C. Lau: Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik

Cover
Titel
Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989. Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich


Autor(en)
Lau, Carola
Reihe
Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europe 6
Erschienen
Göttingen 2017: V&R unipress
Anzahl Seiten
825 S.
Preis
€ 95,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Camphausen, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, Berlin

Wohl nur selten genießen die Erforschung und Erörterung von Geschichte Politikfreiheit. Doch scheint die Nachbarschaft zwischen der aktuellen politischen Bühne und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zunehmend dichter und auch selbstverständlicher zu werden. Insbesondere, wenn das historische Thema eine aussichtsreiche Nutzung für die Gegenwart verspricht.

Ein markantes Beispiel für die „Überschneidungen zwischen wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Ebene“ (S. 24) beleuchtet Carola Lau in ihrer 2014 abgeschlossenen, 2017 veröffentlichten Dissertation über die „Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa“. Exemplarisch untersucht die Autorin sechs staatliche Einrichtungen in Mittel- und Osteuropa, die zwischen 1996 und 2006 gegründet und mit den Hinterlassenschaften der kommunistischen Staatssicherheitsdienste betraut wurden. Gegenstand sind das Historische Archiv der Staatssicherheitsdienste (ÁBTL) in Ungarn, das Institut für nationales Gedenken (IPN) in Polen, der Nationale Rat für das Studium der Securitate-Archive (CNSAS) in Rumänien, das Institut für nationales Gedenken (ÚPN) in der Slowakei, das Ukrainische Institut für nationales Gedenken (UINP) sowie das Institut für das Studium totalitärer Regime (ÚSTR) und das ihm angegliederte Archiv der Sicherheitsdienste in Tschechien.

Eingehend zeichnet Carola Lau die Entstehungsgeschichte der Institute nach und lässt Hauptakteure aus Politik, Wissenschaft sowie Gesellschaft sichtbar werden. Sie beschreibt Aufgaben und Ziele der verschiedenen Einrichtungen und setzt sie vergleichend zueinander. Dabei nimmt sie sowohl die Methoden und Formate der jeweiligen Tätigkeiten in den Blick als auch die zugrunde liegenden wirkungsmächtigen Motive. Als Hintergrundfolie für ihre Darstellung wählt die Autorin die Begriffstrias „Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur“ (S. 24–28). Mit dem Terminus Erinnerungsverwaltung umreißt sie die Doppelexistenz der Institute als Archive und als „politisch sensibles Gedächtnis“ (S. 27), den Aspekt Vergangenheitspolitik macht sie an der Ausrichtung und Zuständigkeitsbreite der Institute fest, Erinnerungskultur wiederum definiert sie als die im politischen und gesellschaftlichen Raum gepflegte und mit gegenwartsbezogenen Botschaften verknüpfte Erinnerung. In diesem Umfeld verortet Carola Lau die Institute des Gedenkens. Diese Einrichtungen sollten, pauschal gesprochen, die überlieferten geheimpolizeilichen Materialien bewahren und die Aufarbeitung der Vergangenheit ermöglichen. Dabei, so zeigt die Studie, hat sich keineswegs ein institutioneller Monotypus herausgebildet. Vielmehr wurden – je nach dem politischen Gewicht der Initiatoren und je nach den Rahmenbedingungen der einzelnen Länder – unterschiedliche Ansätze entwickelt.

Die vergleichsweise stärkste Position dürfte das polnische IPN einnehmen. Sein Aktenbestand war nur von geringen Vernichtungsaktionen betroffen – im Unterschied beispielsweise zu Ungarn, das einen hohen Aktenverlust zu verzeichnen hatte −, und das Institut ist großzügig mit Finanzmitteln und Personal ausgestattet. Außerdem kommen dem polnischen IPN neben den gängigen Archiv- und Bildungsaufgaben auch strafrechtliche Kompetenzen zu: Das Institut stellt nicht nur Akten bereit, es ist auch als Ermittler und Ankläger aktiv. Nicht ganz so weit gehen die Befugnisse des ÚPN, doch immerhin kann das slowakische Institut eine strafrechtliche Verfolgung auslösen. IPN, ÚPN, das tschechische ÚSTR und ebenso das ukrainische UIPN sind zudem nicht nur für die kommunistische Zeit, sondern auch für die Zeit der NS-Besetzung zuständig (wobei das Hauptaugenmerk aber deutlich auf der gegenwartsnahen Vergangenheit, das heißt auf den kommunistischen Regimen liegt). Zugleich greifen die breit aufgestellten IPN, ÚPN und ÚSTR in ihren Arbeiten und Stellungnahmen deutlich weiter aus als die ungarischen und rumänischen Partnerinstitutionen. Nicht selten tragen sie eher zur Polarisierung als zur Versachlichung von Diskursen bei. Dieser Tendenz ordnet die Autorin auch das ukrainische UIPN zu. Zwar agierte es zunächst nur auf einer sehr schmalen Handlungsbasis und war jahrelang noch nicht einmal für die Aktenöffnung zuständig, gleichwohl bewies es von Beginn an deutlichen Ehrgeiz in der öffentlichen Normenbildung zur jüngsten Geschichte des Landes. Die Breite der Aufgaben und das Maß der Politisierungsbereitschaft sind also nicht zwangsläufig kongruent.

