S. Haas: Die Preußischen Jahrbücher

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Titel
Die Preußischen Jahrbücher zwischen Neuer Ära und Reichsgründung (1858–1871). Programm und Inhalt, Autoren und Wirkung einer Zeitschrift im deutschen Liberalismus


Autor(en)
Haas, Sebastian
Reihe
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte (QUF) 47
Erschienen
Anzahl Seiten
535 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Herold, Berlin

„Preußische Jahrbücher“ (PJ) ist der Name einer politischen Monatsschrift, die zwischen 1858 und 1936 erschienen ist. Besonders in den frühen Jahren bis 1871, denen sich die Dissertation von Sebastian Haas widmet, repräsentierte die Zeitschrift ein Netzwerk von Politikern, Publizisten und Professoren, dessen politische Gesinnung die Programmatik, die tagespolitischen Stellungnahmen und zeitgeschichtlichen Analysen der PJ prägte. Auf diese „altliberale“ Einbettung der PJ fokussiert Haas. Zwei Kapitel der Studie widmet er den Mitarbeitern und der äußeren Entwicklung der Zeitschrift, während die vier restlichen Kapitel die politischen Stellungnahmen in den PJ-Beiträgen analysieren.

Haas zeigt, dass die PJ, obwohl von Beginn an ein politisches Projekt, sich erst nach einer thematisch breiten bildungsbürgerlichen Anfangsphase auf die Funktion einer politischen Zeitschrift verengten (S. 169), die sich hauptsächlich mit politischen Zeitdiagnosen und Kommentaren befasste. Im Gegensatz zur älteren Forschung, die in erster Linie die in der Zeitschrift repräsentierten politischen Ideen geistes- und begriffsgeschichtlich analysierte1, schafft es die vorliegende Untersuchung, ein differenziertes Bild der politischen Stellungnahmen der Altliberalen zu liefern. Darüber hinaus gibt sie wertvolle Hinweise auf Redaktionspraxis, Gehälter, Absatz und Finanzierungsfragen der Zeitschrift.

Was die Mitarbeiter der PJ interessant macht, ist ihre politisch-ideengeschichtliche Position: auf der einen Seite existierte ein enger Konnex zum akademisch-universitären Bereich, insbesondere zu den Historikern der preußisch-kleindeutschen Schule, auf der anderen gab es Verbindungen in Partei- und Regierungskreise. Nicht nur betätigten sich die drei Redakteure Heinrich von Treitschke, Rudolph Haym und Wilhelm Wehrenpfennig als Parlamentarier, sondern gleich drei Personen aus dem Umfeld der PJ (Wilhelm Wehrenpfennig, Max Duncker und Constantin Rößler) sind im Preußischen „Literarischen Büro“ tätig gewesen, also der pressepolitischen Zentralstelle des preußischen Staates. Ablesbar ist an dieser Personalunion zwischen bürgerlich-politischer Presse und staatlicher Pressebeeinflussung die Position der Altliberalen als staatsnahe Elite, deren Affinität zu staatlicher Steuerung und Machtdurchsetzung sie von anderen Liberalen unterschied. Die älteren Vertreter hatten bereits 1848 in der Paulskirche jenen Fraktionen angehört, die auf einen Kompromiss ihrer liberalen Ideen mit dem herrschenden politischen System aus waren und 1849 als „Erbkaiserliche“ und „Gothaer“ hervortraten. Im Gegensatz zu Linksliberalen und Demokraten mussten diese „gemäßigten“ Liberalen 1849–58 nicht flüchten; jedoch erst die Neue Ära ab 1858 sorgte für einen kollektiven Aufstieg aus der Peripherie in hohe administrative und akademische Posten und schuf neue Möglichkeiten politischer Betätigung. Die vorliegende Untersuchung trägt zu einer genaueren Kenntnis der Kollektivbiographie der Altliberalen bei. Ein wichtiges Verdienst ist es insbesondere, die Person Wilhelm Wehrenpfennigs aus der zweiten Reihe mehr in den Vordergrund zu bringen. Die Situation der nach oben gekommenen und oben bleiben wollenden Altliberalen prägt die Stellungnahmen der PJ.

In vier chronologisch angelegten Kapiteln verfolgt Haas die nationalpolitischen Ereignisse und Debatten, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit der 1860er-Jahre Aufmerksamkeit erregten und heute zum traditionellen Themenfundus konventioneller Politikgeschichte gehören. Die einzelnen Abschnitte behandeln Neue Ära, italienischen Einigungskrieg, Heeresreform und Bundespolitik 1858–62 (Kap. C); Verfassungskonflikt, Bismarcks Regierungsbildung, Schleswig-Holstein-Krisen und Österreichdiplomatie 1862–66 (Kap. D); Norddeutschen Bund, Reichsgründung und Frankreichkrieg 1867–1870 (Kap. F); zuletzt das „erste Jahr des Deutschen Reiches“ 1871 (Kap. G). In jedem dieser Abschnitte werden zunächst die tagespolitischen Entwicklungen und Diskurse, danach die Stellungnahme der PJ referiert. Dem Leser wird auf diese Art unabhängig von den PJ-Analysen eine Geschichte der Parlaments- und Regierungspolitik 1858–1871 mitgeliefert. Die chronologische Struktur der Studie eignet sich gut, um die teils verwirrenden politische Wechsellagen der Partei der Preußischen Jahrbücher herauszuarbeiten. Durch die intensive Einbeziehung ungedruckter Quellen erhalten die Textanalysen hohe Aussagekraft.

