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Titel
Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik 1941–1963


Autor(en)
Coché, Stefanie
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 218
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
365 S., 56 Tab.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Psychiatrische Anstalten sind gern gewählte Untersuchungsobjekte für Historikerinnen und Historiker, bieten Sie doch einen in sich geschlossenen Analysegegenstand und eignen sich zur Aufarbeitung sowohl von medizin- und sozial- als auch von gesellschaftsgeschichtlichen Fragestellungen. Und Theoretiker wie Michel Foucault oder Erving Goffman lieferten beliebte theoretische Untersuchungsfolien, mit denen die Psychiatrie als Wissenschaft und institutionell analysiert werden kann. Daher verwundert es auch nicht, dass in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eine Fülle an psychiatriegeschichtlichen Arbeiten entstanden ist. Auf die Ebene des Patienten haben sich bisher allerdings nur Karen Nolte1 und Jens Gründler2 begeben, die ähnlich wie Stefanie Coché Krankenakten und (Armen-)Verwaltungsakten als Quellen genutzt haben, jedoch für andere Untersuchungszeiten und -räume. Darüber hinaus sei an dieser Stelle noch Cornelia Brinks 2010 erschienene Arbeit „Grenzen der Anstalt“ genannt3, da Coché mit „Psychiatrie und Gesellschaft“ einen Teil aus Brinks Untertitel zu ihrem Haupttitel macht. Während Brink in erster Linie die öffentlichen Kontroversen und Diskussionen über den Umgang mit der Psychiatrie als Institution innerhalb der Gesellschaft auslotet, fragt Stefanie Coché konkret danach, wie Einweisungen in die Psychiatrie genau funktionierten. Hierfür begreift sie Einweisungen als komplexe Aushandlungsprozesse und nutzt sie als eine Art Sonde, um mehr über Vorstellungen von Sicherheit, Normalität, Krankheit und Gesundheit zu erfahren.

Als Untersuchungszeitrum wählt Coché die Zeit von 1941 bis 1963. Sowohl der Anfangs- als auch der Endpunkt der Untersuchung überzeugen. Ab dem Jahr 1941 zirkulierte in der Bevölkerung das Wissen über die Krankenmorde in (psychiatrischen) Anstalten, weswegen die Einweisungen aus einer anderen Perspektive interpretiert werden müssen. Die Untersuchung endet, bevor in beiden deutschen Staaten größere Diskussionen über mögliche Reformen der Psychiatrie aufkamen. Durch die Wahl des Untersuchungszeitraums fragt Coché nach Brüchen und Kontinuitäten in der Einweisungspraxis vom „Dritten Reich“ in die DDR und die BRD. Als Modus Operandi wählt sie naheliegender Weise den Vergleich. Eine erste große Stärke dieser Arbeit ist es, dass es ihr dadurch gelingt, keine drei Parallelhandlungen zu erzählen, sondern über die sinnvolle Zusammenstellung der Vergleichsparameter neue Erkenntnisse zu generieren.

Die Vergleichsgegenstände bilden auch die Hauptkapitel und dienen damit zur Strukturierung des Buches. In der Einleitung werden zunächst die Fragestellung, der Forschungsstand sowie die Quellen näher beschrieben. Die Ergebnisse basieren auf der Analyse einer Stichprobe von 1.424 Patientenakten aus sechs unterschiedlichen Kliniken. Um die Erkenntnisse der Auswertung dieser Quellen einordnen und die normativen Gegebenheiten nachvollziehen zu können, wurden auch Akten aus den Bundes- und Landesarchiven genutzt. Der über die Einweisungspraxis geführte Fachdiskurs wurde über die Analyse psychiatrischer Fachzeitschriften erschlossen.

In einem ersten, etwas grundlegenderen Kapitel werden die historischen Rahmenbedingungen von Psychiatrie, Staat und Gesellschaft bis 1941 geschildert. Im Kapitel „Staat und Psychiatrie – Rahmenbedingungen und Einweisungsentscheidungen“ werden sodann Einweisungswege, Akteure und Aushandlungsprozesse analysiert. Coché zeichnet hier anschaulich nach, welche Ärztegruppen und Behörden innerhalb der unterschiedlichen Staatsformen welche Funktionen im Einweisungsprozess hatten. Das zentrale Ergebnis dieses Kapitels ist jedoch die Tatsache, dass über Regime- und Systemgrenzen hinweg die Familie bzw. das nahe soziale Umfeld des Patienten einen enormen Einfluss auf die Einweisung in die Psychiatrie hatte. Die Familie fungierte als Initiator, Motor, Verhinderer oder auch als Entscheider über die Unterbringung von Patienten in psychiatrischen Anstalten. Vor dem Hintergrund des Wissens um die Krankenmorde ist dieses Ergebnis insbesondere für die NS-Zeit durchaus überraschend.

