat. Zwar ergänzte Tarski seinen Wahrheitsbegriff mit dem Zusatz „in den formalisierten Sprachen“1 und schränkte dadurch seine Anwendbarkeit auf bestimmte Typen von sprachlichen Äußerungen ein. Doch ist die in den Geistes- sowie Sozialwissenschaften verwendete Sprache formalisiert genug, um der für diese Theorie entscheidenden Unterscheidung zwischen Objektsprache (<Es regnet>) und Metasprache (<„Es regnet“ ist wahr/falsch>) Rechnung zu tragen. Schließlich enthält auch das ontologische Wahrheitskonzept etwas mehr als das, was darüber in dem Buch knapp berichtet wurde (S. 38f.). Das wird deutlich, sobald man sich bei der Darstellung dieses Konzepts nicht ausschließlich auf Platon konzentriert, sondern insbesondere die auf Hegel zurückgehende Tradition berücksichtigt. Gerade in Anbetracht des in einem späteren Kapitel des Buches behandelten Zusammenhangs zwischen dem Verständnis von Wahrheit und dem religiösen sowie politischen Fundamentalismus wäre es vom Nutzen gewesen, jene Aspekte des ontologischen Konzepts in Betracht zu ziehen.

Weil nun das Buch aus eigenständigen Abhandlungen besteht, wird der Gewinn, mit dem man einzelne von ihnen lesen kann, durch die in dem einen oder anderen Kapitel identifizierbaren Defizite nicht geschmälert. Die 15 Aufsätze vermitteln das Bild der sehr breit gestreuten Interessen und Kompetenzen, die der Autor mit dieser Sammlung präsentiert. Denn wenn auch in allen dieser Texte auf die Kulturwissenschaften Bezug genommen wird, sind es immerhin unterschiedliche Themen, auf die sich jeweils die Debatte konzentriert. Wegen der gebotenen Kürze dieser Rezension werde ich nur auf einige der in dem Buch versammelten Abhandlungen eingehen.

Obwohl diese Besprechung mit kritischen Bemerkungen über das erste Kapitel begonnen wurde, möchte ich betonen, dass auch dieses Kapitel in anderer Hinsicht interessante Aspekte enthält. Damit meine ich hauptsächlich das letzte Unterkapitel („Institutionelle Hemmnisse wissenschaftlicher Wahrheitsfindung“) sowie die darauf folgenden Schlussbemerkungen. Dort wendet sich der Autor dem Problem der sogenannten „unternehmerischen Hochschule“ kritisch zu. Er vergleicht unter anderem die dafür essentielle Institution der „grants“ mit dem Bankkredit und kommt zum Schluss, dass die Praxis einer scheinbar den unternehmerischen Prinzipien untergeordneten Universität die auf dem realen Mark wirkenden Koordinationsmechanismen gar nicht abbildet, sondern ihnen geradezu widerspricht.

Im folgenden Kapitel („Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute?“) kontrastiert der Autor die Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften und macht den in den Geisteswissenschaften hoch im Kurs stehenden „Methodenpluralismus“ für die dort vorhandene Tendenz zur methodologischen Beliebigkeit verantwortlich (S. 70f.). Das Kapitel schließt ab mit einem Katalog der sich aus der aktuellen Situation ergebenden Forschungsfragen, die die Kulturwissenschaften in Angriff zu nehmen hätten (S. 86ff.).

Im achten Kapitel („Über vermeintlich Unvergleichbares“) setzt sich der Autor sowohl mit dem Kulturrelativismus als auch mit dem radikalen Universalismus kritisch auseinander. Die hauptsächlich an Merton angelehnte Kritik des Relativismus (S. 213ff.) führt zur Behauptung, dass der Kulturrelativismus mit dem Kulturdeterminismus einherginge.

Das darauf folgende Kapitel wirkt inhaltlich etwas heterogen. Der Autor fängt mit abstrakt-philosophischen (sowie ein wenig antiquierten) Fragen über „Schein und Wirklichkeit“ (so auch die Überschrift) an und geht dann zu der durchaus „profanen“ Frage nach der relativen kausalen Bedeutsamkeit von politischen und ökonomischen Einflussfaktoren in der gegenwärtigen Gesellschaft über.

Das nächste Kapitel mit der Überschrift „Die analytische Geschichtsphilosophie und ihr Nutzen“ kann wohl als der Schlüsseltext des ganzen Buches eingestuft werden. Auf einem hohen Niveau von theoretischer sowie ideengeschichtlicher Kompetenz wird dort ein breites Spektrum von Material systematisch und klar bearbeitet. Es wird dort unter anderem das Problem des Kulturrelativismus wieder aufgegriffen, das schon weiter oben im Buch behandelt wurde. Im Vorwort hat der Autor darauf hingewiesen, dass es wegen der auf separate Aufsätze zurückgehenden Struktur des Buches gewisse Redundanzen zwischen einzelnen Kapiteln geben kann. Dergleichen fällt aber dem Leser weder an dieser noch an irgendeiner anderen Stelle negativ auf. Die gegebenenfalls wiederholt angesprochenen Themen tauchen jeweils in einem spezifischen Kontext sowie mit der dadurch bedingten Berechtigung auf.

Ein Beispiel für solcherart nur vermeintliche Redundanz bildet Kapitel 14, in dem Fragen der Wahrheit und der Wissenschaft, von denen schon im ersten Kapitel die Rede war, erneut angegangen werden. Der Fokus liegt aber diesmal auf dem Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Rationalität mit der für sie bezeichnenden Auffassung von Wahrheit und dem politischen sowie religiösen Fundamentalismus, denen wiederum auch ein eigentümliches Verständnis der Wahrheit zugrunde liegt. Die Bezugnahme auf Wahrheit und Wissenschaft erfolgt diesmal, im Unterschied zum ersten Kapitel, nicht nur vor dem Hintergrund einer schärfer umrissenen Problemsituation. Ansonsten sind die Ausführungen zu den beiden Themen im Prinzip interessanter als das, was man darüber in dem anderen Kapitel finden kann. Vom anderen Ende aus betrachtet ist Kapitel 14 mit dem dritten Kapitel („Religiöses und historisches Bewusstsein“) inhaltlich verwandt. Es werden dort unter anderem solche Themen wie Religion versus Wissenschaft, religionskritisches Potential der Kulturwissenschaften, Religion und politische Ordnung behandelt. Anstatt aber redundant zu sein, ergänzen diese Kapitel einander vielmehr und sind beide hochgradig interessant.

Das letzte Kapitel („Geschichtlicher Wandel, kulturelles Erbe und die Funktion der Kulturwissenschaften“) plädiert für historisch orientierte Kulturwissenschaften, die der Wahrheitssuche sowie der Skepsis gegenüber bestimmten Gegenwartsgewissheiten, dafür aber keiner festgelegten Methode verpflichtet sind. Außerdem wird dort über einige Aspekte der zu „cultural studies“ gewandelten Kulturwissenschaften kritisch reflektiert. Die Diskussion erfolgt mit Bezug auf die derzeit akuten Probleme der Massenmigration nach Europa und des damit verknüpften Zusammenpralls von Kulturen.

Das Buch von Karl Acham ist nicht nur für die individuelle Lektüre empfehlenswert: Die Aufsatzsammlung eignet sich auch gut als Grundlage für akademische Lehrveranstaltungen, die ideengeschichtlichen, wissenschaftssoziologischen sowie wissenschaftstheoretischen Fragen der Geistes- und Sozialwissenschaften nachgehen.

Anmerkung:
1 Alfred Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, in: Studia Philosophica 1 (1936), S. 261–405.

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