Quellennähe ist das methodische Charakteristikum der Studie. Hauptsächlich kann sich Haas auf die Korrespondenzen des Redaktionsteams Wehrenpfennig und Treitschke stützen, deren Nachlässe ebenso überliefert sind wie die Verlagskorrespondenz – im Vergleich zur Überlieferungslage vieler anderer Presseerzeugnisse des 19. Jahrhunderts ein Glücksfall. Dass die Dissertation kaum von Untersuchungsgegenstand und Quellenanalyse zu abstrahieren versucht, beziehungsweise kein übergeordnetes Erkenntnisinteresse verfolgt, macht schon der rein katalogisierende Untertitel „Programm und Inhalt, Autoren und Wirkung…“ deutlich. In der Einleitung wird zwar der politik- und medienhistorische Forschungsstand skizziert, aber keine weiterführende Fragestellung entwickelt, die dazu hätte beitragen können, die Darstellung abseits von handbuchartiger Systematik zu strukturieren oder das begriffliche Instrumentarium zu sensibilisieren.

Ungeklärt bleibt insbesondere die vom Untersuchungsansatz her eigentlich zentrale Frage, mit was für einem Liberalismus wir es nun genau zu tun haben. Haas wechselt zwischen „Altliberalismus“ und „deutschem“ Liberalismus hin und her, ohne eine genauere Verhältnisbestimmung zu treffen. Ins Auge springt beispielsweise der unentschiedene Klammergebrauch in der Zwischenüberschrift „Das (alt)liberale Programm“ (S. 80). Waren die staatsaffinen Altliberalen nun repräsentativ für liberale Politik in Deutschland, oder bildeten sie eine gesinnungsmäßig sehr spezifische Gruppe? Haas bietet zahlreiche Quellenhinweise, aber die Einschätzung wird letztlich dem Leser überlassen. Die vielen Indizien für teils deftige politische Konflikte zwischen Altliberalen und Fortschrittspartei, die Konkurrenz bei Wahlen und so weiter deuten darauf hin, dass die Grenzziehung gegen den Linksliberalismus bei den Mitarbeitern der PJ in den 1860ern mindestens so scharf ausgeprägt war wie die gegen den seit je her angefeindeten Konservatismus. An dem Problem der prekären Position zwischen (Links-)Liberalismus und Konservatismus, das schon für die Beteiligten selbst spürbar war, hätte eine Analyse der PJ systematisch ansetzen können. – Eine Lösung zur Einordnung der PJ könnte „Liberalkonservatismus“ sein. Zwar wird dieser Begriff in der historischen Forschung generell selten verwendet, aber nachdem Jens Hacke ihn durch seine These einer „liberalkonservativen Begründung“ der BRD prominent gemacht hat2, könnte der Versuch lohnenswert sein, anhand der PJ die Geschichte des Liberalkonservatismus zurück in die Anfangszeit des Kaiserreichs zu verfolgen. In Abwandlung der Hackeschen These könnte man sogar hypothetisch eine „liberalkonservative Begründung des Kaiserreichs“ zur Diskussion stellen, was zumindest intellektuellen Freiraum von althergebrachten Narrativen wie der „realpolitischen“ Wendung beziehungsweise dem Rechtsruck „des“ Liberalismus im Deutschen Reich verschaffen würde. Jedenfalls haben wir in beiden Fällen – bei Haas‘ Kreis der preußischen Jahrbücher und Hackes westdeutscher Ritter-Schule – einen abgrenzbaren, vorzüglich philosophisch und historisch inspirierten staatsaffinen Kreis von Intellektuellen, die sich über ein zu konstituierendes oder noch junges politisches Gemeinwesen Gedanken machten.

Selbstverständlich trägt jeder Leser andere Wünsche und Schwerpunktsetzungen an die Studie heran; wer zu einer Spezialstudie über die Preußischen Jahrbücher greift, verfolgt vermutlich ohnehin eigene Thesen und Forschungsfragen. Insofern kann die Entscheidung des Autors, bei einer gegenstandsnahen Untersuchung wie der vorliegenden auf thesengeleitete, fokussierte Narrative zu verzichten und sich auf eine transparente Ausbreitung des Quellenmaterials zu konzentrieren, durchaus pragmatisch begründet werden. Der große Wert der Untersuchung liegt in der engen Verbindung der Textanalysen der PJ-Artikel mit dem Korpus ungedruckter Quellen und einer filigranen Einbettung in den Zeitkontext, die zu vielen aufschlussreichen, zuverlässigen Beobachtungen führt.

Anmerkungen:
1 Grundlegende Arbeit: Otto Westphal, Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus. Eine Untersuchung über die Preußischen Jahrbücher und den konstitutionellen Liberalismus in Deutschland von 1858 bis 1863, München 1919.
2 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006.