F.-M. Kuhlemann u.a. (Hrsg.): Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke

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Titel
Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960


Herausgeber
Kuhlemann, Frank-Michael; Schäfer, Michael
Reihe
Histoire 96
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Watermann, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Es ist ruhig geworden um die Bürgertumsforschung. Hatte diese insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren die deutsche Geschichtswissenschaft maßgeblich geprägt, sind Neuerscheinungen zu diesem Sujet mittlerweile selten. Frank-Michael Kuhlemann und Michael Schäfer, beide ausgewiesene Kenner der Geschichte des Bürgertums, haben nun einen Sammelband vorgelegt, der mit der Frage nach „Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation“, so der Untertitel, ein klassisches Thema des Forschungszweiges aufgreift. Dieses wird jedoch mit innovativen Perspektiven auf gesellschaftlich relevante Kreise, Bünde und Intellektuellennetzwerke, die ihre Blüte in der Zeit der sogenannten Klassischen Moderne erlebten, in den Blick genommen. Viele von ihnen sind nach wie vor kaum erforscht.

Die sich um und nach 1900 in Teilen des Bürgertums ausbreitende kulturpessimistische Skepsis gegenüber der Moderne und die Sehnsucht nach neuen kulturellen Orientierungsangeboten bildeten den Referenzrahmen für das Entstehen von Organisationsformen, die sich vom Verein als Organisationsmodell bewusst abgrenzten. Neue Konzepte des Elitären, aber auch des Egalitären gingen mit Vergesellschaftungsformen einher, die anderen Spielregeln folgten. In einem viel zitierten Aufsatz hat Hans Mommsen den bürgerlichen Verein des 19. Jahrhunderts mit seinen liberalen und emanzipatorischen Zügen den neuen Bünden gegenübergestellt, die auf emotionaler Vergemeinschaftung beruhten, sich sozial abschlossen und deren Mitglieder sich um „Führergestalten“ scharrten.1 In gängige Narrative vom Niedergang des Bürgertums scheinen sich die Kreise und Bünde nahtlos einzufügen. Der Fluchtpunkt ist in dieser Sichtweise das Jahr 1933.

Dass diese Perspektive zu eindimensional ist, stellen Kuhlemann und Schäfer in der Einführung zum Sammelband heraus. Sie betonen die Wichtigkeit einer differenzierteren Analyse, die auch die Rolle bürgerlicher Kreise, Bünde und Netzwerke in der Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus berücksichtigt und in einer Längsschnittperspektive den engen Nexus zu 1933 lockert. Als Gemeinsamkeit der untersuchten Zusammenschlüsse führen die Herausgeber den informellen, voluntaristischen Charakter, den zumeist bildungsbürgerlichen Hintergrund der sozialen Trägerschaft und die oftmals zentrale Rolle einer charismatischen Führungsfigur an. Die krisenhaft wahrgenommene Entwicklung der modernen Gesellschaft erzeugte in diesen Zusammenschlüssen einen Bedarf nach intensiver Diskussion kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen, aus denen sich Orientierungen, manchmal auch konkrete politische Aktionen speisten.

Die im Buch diskutierten Fallbeispiele und theoretisch-methodischen Ansätze konzentrieren sich vornehmlich auf drei relevante Untersuchungsaspekte: Organisation und Struktur, kulturelle Orientierungen und Zielsetzungen, sowie schließlich die Entwicklung der Kreise, Bünde und Netzwerke im langen Bogen. Gerade aufgrund des Fehlens eines formalen Korsetts ist das Problem der Organisation drängend, mussten diffizilere Techniken des Zusammenschlusses den Fortbestand sichern.2 Theoretische Überlegungen des Soziologen und Sozialphilosophen Jürgen Frese, die Knut Martin Stünkel in seinem Beitrag vorstellt, liefern in diesem Zusammenhang einen interessanten Ansatz, der für etliche Kreise und Bünde plausibel ist. Entscheidend für den Bestand einer Gruppe ist demnach ein mythisch überhöhtes „Pfingstereignis“, eine Gründungsversammlung, derer sich die Gruppe erinnert und auf deren Basis sie eine Erzählung von sich kreiert. Ein charismatischer Führer steht dabei im Zentrum der Gruppe. Durch beständige Inszenierung und Aktualisierung des Gruppenzusammenhangs grenzt man sich nach außen ab. Damit entsteht ein Sinnangebot, das Mitgliedern als Deutungsrahmen (Frese spricht von einem „Formular“) des Gruppenbestandes sowie ihrer eigenen Rolle und Handlungsmöglichkeiten dienen kann. Einen Widerspruch würde an dieser Stelle wohl Walter Benjamin formulieren, dessen Lesart Stefan Georges und seiner Kreiskonzeption Gabriele Guerra diskutiert: „[D]as Kreiszentrum ist die Erkenntnis selbst“ – und keine Person –, weshalb der Kreis nicht mit spezifisch definierten Zugehörigkeitsformen gedacht wird, sondern als poetische Beschwörung einer „unmöglichen“ Gemeinschaft (S. 69f.).

