A. Mach u.a.: Les élites économiques suisses au XXe siècle

Cover
Titel
Les élites économiques suisses au XXe siècle.


Autor(en)
Mach, André; David, Thomas; Ginalski, Stéphanie; Bühlmann, Felix
Reihe
Collection Focus
Erschienen
Neuchâtel 2016: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
152 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Luca Froelicher, Professur für Technikgeschichte, ETH Zürich

Der Unterschied zum letzten Jahrhundert könnte nicht grösser sein, was die Zusammensetzung der wirtschaftlichen Elite zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrifft. Zumindest wenn man den Blick auf die Verwaltungsräte und die Teppichetage der schweizerischen Wirtschaft richtet. Diesen Wandel der wirtschaftlichen Elite im 20. Jahrhundert schildern die Lausanner André Mach, Thomas David, Stéphanie Ginalski und Felix Bühlmann in ihrer neuesten Publikation. Ein aktuelles Beispiel verdeutlicht, worauf sich ihre Arbeit bezieht. Die Verwaltungsratssitze der Schweizer Kreditanstalt (Crédit Suisse) sind im Jahr 2017 auf je einen Bürger Katars, Frankreichs und Singapurs sowie auf zwei Briten, zwei Amerikaner, eine Amerikanerin, zwei Schweizer und zwei Schweizerinnen verteilt. Mit Tidjane Thiam steht ihr ein ivorisch-französischer CEO vor, der seine Karriere dem Beratungsunternehmen McKinsey verdankt und vor seiner direkten Rekrutierung in die oberste Etage der Bank im Versicherungswesen tätig war. 1980 sassen hingegen keine Frauen und mit Ausnahme des Nestlé-Präsidenten Pierre Liotard-Vogt, seines Zeichen Franzose und Sohn des ehemaligen Nestlé-Generaldirektors, nur Inhaber eines Passes mit weissem Kreuz auf rotem Grund im Verwaltungsrat der Schweizer Grossbank. Mit Generaldirektor Rainer E. Gut stand ihrer operativen Spitze ein Mann vor, der nichts anderes kannte als das Bankwesen. In knapp 40 Jahren wurde aus der sogenannten aktienrechtlichen „Alpenfestung“ – je nach Perspektive – ein löchriger Emmentaler-Käse oder ein Standort der transnationalen Wirtschaftselite, deren Zusammensetzung gender-gerechter ist und Vertreter post-kolonialer Räume einschliesst.

Es ist der jahrelangen Forschung rund um die umtriebigen Lausanner Historiker André Mach und Thomas David zu verdanken, dass die wirtschaftliche Elite der Schweiz überhaupt Gegenstand aktueller historischer Analyse ist.1 Konzentrierte sich ihre Forschung früher auf Fragen des Aktienrechts, der Unternehmensführung und -verflechtung (Corporate Governance) sowie verschiedene Spielarten des Kapitalismus2, verschob sich der Fokus der „Lausanner Schule“ auf die Genese und Reproduktion der wirtschaftlichen Elite – nicht zuletzt aufgrund der verdienstvollen Arbeit zur Persistenz des Familienkapitalismus der Historikerin Stephanie Ginalski.3 Die Hinwendung zu elitesoziologischen Fragen basiert denn auch hauptsächlich auf der Lausanner Datenbank „Elites Suisses“, die im Internet frei zugänglich ist.4 In den letzten Jahren folgten darauf basierend zahlreiche Artikel zur veränderten Zusammensetzung und Reproduktion der wirtschaftlichen Elite der Schweiz.5

Es ist daher sehr zu begrüssen, dass André Mach, Thomas David, Stéphanie Ginalski und Felix Bühlmann unlängst eine summarische Publikation zur wirtschaftlichen Elite im 20. Jahrhundert veröffentlichten. In der Reihe «Focus» erschienen, richtet sich das Buch explizit an ein breites Publikum und schafft es, anregend die bisherige Forschung kurz und knapp zusammenzufassen. Es ist eine einladende Einführung in die Thematik. Das Autorenteam gliedert das Buch in drei chronologische Teile, die unterschiedliche perspektivische und methodologische Schwerpunkte setzen. Gemessen am Anspruch der Reihe ist die Lektüre ein Gewinn.

Der erste Teil handelt vom Aufkommen der «Patrons» zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Entwicklung der bis 1980 gültigen Kriterien, die den Zugang zur wirtschaftlichen Elite regelten und ihr so eine stabile, kohäsive und homogene Struktur gaben. Der Erste Weltkrieg hatte zur Folge, dass zahlreiche Verwaltungsratssitze nationalisiert wurden. Und auch später war die Angst vor ausländischer Einflussnahme auf die Unternehmen ein Grund für die nationale Rekrutierung. Der bedeutendste Teil der Unternehmensleitung (Verwaltungsrat und Geschäftsleitung) stammte dabei aus dem Grossbürgertum, war Abkömmling der historischen Gründerfamilien oder heiratete in diese ein. Das Aktienrecht gestand diesen sogenannten „Insidern“ die grösste Machtrolle zu. Auch viele der „professionellen Manager“ rekrutierten sich aus dieser sozialen Schicht. Dass es sich dabei vorwiegend um Männer handelte, erklären Mach, David, Ginalski und Bühlmann mit der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, dem Kooptations-System und der Rolle des Militärs. Schweizerische Kaderschmieden waren sodann nicht Elite-Universitäten, sondern die oberschichtsspezifischen Lehr- und Wanderjahre, das rechtswissenschaftliche Studium, die tertiäre technische Ausbildung (Ingenieur) und der militärische Grad.

