J. v. Ungern-Sternberg: Les chers ennemis

Cover
Titel
Les chers ennemis. Deutsche und französische Altertumswissenschaftler in Rivalität und Zusammenarbeit


Autor(en)
Ungern-Sternberg, Jürgen von
Reihe
Collegium Beatus Rhenanus 7
Erschienen
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Die umfangreichen Beziehungen von französischer und deutscher Altertumswissenschaft stellen ein schmerzliches Desiderat der Forschung dar. Einer der wenigen, der sich dieser Thematik angenommen hat, ist der Althistoriker Jürgen von Ungern-Sternberg. Fast 30 Jahre lang wirkte der 1940 in Schneidemühl im heutigen Polen (Piła) geborene Verfasser an der Universität Basel, ehe er 2007 emeritiert wurde. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören neben der römischen Republik wissenschaftsgeschichtliche Aspekte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.1 Wie es auch der Titel „Die lieben Feinde“ ausdrückt, steht das komplexe Geflecht zwischen den rivalisierenden und kooperierenden Gelehrten beider Länder im Mittelpunkt der versammelten Beiträge. Das Werk trägt den Charakter von „Kleinen Schriften“, was durch ein Publikationsverzeichnis mit rund 200 Einträgen unterstrichen wird (S. 293–301). Dementsprechend besteht der Inhalt in der Mehrzahl aus älteren Veröffentlichungen, die in der einen oder anderen Weise um das Leitmotiv kreisen und wieder abgedruckt werden.

Nach einem einleitenden Vorwort setzt die Studie mit einer Hommage an von Ungern-Sternbergs Mitstreiterin Ève Gran-Aymerich (geb. 1947) ein. Die bilingual vorgetragene Würdigung zeigt die wissenschaftshistorischen Verdienste der Archäologin auf und steht stellvertretend für die Fruchtbarkeit grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Ein Rückblick auf „Deutsche und französische Altertumswissenschaftler vor und während des Ersten Weltkriegs“ schließt sich an. Ausgehend von Theodor Mommsen und Numa Denys Fustel de Coulanges, den führenden Fachvertretern ihrer Länder, werden die Dominanz von zeitbedingten patriotischen Stereotypen sowie der Gegensatz zwischen Sprach- und Willensnation aufgezeigt. Einer ähnlichen Dialektik ist „Der deutsche Blick im 19. Jahrhundert auf Vercingetorix – der französische auf Arminius und Varus“ gewidmet. Untersucht wird, wie die beiden nationalen „Freiheitshelden“ von der jeweils anderen Seite betrachtet werden. Die folgenden beiden Publikationen sind vor 20 Jahren in einem gemeinsamen Band erschienen und thematisch als Einheit zu sehen. Als „Gastautor“ tritt von Ungern-Sternbergs Freund Jean-Michel David (geb. 1947) auf, der der Darstellung der römischen Klientel-Beziehungen in den Schriften von Niebuhr, Mommsen, von Premerstein, Max Weber, Gelzer, Bleicken, Christian Meier und Fustel de Coulanges nachgeht. Demnach sei eine juristisch dominierte Ära im 19. Jahrhundert von der sozialgeschichtlich geprägten Epoche des 20. Jahrhunderts zu unterscheiden. Dieser substantielle Aufsatz in französischer Sprache wird im Anschluss durch einige Kommentare des Baseler Emeritus ergänzt.

Es folgt eine Analyse, wie die Althistoriker Gaston Boissier, Matthias Gelzer und Eugen Täubler die gesellschaftlichen Strukturen der römischen Republik beschrieben. Dabei verortet der Autor zielsicher das Geschichtsbild des Franzosen in der Welt der Pariser Salons, Gelzers in den aristokratischen Zirkeln der Schweizer Kantone und die Vorstellungen des jüdischen Gelehrten in dem Kosmos der Provinz Posen. Nach dem Abdruck zweier kurzer Rezensionen zur Schulbuchentwicklung und zur „École française de Rome (1873–1940)“, wird intensiver auf das Verhältnis von Theodor Mommsen zu Frankreich eingegangen. Dort schätzte man den Nobelpreisträger sehr, und auch Mommsens Auftreten gegenüber dem westlichen Nachbarn war von Respekt und Zurückhaltung geprägt. Freilich belastete der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 die bilateralen Beziehungen schwer und beförderte gegenseitige Ressentiments. Nicht singulär für die gespaltene Mommsen-Rezeption jenseits des Rheins stand das Zitat von René Pichon von 1915: „Nous admirerons en lui le professeur d’histoire romaine, – mais nous détesterons le professeur de brutalité germanique.“ (S. 157) Den 60 Jahre andauernden wechselseitigen Kontakten geht auch der nächste Artikel zu „Mommsen in Frankreich“ nach. Es wird verdeutlicht, dass die Koryphäe nicht nur durch seine Hauptwerke zur römischen Geschichte, sondern auch als Epigraphiker höchste Anerkennung genoss, was freilich den entschiedenen Widerspruch gegen die Idealisierung Caesars mit einschloss. Straßburg als Fluchtpunkt von Mommsens Aktivitäten wird anschließend in den Blick genommen.2 Wie in dieser Erstveröffentlichung aufgezeigt werden kann, hatte der Berliner Ordinarius 1871 den Plan im Kopf, selbst an die elsässische Universität zu gehen. Auch nahm er dort wiederholt Einfluss auf die Besetzung von altertumswissenschaftlichen Posten.

