A. Harrington: German Cosmopolitan Social Thought

Cover
Titel
German Cosmopolitan Social Thought and the Idea of the West. Voices from Weimar


Autor(en)
Harrington, Austin
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 439 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gangolf Hübinger, Vergleichende Kulturgeschichte, Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Über die Weimarer Republik und ihre intellektuellen Freunde wie Feinde schien längst alles geschrieben. Aber im Vorfeld der Erinnerungswelle „Hundert Jahre Gründung der ersten deutschen Demokratie“ werden die Karten neu gemischt. Auch die vorliegende Studie des an der University of Leeds tätigen Soziologen und Philosophen Austin Harrington eröffnet neue Perspektiven.

Neun „voices from Weimar“ sind es, aus denen Harrington in seinem Buch einen politischen Chor formt. Die Stimmen sind in der Reihenfolge ihres Todesjahres zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik: Georg Simmel (1858–1918), Max Weber (1864–1920), Ernst Troeltsch (1865–1923), Max Scheler (1874–1928), Ferdinand Tönnies (1855–1936), Karl Mannheim (1893–1947), Ernst Robert Curtius (1886–1956), Alfred Weber (1868–1958) und Karl Jaspers (1883–1969). Es ist ein Chor aus bürgerlichen und liberalen Sozialwissenschaftlern und Kulturphilosophen. Harrington faßt sie zu einem spezifischen intellektuellen Milieu zusammen. Was ihn fasziniert, sind die Texte, die dieses Milieu zwischen 1914/18 und 1933 produziert hat und die er wie eine gemeinsame Partitur liest.

Die Grundidee des Buches ist originell. So, wie die postcolonial studies um Dipesh Chakrabarty aus einer außerwestlichen Perspektive über „provincializing Europe“ nachgedacht haben, so können die deutschsprachigen Sozialdenker als Stimmen der innereuropäischen Kritik an einer geradlinig und evolutionistisch gedachten „long road West“ gelesen werden. Sie stehen für ein provincializing the West in kosmopolitischer Absicht: „German cosmopolitan social thought of the Weimar years decentres, relativizes or ‚provincializes‘ European consciousness from a location immanent to European intellectual history.” (S. 5)

Diese These hat für Harrington mehrere Implikationen, bezogen auf die „westlichen“ Ordnungsideen zu demokratischen Institutionen, zu kapitalistischer Ökonomie und zu kulturellem Individualismus. Zuerst: Es gibt unterschiedliche liberale Traditionen in Europa, über „global change“, ausgelöst durch den Kapitalismus als „schicksalhafteste Macht des modernen Lebens“ (Max Weber), nachzudenken. Die Sozialwissenschaftler im deutschsprachigen Raum haben in der Tradition des Historismus und mit einer neuartigen Wissenssoziologie hierfür ein hohes Reflexionspotential entwickelt. Ihre kulturkämpferischen Schriften im Ersten Weltkrieg sollten deshalb nicht als aggressive Verteidigung eines antiwestlichen „Sonderwegs“ gelesen werden. Ihr „protest at the West“ sei vielmehr als ein Plädoyer für „cultural and civilizational plurality“ zu verstehen, also für eigene historische Pfade in die europäische und „westliche“ Moderne.

Zweitens: Die ausgewählten Sozialwissenschaftler und Intellektuellen haben sich in universalgeschichtlicher Perspektive kritisch, aber konstruktiv mit Narrativen vom „Westen“ auseinandergesetzt. Sie haben in weltbürgerlicher Absicht immer auch „western traditions“ verteidigt. Sie haben die vielen Verflechtungen zwischen deutschen und westlichen Traditionen aufgezeigt und gewürdigt, ohne ihren analytischen Blick eurozentrisch zu reduzieren. Das macht sie nach Harrington für unsere Gegenwart anschlußfähig. In ihrem historischen Denken werden Traditionslinien sichtbar, die „essentially survive problems of ‚Eurocentrism‘ and continue to suggest ways in which these problems can be tackled directly in the present day” (S. 2).

Harrington's „Voices from Weimar“ stehen drittens auf einer konkreten Bühne. Sie besitzen im wörtlichen Sinne einen „Denkstandort“, und das ist Heidelberg, das „living medium of contemporary collective self-reflection“. Äußerlich eine romantische Provinz, aber intellektuell ein „Weltdorf“ mit kosmopolitischer Ausstrahlung. Ein geistiges Gegengewicht zur imperialen Metropole Berlin, vergleichbar mit Goethes Weimar ein Jahrhundert zuvor (S. 126). Mehr als für die Universität selbst gelte das für Alfred Webers Institut für Sozial- und Staatswissenschaften. Harrington folgt hier älterer Forschung, die dieses Institut als das Zentrum eines liberalen und sozialpolitisch reformorientierten Denkens in Deutschland beschreibt, weil es besonders intensiv die Auseinandersetzung mit Kapitalismus und Demokratie, den beiden Säulen des westlichen Modells, gesucht hat. Dieser Einschätzung lässt sich viel abgewinnen. Konsequent wäre deshalb gewesen, den Ökonomen und Soziologen Emil Lederer (1882–1939) an der Stelle von Max Scheler in den Chor aufzunehmen. Denn Scheler hat sich nur am Ende seines Lebens an der Universität zu Köln positiv mit den Fragen auseinandergesetzt, die Harrington's Buch aufwirft. Lederer dagegen hat den liberal-sozialen „Geist von Heidelberg“ durch seine regelmäßigen Publikationen zu Sozialwissenschaft und Sozialpolitik mit geprägt, sogar japanische Erfahrungen beigesteuert.

Max Weber und Ernst Troeltsch, die beiden Heidelberger Meisterdenker, werden in der Regel als intellektuelle Zwillinge behandelt. Zu den Pointen des Buches gehört es, sie als die beiden Gegenpole im Feld der Weimar-Voices darzustellen. Um im Bild des Chores zu bleiben: Troeltsch wird als Vorsänger gesehen, während Weber mit seiner dissonanten Stimme zum Problemfall gerät. Es ist vor allem ein Text, der Troeltsch zum Vordenker eines deutschen Pfades in die globale und nach 1918 westlich dominierte Moderne macht. Das ist der Festvortrag über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“, den er zum zweiten Jahrestag der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin hielt.1 Eindringlich warb Troeltsch für eine Kultursynthese aus Deutschem Idealismus und westlicher Aufklärung, aus deutscher Sozialstaatlichkeit und angelsächsischem Individualismus. Die Gegenwart erfordere eine solche Kultursynthese, weil ihre sozialen Probleme in den „Horizont des Weltbürgertums und der Menschheitsgemeinschaft“ gerückt werden müssen. Während Troeltsch also so intensiv wie kein anderer Zeitdiagnostiker über die Verflechtung deutscher und westlicher Kulturtraditionen nachdenkt, fügt Weber die Kategorie „Kampf“ in seine soziologischen Grundbegriffe ein. Damit bringt er zum Ausdruck, alle sozialen Beziehungen primär als Konfliktbeziehungen zu beobachten und zu beschreiben. Besonders gilt dies für politische Gemeinschaften. Für Harrington bleibt Weber insofern ein Mann des 19. Jahrhunderts, so wie er zwischen Imperien und kleinen Kulturvölkern unterscheidet und nur den „Weltmächten“ das Recht einräumt, am Rad der Weltgeschichte mitzudrehen (S. 166). Andererseits entgeht Harrington nicht, wie stark Webers Theorie der Moderne auf Großbritannien und Amerika fixiert ist. Für Webers Idealtypus des „charismatischen Führers“ dient ihm der britische Staatsmann William Ewart Gladstone als Vorbild. Die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft als Basisprozeß der Moderne veranschaulicht er am amerikanischen Sekten- und Clubwesen. Und das in der klaren Absicht, den Deutschen ihre Untertanenmentalität abzugewöhnen. Harrington vermutet mit Recht, dass sich Weber intensiv auf die internationalen Kooperationen und Verträge eingelassen hätte, wäre er nicht im Juni 1920 gestorben, zu einer Zeit, als der Vertrag von Versailles mit seinen Schuldzuweisungen den öffentlichen Diskurs beherrschte.

