Olga Medvedkova (Hrsg.): Pierre le grand et ses livres

Titel
Pierre le Grand et ses livres. Les arts et les sciences de l'Europe dans la bibliothèque du Tsar


Herausgeber
Medvedkova, Olga
Erschienen
Anzahl Seiten
747 S.
Preis
€ 240,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Michel Espagne, Labex TransferS, ENS/CNRS, Paris

Seit mehr als einem Jahrzehnt hat eine kleine Forschergruppe unter der Leitung der Kunsthistorikerin Olga Medevedkova an der Untersuchung der Bibliothek Peters des Großen gearbeitet. Es ging nicht nur darum, alle Bücher zu sammeln, die als Bestandteile dieser Bibliothek erkannt werden können. Die meisten dieser Bücher kennzeichnen handschriftliche Randbemerkungen, die zu einer Zeit aufgeschrieben wurden, als Peter sich mit seinen urbanistischen Plänen in Sankt Petersburg befasste. Die Forscher waren also mit einem durchaus unüblichen Gegenstand konfrontiert, was für die Ausführung des Projekts besondere Schwierigkeiten mit sich brachte. Es geht eben nicht um eine Bibliothek, wie es sie im 17. und 18. Jahrhundert vielerorts gab, die als fürstliche Büchersammlung die Pracht des Herrschers zu inszenieren hatte. Diese Bibliothek besteht im Gegenteil aus Büchern, die zum persönlichen Gebrauch des Kaisers dienten. Er verwendete sie im Alltag. Es geht außerdem um aus den verschiedenen europäischen Ländern importierte Bücher, die im russischen Kontext ihre eigentliche Bestimmung fanden und einer systematischen Umdeutung unterzogen wurden. Manche wurden von dem Fürsten Boris Kurakin erworben, der für die Bibliothek des Zaren sorgte.

Bis dahin gab es ja in Russland wenige Druckereien und wenig Bücher aus dem Westen. Diese Bücher wurden letztendlich von einem Zaren benutzt, der das Land reformieren und das früher unzugängliche russische Territorium zum westlichen Europa hin öffnen wollte. Ein Einfluss des Westens war nicht nur erhofft, sondern wurde zweckgerichtet angebahnt. Die meisten Bücher sind mit Kupferstichen oder gar Kupferstichsammlungen illustriert. Diese Stiche beziehen sich mehrheitlich auf zivile und militärische Architekturformen einschließlich der Schiffsarchitektur. Und diese Darstellungen wurden gesammelt, als Peter der Große eine neue Armee, eine neue Flotte und eine neue Hauptstadt gründen wollte.

Deshalb lässt sich die Büchersammlung des Zaren kaum mit zeitgenössischen Sammlungen vergleichen und jeder Bestandteil (jedes Exemplar, jeder Band) ist ein Einzelfall. Diese Einzigartigkeit hat damit zu tun, dass jeder Bestandteil zahlreiche Lesespuren trägt, die auf die Verwendung durch den Zaren zurückzuführen sind.

Die erstaunliche Komplexität der Sammlung, die Anlass zu zahlreichen Übersetzungen ins Russische gab, konnte durch den methodischen Ansatz der Kulturtransferforschung erschlossen werden. Beobachtet wird für jeden Bad die Geschichte der Einfuhr nach Russland sowie die semantische Sinnverschiebung des Inhalts. Die Forschergruppe hat die überlieferte Bibliothek unter die Lupe genommen und nur die Bände berücksichtigt, von denen man mit Sicherheit behaupten konnte, dass sie nachweislich im direkten Besitz Peters gewesen sind. Nach Auswertung verschiedener Quellen entsprachen nicht weniger als 286 Bände diesen Anforderungen.

Dann musste eine materielle Beschreibung unternommen werden, die zahlreiche Detail erhellt und sowohl die Entstehung des Werkes wie auch jede Spur eines Gebrauchs oder einer Lesetätigkeit rekonstruiert. Der reiche Illustrationsteil des Bandes zeigt die spezifische Gestalt jedes Bandes.

Die kostbarsten Inhalte der Büchersammlung sind gerade die Lesespuren, die die Arbeit des Zaren dokumentieren. Manchmal haben wir es direkt mit neue Quellen zum Verständnis der Persönlichkeit des Herrschers zu tun. Manchmal wird man geradezu aufgefordert, den Prozess zu erkennen, der zur Europäisierung Russlands führte, und damit auch fordert, die verschlissenen Denkmuster auf diesem Gebiet zu überwinden. Gerade diese Fragestellung deckt ein tiefes Trauma der russischen wie der gesamteuropäischen Geschichte auf.

Die Autoren der wissenschaftlichen Beiträge, die die Reproduktion und Autopsie der einzelnen Bände begleiten, erhellen unter verschiedenen Gesichtspunkten diese historische Quelle, die mit dem vorliegenden Band dem französischsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht wird. Sie bemühen sich, die Verhaltensweise von Peter im Alltag zu erschließen und beschreiben insbesondere seine Beziehung zur Kultur und Architektur seiner Zeit und zu den Kunstgegenständen. Zwei Konferenzen (2006 und 2007) haben schon eine erste Auswertung dieser Materialien in Gang gesetzt. Sie haben aber das Forschungsfeld keineswegs erschöpft.

Wer in dem Werk blättert, findet Präsentationen von Büchern in alphabetischer Reihenfolge mit jeweils einer mehr oder weniger langen Liste von Randbemerkungen. Wie die Bücher selbst sind die Randbemerkungen in mehreren europäischen Sprachen geschrieben. Insgesamt überwiegen die Publikationen in englischer, französischer, italienischer, deutscher und niederländischer Sprache. Die Konstruktion einer russischen Kultur ist das bestimmende Ziel. Die Geschichte des jeweiligen Exemplars erklärt, über welche Umwege jeder Band in den Besitz des Zaren kam. Die Qualität jeder Reproduktion ist beeindruckend und erklärt auch, warum der Band so teuer verkauft wird. Die Buchautoren, die in dem Katalog aufgelistet werden, sind nur dem Leser mit einschlägiger Ausbildung bekannt. Wichtig werden sie dem Kulturhistoriker nur deshalb, weil sie den geistigen Hintergrund des russischen Herrschers besser erhellen, als es bislang möglich war, und einen direkten Zugang zum Aneignungsprozess europäischer Modelle vermitteln. Wir haben es mit einem methodischen Ansatz zu tun der auf andere Bibliotheken angewandt werden könnte, wenn sie die Funktion einer geistigen Werkstatt zur Aneignung fremden Gedankenguts erfüllen. Insofern erweitert der hier praktizierte Ansatz den Werkzeugkasten der Kulturtransferforschung. Folglich darf dieses Werk in keiner kunsthistorischen, kulturhistorischen, oder auf Slawistik orientierten Bibliothek fehlen.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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