Rivalität und Zusammenarbeit bildet ebenfalls die Folie für die Erörterung über die Publikation der Inschriften von Delos. Beide europäischen Nachbarländer konkurrierten bei archäologischen Ausgrabungen und Editionsunternehmungen nicht nur in Griechenland miteinander. Es ging um Geld und internationales Prestige. Der Autor beleuchtet die Kooperation zwischen der Pariser Académie des Inscriptions et Belles-Lettres unter Leitung des Althistorikers und Epigraphikers Maurice Holleaux (1861–1932) und ihrem preußischen Pendant in der Spree-Metropole. Jedoch setzte der Erste Weltkrieg dem gemeinsamen Projekt ein jähes Ende. Die „Inscriptions de Délos“ wurden letztendlich als rein französische Angelegenheit realisiert.

In der umfangreichsten Studie der Sammlung steht die Beziehung zwischen Holleaux und dem deutschen Archäologen Georg Karo (1872–1963) im Mittelpunkt. Diese Erstpublikation nimmt ihren Ausgang von dem Briefwechsel zwischen beiden Wissenschaftlern aus dem Herbst 1914, der einleitend abgedruckt wird. Bei der folgenden Erläuterung des zeitgenössischen Kontextes wird deutlich, wie entscheidend sich der im August 1914 aufgeflammte Krieg ausgewirkt hat. Insbesondere die Bombardierung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen empörte Holleaux und bestärkte ihn darin, in den Deutschen kulturzerstörende Barbaren zu sehen. Dem hatte Karo wenig entgegenzusetzen. Nach Einschub einer biographischen Skizze über Holleaux, wendet sich von Ungern-Sternberg dem aus einer jüdischen Familie stammenden Antipoden zu und vertritt die Ansicht: „Das Erlebnis des Kriegsausbruchs, vor allem aber auch die hasserfüllte alliierte Propaganda, hat den weltoffenen und welterfahrenen Mann vollständig verändert.“ (S. 231) Fortan setzte der verbitterte Karo alles daran, sich uneingeschränkt in den Dienst der „deutschen“ Sache zu stellen, agitierte gegen den Frieden von Versailles und begegnete später sogar dem NS-Regime mit Sympathien. 1939 erfolgte die Emigration Karos in die USA.3 Zusammenfassend blieben beide ehemals befreundeten Gelehrten eng in ihren nationalen Denkstrukturen verhaftet, sodass der Kontakt nach 1914 nicht wieder aufgenommen wurde.

Recht gedrängt erscheint der Überblick, der „Deutsche Altertumswissenschaftler im Ersten Weltkrieg“ zum Gegenstand hat. Darin wird sowohl an den Aderlass durch gefallene Kollegen erinnert,4 als auch auf die Beteiligung am „Krieg der Geister“ hingewiesen. Zu dem dabei angewandten Repertoire gehörte unter anderem der Rückgriff auf Analogien zwischen Rom und Deutschland einerseits sowie Karthago und England andererseits.5 Der Emeritus führt zwei mögliche Gründe für das patriotisch-bellizistische Engagement an: Erstens die landeskundliche Kompetenz von Archäologen im mediterranen Raum, zweitens die damals führende Stellung der Antike-Forschung innerhalb der Geisteswissenschaften. Ein in Französisch gehaltener Beitrag geht neuerlich auf die Wissenschaftsbeziehungen in Europa ein und betont wiederum die Bedeutung der „rupture en Août 1914“ (S. 269). Es folgen fünf kurze Vorreden des Autors zu den Newslettern des „Collegium Beatus Rhenanus“, einem oberrheinischen Verbund aus deutschen, französischen und Schweizer Altertumswissenschaftlern. Ein Personenregister beschließt den Band.

Der Wert der „chers ennemis“ besteht darin, dass verstreute Publikationen von Ungern-Sternbergs zu den deutsch-französischen Beziehungen in den Altertumswissenschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gebündelt werden. Der Verfasser erweist sich als versierter Kenner der Materie. Er urteilt in der Regel sachlich ohne plakative Wertungen à la Mommsen. Mehrere bislang unveröffentlichte Aufsätze und die Aktualisierung der Fachliteratur in den Fußnoten tragen dazu bei, den Informationsgehalt und die Brückenfunktion zu verstärken. Dass in einigen Beiträgen die Kohärenz zu kurz kommt und sie sich inhaltlich mitunter überschneiden, dürfte dem Genre des Werkes geschuldet sein.

Anmerkungen:
1 Jürgen und Werner von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2013.
2 Vgl. Eckhard Wirbelauer, Alte Geschichte an der Straßburger Kaiser-Wilhelms-Universität (1872–1918), in: Volker Losemann (Hrsg.), Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Gedenkschrift für Karl Christ, Wiesbaden 2009, S. 209–240.
3 Zu Karos US-Exil und Freiburger Lebensabend vgl. Astrid Lindenlauf, Georg Heinrich Karo (11.1.1872–2.11.1963). „Gelehrter und ‚Verteidiger deutschen Geistes‘“, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 130 (2015), S. 259–354.
4 Auf französischer Seite ist besonders Joseph Déchelette (1862–1914) hervorzuheben, der im fortgeschrittenen Alter an der Front fiel. Sein mehrbändiges „Manuel d’archéologie préhistorique, celtique et gallo-romaine“ (Paris 1908–1960) legte als erstes Handbuch den Grundstein für die wissenschaftliche Archäologie.
5 Zur rassengeschichtlich begründeten Analogie im Zweiten Weltkrieg vgl. Joseph Vogt (Hrsg.), Rom und Karthago. Ein Gemeinschaftswerk, Leipzig 1943.

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