Hingegen scheint es eine direkte Korrelation zwischen dem meinungsstarken Auftreten einiger Institute und der Einflussnahme von außen zu geben. Die Autorin zeichnet nach, wie eng die Verflechtung mancher Gedenkinstitute mit der Politik ist. Zudem macht sie sichtbar, wie das Bestreben, eine entscheidende geschichtspolitische Instanz darzustellen, für politische Instrumentalisierung empfänglich macht. Sollte ein Institut dafür nicht zugänglich sein, so schreckt mancher Landespolitiker nicht vor einschlägigen Interventionen zurück. Hier bietet erneut das polnische IPN ein augenfälliges Beispiel. Je nach Couleur der Regierung wurden Änderungen in Leitung und Ausrichtung des Instituts vorgenommen. In der Folge agierte das IPN in den Debatten mal dominant und konfrontativ (beispielsweise im Fall Lech Wałesa), mal zurückhaltender. Ähnlich vehemente Wechsel erlebte das ukrainische UINP. Zunächst als Minimallösung eingerichtet, wurde es 2010 umstrukturiert, mit neuem Personal und neuen Themensetzungen versehen. 2013/14 schließlich erfolgte eine weitere umfangreiche Umgestaltung. Die heftigen Auseinandersetzungen in Tschechien um ÚSTR-Personalfragen belegen gleichfalls eine starke Interventionsneigung der Politik. Es wird deutlich, dass diese Institute kaum auf langfristige Planungssicherheit und perspektivisches Arbeiten setzen können.

Es ist der Grenzbereich zwischen Forschung und Politik, zwischen Aufarbeitung und Abrechnung, den Carola Lau minutiös herausarbeitet und charakterisiert. Die Quellenbasis der Studie ist breit gefächert. Sie umfasst Parlamentsprotokolle, Gesetzestexte, Tätigkeitsberichte sowie wissenschaftliche Publikationen und Medienbeiträge. Ergänzt werden diese Quellen durch Stellungnahmen der Institute und durch Interviews, die die Autorin sowohl mit Institutsmitarbeitern als auch mit externen Vertretern geführt hat.

Im Ganzen betrachtet legt Carola Lau eine sehr kenntnisreiche Studie vor, die unseren Blick auf die Aufarbeitungsprozesse in Mittel- und Osteuropa nach 1989 deutlich erweitert. Doch bedauerlicherweise ist die Untersuchung oftmals zu kleinteilig und begibt sich in allzu viele Einzelheiten. Sicherlich sind Sorgfalt und Genauigkeit im Detail für das wissenschaftliche Arbeiten unerlässlich. Zur wissenschaftlichen Leistung zählen aber ebenso analytische Filterung und Bündigkeit. Der Verzicht auf manche Ausführlichkeit würde die Lektüre der Studie ertragreicher machen. Neben einer dezidierten Straffung wäre auch mehr Mut zur klaren Aussage wünschenswert, zu einer unumwundenen Sprache, die leider nach wie vor ein Desideratum in der deutschen Wissenschaftslandschaft ist.

Nur kurz hingegen weist die Autorin auf einen Umstand hin, der größere Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Institute des Gedenkens zeigen nämlich ungeachtet ihrer teils erheblichen öffentlichen Präsenz nur geringe Strahlkraft für individuelle Nachfragen: Die Anzahl der Privatpersonen, die einen Antrag auf Akteneinsicht stellen, ist sehr überschaubar. Unwillkürlich fragt man sich, ob dies nicht auch an der teils aufgeheizten Debatte liegt, einer Debatte, die letztlich an der Bevölkerung vorbeigeht. Auf jeden Fall hätte man zu dieser Divergenz zwischen Politik- und Bürger-Zuwendung gerne mehr erfahren.

Ein abschließender kritischer Hinweis gilt der Deutung der Autorin, die Institute sowie die Debatten über die Institute böten einen Spiegel der Gesellschaft, einen Ausdruck der öffentlichen Meinung. Es stellt sich die Frage, ob sich hier tatsächlich die Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Vergangenheit manifestiert oder ob es sich in den meisten Fällen nicht eher um Stellungnahmen der politischen Elite, um in-group-Diskussionen handelt. In diesem Zusammenhang offenbart sich eine terminologische Unschärfe, die für die Gesamtbeurteilung der Institute des Gedenkens keineswegs unwesentlich ist.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch