Cover
Titel
Das Gebäude als Akteur. Architekturen und ihre Atmosphären


Autor(en)
Rees, Anke
Reihe
Kulturwissenschaftliche Technikforschung
Erschienen
Zürich 2016: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Manfred Ohmahna, Technische Universität Graz

In einer Zeit, in der sich die räumliche Umgebung der Menschen mehr und mehr ausdifferenziert, wird es zunehmend wichtiger, darauf zu achten, wie die gesellschaftliche und physische Umgebung uns beeinflusst, prägt und uns zu einem signifikanten Teil ihrer selbst macht. Landschaften, Räume, Gebäude und Dinge, kurz die materielle Umwelt teilen sich uns durch Eindrücke, Bedeutungen oder Atmosphären mit und beeinflussen richtungsweisend unsere Sinne.

Wie sich Gebautes und Menschen gegenseitig ihre Bedeutungs- und Bewertungsmuster aufprägen, zeigt Anke Rees in ihrer multimethodisch angelegten Studie am Bespiel der Hamburger „Schiller-Oper“ in St. Pauli. Um der analytischen Frage nachgehen zu können, was Gebäude mit uns tun, bedarf es nach Rees allerdings eines grundlegenden Perspektivwechsels. Dieser erschließt sich zum einen aus der Verbindung von Sachkulturforschung und kulturwissenschaftlicher Technikforschung und zum anderen aus der Akteur Netzwerktheorie (ANT). In der Verbindung beider ist es der Autorin nicht nur möglich, historische, kunsthistorische und architektonische Dimensionen, Bedeutungen und Sinnzuschreibungen von Gebautem aufzuspüren, sondern auch „Mensch und Ding“ in einem gleichrangigen Zusammenspiel zu untersuchen. So kann etwa erfasst werden, wie „es an einem bestimmten Punkt im Aushandlungsprozess um Gebäude zu ungeplanten und unvorhergesehenen Wendungen, Brüchen oder Kontinuitäten kommt“ (S. 20). Die Akteur-Netzwerk-Theorie dient der Autorin sowohl als theoretischer Rahmen als auch als analytische Methode.

Das Buch fragt in seinen fünf Hauptteilen nach den Austauschprozessen zwischen gebauter Umwelt und Menschen. Im ersten Teil werden Zugänge der Kulturanthropologie und der Hausforschung, der Sachkulturforschung, der kulturwissenschaftliche Technikforschung und Wahrnehmungs- und Atmosphärenkonzepte diskutiert.

Daraufhin werden im zweiten Teil die verschiedenen Zugänge auf das Beispielobjekt „Schiller-Oper“ bezogen. Die Reflexion der eigenen Rolle ist dabei unabdingbar, weil ethnographisches Arbeiten immer auch bedeutet, im Sinne der „Writing Culture Debatte“ den Forschungsgegenstand mit zu konstituieren. Dies gilt umso mehr, als die Autorin durch eine Veröffentlichung über das Gebäude „Schiller-Oper“ einen Beteiligungsprozess ausgelöst hat, durch den Menschen zum Beispiel ein Straßenfest organisiert haben, um die Aufmerksamkeit auf die Schiller Oper zu lenken und ihren Stellenwert zu steigern.

Im dritten Teil wechselt die Autorin die Perspektive, indem sie jene Ereignisse (Zirkus-, Theaterveranstaltungen, Unterbringung von Kriegsgefangenen usw.), hervorhebt, die unmittelbar mit der Schiller-Oper zu tun haben. Mit Hilfe der Akteur-Netzwerk Theorie werden dabei nicht nur Menschen als Akteure betrachtet, sondern beispielsweise auch Tiere, Gesetzestexte, Pläne, Gebäude, Stadtteile usw.

Im vierten Teil unternimmt Rees den Versuch, mit Blick auf einzelne Aspekte der Materialität, zum Beispiel einzelne Baustoffe, die Skelettkonstruktion, die runden Formen und die periphere Lage des Gebäudes, verschiedene Atmosphären herauszuarbeiten. Rees betont, dass gerade die Atmosphären die Wirkmacht des Gebäudes sowie die Rolle der Schiller-Oper als Akteurin definieren. Erst die Atmosphäre ermögliche es dem Gebäude gewissermaßen, in seine Umgebung einzugreifen.

Diese Überlegungen führen schließlich im abschließenden fünften Teil des Buches, zur Entwicklung des „Atmosphären-Netzwerk-Modells“ als neuer Perspektive für die prozesshafte Analyse von Gebäuden, Orten oder Städten.

Diese Überlegungen zum Atmosphärendiskurs machen Anke Rees’ Buch besonders lesenswert. Denn laut Rees verwandeln Atmosphären Gebäude in Akteure. Sie können einladend, liebenswert, auffordernd, aber auch bedrohlich usw. sein. Unter Bezugnahme auf Michael Hauskeller und Gernot Böhme1 verweist Rees darauf, dass Atmosphären sich in dem Moment entfalten, in dem sich Kultur in Form eines Gegenstandes materialisiert. Philosophisch betrachtet sind sie die Ausdrucksweisen, mit der sich Dinge den Menschen mitteilen. Die Gegenstände werfen uns sozusagen ihre Bedeutung zu. Rees kritisiert damit eine Leerstelle herkömmlicher kulturanthropologischer Theorien, die die sinnlichen und gefühlhaften Aspekte – Emotionen, Affekte und Atmosphären – nicht oder zu wenig beachtet. Mit ihrer Hilfe können, so Anke Rees, die multidimensionalen Wechselwirkungen zwischen Menschen und Gebautem fassbar gemacht werden. Anke Rees bezeichnet die „Schiller-Oper“ als „große Selbstdarstellerin“, die ihre Bedeutung durch ihren atmosphärischen Ausdruck beispielsweise durch Kühnheit, Lebendigkeit oder Leere, Trostlosigkeit und Geheimniskrämerei bis heute einfordert.

Bei der Erforschung von Atmosphären geht es laut Rees jedoch nicht um (historische) „Wahrheiten“, sondern um etwas rein Subjektives. In Bezug auf die „Schiller-Oper“ beschreibt sie beispielsweise drei Kategorien von Sehnsüchten: Erstens Sehnsüchte, die sich mit der Nutzung des Gebäudes verbinden; zweitens Sehnsüchte, die nicht unmittelbar mit dem Gebäude zu tun haben, und drittens diejenigen, die sich ausschließlich an der Architektur festmachen. Je nach Wahrnehmung oder Nutzung ist die Schiller-Oper somit Traumerfüllungsort, Projektionsfläche oder Nostalgiegebäude.

Erst durch den Einbezug des Atmosphärischen wurde für die Autorin deutlich, wie sehr ein Gebäude auch Bedeutungen und Zuschreibungen performativ ansammelt, die nicht allein aus „dem Materiellen“ heraus erklärbar sind. Die entstehenden Atmosphären laden das Gebäude quasi auf und stärken es als Akteur. Durch Atmosphären gelingt es Gebäuden dann auch, zu bestimmten Zeiten verschiedene Verbündete zu finden, Verbündete, die sich für oder auch gegen das „technische Ding: Haus“ einsetzen. Der Autorin gelingt es, ein Vokabular zu formulieren, mit dem eine heuristische Subjekt-Objekt-Anordnung aufgehoben werden kann, alle menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten mit Begriffen des „Aktanten“ bzw. „Akteurs“ bezeichnet werden können und vor allem der Verlauf von Prozessen nachvollzogen werden kann.

Um eine Atmosphäre fassbar und beschreibbar zu machen, schlägt Anke Rees mit dem Atmosphären-Netzwerk-Modell mehrere Arbeitsschritte vor: Zunächst soll durch Archivrecherche und Feldforschung ein Überblick über die Geschichte und Gegenwart eines Gebäudes geschaffen werden, dann die Aufmerksamkeit auf die sinnlichen und fühlbaren Eindrücke gelenkt werden, um die jeweils spezifischen Atmosphären analysieren zu können, und schließlich sollen alle ausgewerteten Quellen bezüglich der eigenen Rolle im Feld reflektiert werden.

Kritisch anzumerken ist in Rees’ Konzept eine relative Ungenauigkeit ihrer atmosphärischen Zuschreibungen, die sich in ihren Wertigkeiten oder/und Intensitäten unterscheiden. Beispielsweise sind diejenigen von Betreibern oder Besitzern, die ständig und sehr intensiv mit dem Gebäude in Beziehung stehen, anders als die von Nutzern oder Bewohnern der Umgebung. Es gelingt der Autorin dennoch vorbildhaft, die Wechselwirkung zwischen Menschen und Gebautem zu fassen. Dies macht das Buch nicht nur empfehlenswert, sondern fordert zudem zum Weiterdenken auf – das ist es sozusagen, was das „Ding Buch“, verfasst von Anke Rees mit seiner Umgebung vorhat, es sucht, ähnlich wie das dort analysierte Gebäude Verbündete, die in seinem Sinne weiterdenken.

Die Studie trägt zur Technik- und Atmosphärenforschung und mit Vorbehalt auch zur Planungspraxis bei. Mit dem Atmosphären-Netzwerk-Modell können verschiedene Szenarien entworfen werden, z.B. wie ein vernachlässigtes Gebäude in einen Diskurs über Nutzungsszenarien eingebunden werden kann. In Zeiten massiver Transformationsprozesse scheint dies dringend notwendig: In Zukunft wird es immer wichtiger werden, neue Erklärungsmuster für Veränderungen beispielsweise innerhalb der Bauforschung oder bei der Konzeption von Nachnutzungskonzepten einzuführen. Dabei wird Rees’ Buch ein notwendiger Begleiter sein.

Anmerkung:
1 Vgl. Michael Hauskeller, Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995 und Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995.