Wie Troeltsch sich eingelassen hat, wissen wir besser, denn bis zu seinem Tod im Februar 1923 nahm er in zwei Serien von 32 „Spectator-Briefen“ und 24 Berliner Briefen zu allen Fragen der Neuordnung Deutschlands und Europas im Horizont der von Amerika beherrschten Welt ausführlich Stellung. Es ist die bedeutendste Quelle, die wir aus Sicht des total verunsicherten Bürgertums für diese revolutionäre und nachrevolutionäre Zeit zwischen 1919 und 1922 besitzen.2

Einer, der sich Troeltsch intensiv angeeignet hat, war der zwischen 1924 und 1929 in Heidelberg lehrende Romanist Ernst Robert Curtius. Troeltsch, so rezipiert ihn Curtius, habe den Deutschen den Weg gewiesen, ihren „Wirklichkeitssinn“ zu schärfen und ihr eigenes historisches Selbstverständnis mit dem „westlichen Demokratismus“ im „Horizont des Weltbürgertums und der Menschheitsgemeinschaft“3 („under a ‚horizon of the cosmopolitan world community‘“, S. 116) zu versöhnen. Es war ein guter Entschluß, Curtius in den Chor der Heidelberger Liberalen einzubeziehen.4 Denn eine weitere Pointe des Buches besteht darin, dessen große Kontroverse mit Karl Mannheim Mitte der 1920er-Jahre nicht als fundamentalen Gegensatz zu werten. Vielmehr sei sie als eine sich ergänzende Sicht auf die bedrohte Mündigkeit des selbstverantwortlichen Individuums im „neuen Europa“ zu sehen. Nur, beide haben ihr Vorbild Troeltsch auf unterschiedliche Weise studiert. Während Curtius gegen die pluralisierten Weltanschauungen den überzeitlichen Wert kulturell tradierter Bildungsgüter einklagt, besteht Mannheim darauf, den Erwerb des europäischen Bildungswissens einer Reflexion des eigenen sozialen Standorts zu unterziehen. Gerade diese Kontroverse zeigt: in Deutschland sind es die Heidelberger Intellektuellenkreise, von denen die moderne Soziologie des Wissens ihren Ausgang nimmt und den kritischen Umgang mit allen konkurrierenden Weltanschauungen steigert.

Je mehr man sich durch die sieben Kapitel liest und die Belesenheit bewundert, mit der Harrington seine Protagonisten in den Weimarer Ideenkämpfen agieren und für eine weltoffene Gesellschaft kämpfen lässt, um so neugieriger fragt man am Ende: was genau heißt denn jetzt „der Westen“? Harrington führt die dem Westen zugeschriebenen Attribute nicht systematisch zusammen. Er konstruiert keinen Idealtypus im Sinne Max Webers. Stattdessen wählt er den Weg einer ideengeschichtlichen Abgrenzung. Dem neuen „Aufbau der europäischen Kulturgeschichte“, wie ihn Ernst Troeltsch entwarf, hält er im achten Kapitel unter der Überschrift „European nihilism“ die antiliberalen Positionen von Carl Schmitt und Leo Strauss entgegen. Gleichwohl ist zur politischen Sprache der Zeit genauer nachzufragen: Wer spricht in welcher Absicht der Ablehnung oder der Aneignung im Kollektivsingular von „dem Westen“? Vor hundert Jahren, nach dem Ersten Weltkrieg, begann die Karriere dieses Sammelbegriffs. Max Weber selbst vermied ihn, und es ist wiederum Ernst Troeltsch, der ihn mit prägte und zugleich auf seine changierende Bedeutung verwies, als er sich mit Karl Radeks kommunistischem Engagement in Deutschland auseinandersetzte: „Der ‚Westen‘, gegen den er [Radek] und verwandte Geister kämpfen wollen, ist keine Einheit. Das französische und das angelsächsische System sind total verschieden […]. Mit dem englischen System kann man leben, mit dem französischen nicht.“5 Ernst Robert Curtius hat dies genau anders herum beurteilt. Also nicht erst seit Jürgen Habermas sprechen wir vom „gespaltenen Westen“.

Im abschließenden neunten Kapitel, „Protesting the West: yesterday and today“, kommt Harrington auf seinen Grundimpulse zurück, dieses Buch zu schreiben. Eine „intellectual history“ war ihm nicht genug, eine „historically informed normative social theory“ sollte es werden. In kritischer Auseinandersetzung mit Ulrich Beck, dessen Idee des „kosmopolitischen Europa“ ihm zu abstrakt erscheint, hält er eine dritte Pointe bereit. Die „reflexive Moderne“, in der sich die Industriegesellschaften selbstkritisch mit ihren Lebensweisen auseinandersetzen, habe nicht erst nach dem Boom der Wohlstandsjahre in den 1970er-Jahren begonnen. Ein reflexives „protesting the west“, sensibel für die europäische Provinzialisierung in der globalen Neuordnung nach 1918 und nicht zu verwechseln mit antiwestlichem Nationalismus, habe unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt. Deshalb könne das Reflexionsniveau der liberalen Weimarer Sozialwissenschaftler den Gegenwartsdebatten um den erodierenden und zerstrittenen Westen als Lehrstück dienen (S. 351–358).

Harrington ist nicht so sehr an der sozialökonomischen Dimension seiner Thematik interessiert, die Kontroversen um Entgrenzung oder Bändigung des „Kapitalismus“ werden eher vernachlässigt. Umso mehr kommt die sozialphilosophische Dimension zum Ausdruck. Karl Jaspers hat denn auch das letzte Wort, „any collective individuality should be understood as becoming, or needing to become ‚individual not against the general but through the general‘“ (S.373). Mit Jaspers bringt Harrington sein Anliegen noch einmal auf den abschließenden Punkt. Kosmopolitisches Denken bedarf des Denkens in kultureller Differenz. Entsprechend kämpfen seine Protagonisten intellektuell an einer doppelten Front: gegen eine eindimensionale und evolutionistische Geltungsgeschichte der westlichen Zivilisation verteidigen sie eben diese kulturelle Differenz nationaler Traditionen. Aber mehr noch attackieren sie einen Nationalismus, der suggeriert, sich den Verflechtungen der modernen Welt entziehen zu können. Austin Harrington führt uns mit seiner lesenswerten Studie vor Augen, wie lohnend in Zeiten neuester Unübersichtlichkeit die Auseinandersetzung mit den Voices from Weimar sein kann. Und wie widersinnig es ist, mit dem gegenwärtigen Narrativ vom „Neo-Liberalismus“ alles zu verdecken, was die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts an Potentialen des sozialen und kulturellen Liberalismus bereithält.

Anmerkungen:
1 Ernst Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, mit der Dokumentation der Überlieferungsgeschichte in: Ernst Troeltsch, Schriften zur Politik und Kulturphilosophie 1918–1923, hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit, Berlin 2002 (KGA 15), S. 477–512.
2 Ernst Troeltsch, Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Nikolai Wehrs, Berlin 2015 (KGA 14).
3 Ernst Robert Curtius, Französischer Geist im neuen Europa, Stuttgart 1925, Zitate S. 278, 280.
4 Bestätigt wird dies durch die vorzügliche Edition von Ernst Robert Curtius, Elemente der Bildung, hrsg. von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht, München 2017; zum Ort der 1932 in den Druckfahnen vorliegenden aber nicht zur Publikation gelangten Schrift in der Kulturgeschichte Weimars siehe das ausführliche „Nachwort“ von Ernst-Peter Wieckenberg, ebd., S. 221–400.
5 Ernst Troeltsch, Die neue Weltlage (Juni 1922), in: Troeltsch, Spectator-Briefe, S. 536–547, Zitat S. 547.

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