Der zweite Teil beschreibt, wie die wirtschaftliche Elite ihre gemeinsamen politischen Interessen verhandelte, organisierte, verfolgte und auf welche Institutionen und Netzwerke sie diese abstützte. Die zentrale Beobachtung ist die Entstehung des sogenannten organisierten oder koordinierten Kapitalismus, bei dem der „Patron“ zum Teil des „Patronats“ wurde, das die gesamte Wirtschaftspolitik prägte. Im Blickfeld der Analyse sind neben den bekannten Unternehmerverbänden auch informelle Praktiken (Preisabsprachen, Kartelle, Gentlemen Agreements etc.), die Unternehmensverflechtung, die Rolle der Banken und einzelner Persönlichkeiten (sogenannte „big linkers“) sowie die Verknüpfung mit der parlamentarischen Politik. Der institutionelle Kontext der Schweiz – der schwache Bundesstaat, das Milizsystem und die direkte Demokratie – erlaubte es Personen der wirtschaftlichen Elite als politisch engagierte Figuren eine dominierende Rolle in der schweizerischen Politik einzunehmen. Einer als zu stark angesehenen staatlichen Einflussnahme konnte deshalb mit dem Postulat der Selbstregulation entgegengewirkt werden.

Der dritte Teil fasst die einschneidenden Entwicklungen seit den 1980er-Jahren zusammen. Die Homogenität der wirtschaftlichen Elite ist durch die Umwälzungen, die durch Globalisierung und Finanzialisierung eingeleitet worden sind, in Frage gestellt. Bisherige Kriterien der Eliten-Reproduktion wandelten sich stark. Alte Institutionen, wie beispielsweise das Insider-orientierte Aktienrecht, wichen im Zuge des Shareholder-Value neuen Regimen. Die Liberalisierung der Finanzmärkte wirbelte die Machtstrukturen innerhalb der Unternehmen durcheinander und definierte neue Regeln der Besetzung von Verwaltungsratsposten und Generaldirektion. Nicht das Jus-Studium oder das Militär sicherte mehr den Zugang zur Elite, sondern der Besuch bedeutender wirtschaftswissenschaftlicher Universitätsfortbildungen. Mit der Veränderung der Aktionärsstruktur veränderte sich deshalb die Zusammensetzung der wirtschaftlichen Elite. Das bisherige dichte Unternehmensnetzwerk dünnte aus, die Hauskarriere wurde ungebräuchlich und die Wechsel an den Spitzen zahlreicher und erfolgten in kürzerem Abstand. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehe daher die Kohäsion und Handlungsfähigkeit der nationalen wirtschaftlichen Elite zur Disposition, vor allem auch weil die politischen Verknüpfungen rissen. So beobachtet das Autorenteam eine zunehmende Polarisierung zwischen einer transnational zusammengesetzten Schicht von Unternehmensleitern, die keinen Bezug zur schweizerischen Politik mehr haben, und einer stärker ins schweizerische Gewebe eingebundenen Fraktion. Abschliessend schlagen sie vor, die spannende aber noch offene Frage nach den verbleibenden Gemeinsamkeiten dieser beiden Fraktionen zu verfolgen und im Auge zu behalten, wer in diesem Prozess der Rekonfiguration der wirtschaftlichen Elite der Schweiz im 21. Jahrhundert schliesslich gewinnen wird.

Was für das breite Publikum und viele Historiker und Historikerinnen ein Gewinn ist, bleibt für den spezialisierten Fachkollegen eine Zusammenfassung, die mancherorts gerne etwas tiefer hätte gehen können. Das mag daran liegen, dass wissenschaftliche Verweise fast gänzlich fehlen und nur am Ende jedes Kapitels auf einige wenige weiterführende Literatur verwiesen wird, ohne jedoch diese Literatur einzuführen. Man hätte der Publikation eine theoretische Bestandsaufnahme zur Eliten- und Kapitalismusforschung oder zumindest einen Literaturüberblick gewünscht, damit die Heranführung an das Thema gelingt und das gewonnene Wissen eingebettet werden kann. Das ein wenig getrübte Leseglück mag aber auch daran liegen, dass zu selten eine Verortung der Prozesse in einen internationalen Kontext vorgenommen wird, etwas was dem Autorenteam in den vorgängigen Publikationen besser gelang. Der Prozess seit den 1990er-Jahren ist kein schweizerischer Sonderfall, er ist viel eher der Normalfall im Wechsel des Produktionsregimes vom Industrie- zum Finanzkapitalismus. Und auch für das restliche 20. Jahrhundert gibt es berechtigte Zweifel am Sonderfallstatus der Schweiz.

Anmerkungen:
1 Zu nennen sind hier auch Martin Lüpold, die Sozialwissenschaftler Gerhard Schnyder und Felix Bühlmann.
2 Das jüngst erschienene Standardwerk hierzu: Thomas David u.a., De la „Forteresse des Alpes“ à valeur actionnariale: histoire de la gouvernance d'entreprise suisse (1880–2010), Zürich 2015 (Terrains des sciences sociales).
3 Stéphanie Ginalski, Du capitalisme familial au capitalisme financier? Le cas de l'industrie suisse des machines, de l'électrotechnique et de la métallurgie au 20e siècle, License de memoire, Neuchâtel 2015.
4 Datenbank zugänglich unter: https://www2.unil.ch/elitessuisses/ (18.04.2017).
5 Die Autorinnen und Autoren des Buches in Zusammenarbeit mit dem Fribourger Soziologen und Betriebswirt Eric Davoine sowie dem Ökonomen Claudio Ravasi.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/