Im daran anschließenden Teil „Gefahr und Sicherheit – Zur Praxis der Zwangseinweisung“ verhandelt Coché die Rolle verschiedener Akteure auf der Entscheidungsebene. Während im Dritten Reich die Polizei mit großer Macht im Einweisungsprozess ausgestattet war, verlor sie in der Nachkriegszeit an Bedeutung. In allen drei Systemen spielten Ärzte und ihre gutachterliche Tätigkeit für die Zwangseinweisungen eine zentrale Rolle. Im Nationalsozialismus waren Amtsärzte, in der DDR die Anstaltsärzte und in der BRD die niedergelassenen Ärzte hierfür von besonderer Bedeutung. Auch bei den Zwangseinweisungen kommt Coché zu dem Fazit, dass die Familie durchaus Möglichkeiten hatte, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. Besonders traf dies auf die DDR zu, da hier durch fehlende gesetzliche Regelungen die Zwangseinweisung oftmals zwischen Angehörigen und Ärzten ausgehandelt wurden.

Da die Einweisungen immer an ‚Krankheiten‘ rückgebunden und damit gerechtfertigt wurden, folgt im Kapitel „Krankheit und Diagnostik – Medizinische Aspekte der Einweisung“ eine wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der psychiatrischen Diagnostik. Stefanie Coché kommt zu dem Schluss, dass die Diagnosefindung in allen untersuchten Systemen stark von Unsicherheit geprägt war. So erhielten Patienten und Patientinnen oftmals mehrere voneinander abweichende Diagnosen. Weiter geht Coché in diesem Abschnitt auch auf geschlechterspezifische Krankheitszuschreibungen ein. Besonders bei Frauen war die Rückbindung der Diagnose an körperliche Zustände, wie beispielsweise bei der „endogenen Depression im Postklimakterium“ (S. 214), nicht ungewöhnlich. An dieser Stelle zeigt sich gut, dass die gängige Forderung nach der Einbeziehung von Geschlecht als Querschnittskategorie erfüllt wurde.

In Anbetracht der Tatsache, dass für die Diagnose oft Überlegungen zur Bewältigung alltäglicher Lebensumstände entscheidend waren, widmet sich das letzte inhaltliche Kapitel „Arbeit und Leistung“ der Rolle der Arbeitsfähigkeit bzw. -unfähigkeit in der Einweisungsargumentation. Zwar war die Arbeit in allen Systemen ein entscheidendes Bewertungskriterium, doch hatte sie im Nationalsozialismus eine nochmals herausgehobene Stellung, da sie über Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ entschied. Daher überrascht es auch nicht, dass von verschiedenen Seiten immer wieder mit der Arbeitsfähigkeit argumentiert wurde, um die Einweisung zu verhindern. Auch in der DDR wurde, im Gegensatz zur BRD, in den Argumentationen von Patienten, Familien und Ärzten ein Zusammenhang „zwischen der Leistung des Einzelnen und dem Wohlergehen aller hergestellt“ (S. 292). Coché vermutet naheliegend, dass dafür die jeweilige ideologische Ausrichtung der beiden Staaten verantwortlich war.

Die Studie zeichnet sich aber neben der inhaltlichen auch auf der formalen und der methodischen Ebene aus. Neben der bereits hervorgehobenen Wahl der Vergleichsparameter ist Cochés gut lesbarer Schreibstil zu nennen. Der Autorin gelingt es darüber hinaus aber auch, durch wohldosiertes direktes Zitieren der Quellen dem Leser einen guten Eindruck von ihrem Untersuchungsgegenstand zu vermitteln. Durch die methodische Anlage der Arbeit, die Zusammenstellung des Quellenkorpus und die Fokussierung auf abgegrenzte Leitfragen schafft Coché es, Praktiken und deren Bedeutung in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung zu rücken, ohne sich in langen theoretischen Debatten über die Historische Praxeologie zu verlieren. Und dennoch hat man immer den Eindruck, praxeologische Überlegungen seien in einer reflektierten und unaufgeregten Weise in die Studie eingeflossen.

Allein die stiefmütterliche Behandlung der quantitativen Auswertung und die Platzierung dieser Ergebnisse im Anhang können als kleines Manko der Arbeit gewertet werden. Hierin erfährt man nämlich einiges über die prozentuale Verteilung der Aufenthaltsorte vor der Einweisung oder aber auch über die einweisenden Institutionen. Hier wäre allerdings eine soziale Differenzierung wünschenswert gewesen, die es erlaubt hätte, Cochés vielfältige und wichtige Ergebnisse für die Geschichtswissenschaft noch detaillierter betrachten zu können. Insgesamt hat Stefanie Coché mit „Psychiatrie und Gesellschaft“ jedoch eine Arbeit vorgelegt, welche das Potential besitzt, ein Standardwerk für die Psychiatriegeschichte des 20. Jahrhunderts zu werden.

Anmerkungen:
1 Karen Nolte, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt am Main 2003.
2 Jens Gründler, Armut und Wahnsinn. „Arme Irre“ und ihre Familien im Spannungsfeld von Psychiatrie und Armenfürsorge in Glasgow, 1875–1921, München 2013.
3 Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland, 1860–1980, Göttingen 2010.

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