Insbesondere der vorrangig informelle Charakter der Zusammenschlüsse konnte eine Fragilität erzeugen, die den Bedürfnissen der Mitglieder nach Verstetigung nicht entsprach. Zwar waren affektuelle Bindungen für Kreise und Bünde wichtiger als für den Bestand eines Vereins, aber ohne eine weitergehende Institutionalisierung kamen auch sie in vielen Fällen langfristig nicht aus. Diese war nicht selten mit Konflikten um die künftige Ausrichtung verbunden. Das Netzwerk der Dialektischen Theologie um Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen und Karl Barth startete ein durchaus erfolgreiches Zeitungsprojekt, das D. Timothy Goering in seinem Beitrag vorstellt. Michael Schäfer legt dar, wie Anhänger Rudolf Euckens sich bald nach dem Ersten Weltkrieg im Euckenbund und seinen zahlreichen Ortsgruppen zusammenschlossen; 1928 wurde das von einer Stiftung getragene Rudolf-Eucken-Haus in Jena ins Leben gerufen. Zwar schien, wie Eva Locher und Stefan Rindlisbacher betonen, jegliche Organisation im lebensreformerischen Spektrum der Schweiz den eigenen Idealen diametral entgegenzustehen. Zum Schutz vor rechtlicher Verfolgung gründeten Freikörperkulturaktivisten 1927 dennoch den „Schweizerischen Lichtbund“. Die rechtskonservativen Klubs der Weimarer Zeit weisen, wie André Postert zeigen kann, mit ihrer nach außen dargestellten Exklusivität bei gleichzeitig postulierter Egalität der Klubmitglieder eine klare Kontinuität zum klassischen bürgerlichen Assoziationsmodell des 19. Jahrhunderts auf.

Die ganze Bandbreite an religiösen, philosophischen, kultur- und bildungspolitischen wie gesellschaftsreformerischen Orientierungen und Zielen der Kreise und Bünde kann hier nicht dargestellt werden. In den meisten Beiträgen des Bandes wird deutlich, dass ihr Verhältnis zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus durch Ambivalenzen gekennzeichnet war. Gab es im politischen Klubwesen anfangs auch demokratische Strömungen, lehnten sie doch ganz überwiegend die junge Demokratie entschieden ab. Ähnliches ist trotz ursprünglich humanistischer, individualistischer und auch universalistischer Grundzüge der Lehren Euckens für den Eucken-Kreis und Eucken-Bund (die nicht gleichzusetzen sind) zu konstatieren und führte in der Folge zu unterschiedlichen Einschätzungen und Positionierungen der Anhänger zum NS-Regime. Das Netzwerk der Dialektischen Theologie zerbrach 1933 endgültig; Gogarten akzeptierte das neue Regime, Karl Barth wurde Mitbegründer und prominente Stimme der Bekennenden Kirche. Eine ablehnende Haltung gegenüber dem NS nahm auch der von Justus H. Ulbricht vorgestellte Leuchtenburg-Kreis ein, in dessen Vorstellungen eines „bündischen Sozialismus“ sich demokratische wie autoritäre Tendenzen fanden. In Österreich hingegen wurden, wie Andreas Huber nachweist, im Cartellverband der katholischen Studentenverbindungen mit Nähe zum austrofaschistischen Dollfuß/Schuschnigg-Regime sowie im Deutschen Klub, mit dem zahlreiche Nationalsozialisten sympathisierten, nationalistische, antisemitische und völkische Positionen vertreten, insbesondere aber auch differente Konzepte autoritärer Herrschaft, die das Verhältnis zum NS entscheidend bestimmen sollten.

Im Naumann-Kreis, mit dem sich Ursula Krey beschäftigt, war hingegen über ein halbes Jahrhundert die Verbindung sozialliberaler und demokratischer Überzeugen mit einer protestantischen Grundhaltung von zentraler Bedeutung. Dies sollte auch Persönlichkeiten der jungen Bundesrepublik maßgeblich prägen, nachdem sich der Kreis während der NS-Zeit weitgehend entpolitisiert hatte. Als Beispiel für ein Intellektuellen-Netzwerk nach 1945 fungiert im Band die Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, die Hagen Stöckmann in seinem Beitrag untersucht. Diese stand vor der großen Herausforderung, wie die Bundeswehr nach der totalen Niederlage des Zweiten Weltkriegs als Streitkraft legitimiert werden konnte. Hinzu kam das Dilemma, Soldaten auf einen Krieg vorzubereiten, den es im nuklearen Zeitalter gerade zu vermeiden galt. In der Kommission wurden nicht nur Ideen der Erwachsenenbildung aus der Vorkriegszeit aufgegriffen, sondern die hervorragende Vernetzung ihrer Mitglieder basierte auch auf deren Situierung im Milieuumfeld alter Netzwerkkontakte. Im Kontext der Kommissionsarbeit setzte sich schließlich das neue Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ durch. Hinsichtlich der Organisation der Kommission und ihrer inhaltlichen Grundlinien werden Bezüge zu bürgerlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts ersichtlich.

Resümierend ist zu konstatieren, dass die Stärke des Sammelbandes nicht nur darin liegt, dass er gängige Verfallsgeschichten des Bürgertums überzeugend hinterfragt, sondern zugleich Angebote für eine weitere Erforschung des Untersuchungsgegenstandes offeriert. Zudem gelingt es, was bei den vielgestaltigen Kreisen, Bünden und Netzwerken keineswegs selbstverständlich ist, die einzelnen Beiträge in einen plausiblen Diskussionszusammenhang zu stellen. Der Band leistet daher einen wichtigen Beitrag zur Bürgertumsgeschichte – und darüber hinaus. Seine Beiträge verweisen darauf, dass die Geschichte gesellschaftlicher Zusammenschlüsse in der Ausprägung von Organisationsformen, ihren Orientierungen und Zielsetzungen komplexer ist, als dies Kollektivsingulare wie Zivil- oder Bürgergesellschaft vermuten lassen. Natürlich wäre eine transnationale Perspektive auf Verflechtungen wie auch die Geschichte ähnlicher Vergesellschaftungsformen in anderen Ländern stärker in den Blick zu nehmen. Aufgrund des Verflechtungscharakters und der vielfältigen Kontakte in verschiedenen Netzwerken kann zudem ein netzwerkanalytischer Ansatz sehr hilfreich sein, um neue Erkenntnisse über Reichweiten und Grenzen von Netzwerken zu entwickeln.3

Der Blick auf die Zeit nach 1945 erfolgt nur sehr kursorisch. Ob fehlende Anknüpfungsmöglichkeiten für die Kreise und Bünde in der Bundesrepublik mit dem funktionierenden Parteiensystem, mithin also durch die breite Akzeptanz von Demokratie, zu erklären sind, bleibt eine zu diskutierende Frage – man denke dagegen an den Siedlinghauser Kreis um Carl Schmitt und Ernst Jünger. „Verpflichtende Ideen“ und Projekte, kaum aber ausgebildete Netzwerkstrukturen überdauerten den Krieg, so die Herausgeber (S. 25). Ganz allgemein blieb die Auseinandersetzung mit „der Moderne“ für viele gesellschaftliche Strömungen nach 1945 ein zentrales Thema. Zu fragen wäre, ob die verschiedenen Organisationsformen der Nachkriegszeit – zum Beispiel die Initiativen der neu entstehenden sozialen Bewegungen, linke und linksextremistische Gruppen oder etwa die aktuell vielfach erwähnten Thinktanks – möglicherweise Anleihen an die diskutierten Kreis-, Bund- oder Netzwerkstrukturen aufwiesen. Damit hängt die Frage nach dem Platz bzw. der Bedeutung der Kreise, Bünde und Netzwerke in einer Geschichte gesellschaftlicher Selbstorganisation im gesamten 20. Jahrhundert zusammen, die in der Längsschnittperspektive noch nicht geschrieben wurde.

Anmerkungen:
1 Hans Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–315, hier S. 291–300. Der Text wird auch von Kuhlemann und Schäfer als zentrale Referenz herangezogen (S. 10).
2 Spezifika der Organisation bürgerlicher Vergesellschaftung werden zwar oft hervorgehoben, aber auch hinsichtlich des Vereins in der Forschung nur selten explizit problematisiert. Siehe dagegen Robert Heise / Daniel Watermann, Vereinsforschung in der Erweiterung. Historische und sozialwissenschaftliche Perspektiven, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 5–31, hier S. 11–15.
3 Siehe Marten Düring u.a. (Hrsg.), Handbuch Historische Netzwerkforschung, Berlin 2016.