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Titel
Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918


Autor(en)
Judson, Pieter M.
Erschienen
München 2017: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
667 S., 7 Karten, 40 Abb.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klemens Kaps / Oliver Kühschelm, Universität Wien

Die Habsburgermonarchie als Untersuchungsgegenstand erfreut sich nicht nur im deutschen Sprachraum eines regen geschichtswissenschaftlichen Interesses, sondern auch auf der anderen Seite des Atlantiks. Seit Robert A. Kanns Pionierarbeiten aus den 1950er- bis 1970er-Jahren hat sich die einschlägige Forschung in den USA dynamisch entwickelt. Pieter M. Judson leistete bislang insbesondere wichtige Beiträge zur Erforschung von Nationalisierungsprozessen und zum Liberalismus in der Habsburgermonarchie.1 Aus der Überschneidung dieser beiden Interessenschwerpunkte ergeben sich die zentralen Annahmen, die das Narrativ seiner jüngsten Monographie strukturieren: Die Habsburgermonarchie hatte mehr Potential zu liberaler Staatlichkeit als oft angenommen und sie war weniger durch Nationalismen dominiert und gefährdet als meist unterstellt.

Judson folgt in seiner Neuerzählung der Geschichte des Habsburgerreichs erklärtermaßen einer konventionellen Chronologie. Als Ausgangspunkt nimmt er den Regierungsantritt Maria Theresias und die nach dem Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) einsetzenden Reformen. Die administrative, fiskalische und militärische Zentralisierung insbesondere der böhmischen und österreichischen Länder verwandelte die Habsburgermonarchie von einem „zufälligen Reich“ in einen „vereinigten und vereinigenden Kaiserstaat“ (S. 17), der in der Lage war, sich in Europas geopolitischer Landschaft zu behaupten. Die tatsächliche Durchsetzung zentralstaatlicher Institutionen, Regulierungen und Normen überschätzt er vermutlich bzw. setzt er die Entwicklung zu früh an.2 Er weist aber auf einen wichtigen Aspekt hin:3 Die Umgestaltung dämmte nicht nur adelige Privilegien im Interesse des Gesamtstaats ein, sondern mobilisierte die bäuerlichen Schichten der stark agrarisch geprägten Monarchie, indem sie ihre Rechte stärkte. Das wies den Weg zur staatsbürgerlichen Gleichberechtigung und stellte das Reich auf eine breite soziale Basis.

Dieses proto-liberale Reich, das unter den weitreichenden Reformbestrebungen Josephs II. seinen Höhepunkt erreichte, wurde auch durch die Rückzugsgefechte Leopolds II. bis hin zu der konservativen Umdeutung der Reichsidee unter Franz II./I. weiter gefestigt. Judson betont die Kontinuitäten mehr als die Brüche. Die Zentralisierungsbestrebungen der Monarchen förderten eine zunehmend bürgerlich geprägte Bürokratie, die einem Staatspatriotismus das Wort redete. Demgegenüber stützten sich regionale Eliten, insbesondere in Böhmen, Galizien oder Ungarn, auf einen adelig geprägten Nationsbegriff, um ihre sozialen Interessen zu verteidigen.

In seiner Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen zwischen dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 und der Revolution von 1848 weist Judson überkommene Vorstellungen zurück: So verfügte der Metternich’sche Polizeistaat allein aufgrund der prekären Staatsfinanzen über einen weniger langen Arm als die Sicherheitsapparate in Großbritannien und Frankreich, die als weit weniger repressiv gelten. Die staatliche Kontrolle konnte zwar die Verbreitung neuer Ideen und politischer Debatten verzögern, nicht aber gänzlich verhindern. Wirtschaftlich brachte die einsetzende Industrialisierung, die von der Regierung durch gesetzliche Regelungen wie das Patentrecht und die Liberalisierung des Handels zumindest sanft unterstützt wurde, einschneidende Umwälzungen – jedoch nicht überall in gleichem Maß, wie für Galizien und Dalmatien eindrücklich belegt ist. Auch hier gerieten aber feudale Machtverhältnisse zunehmend unter Druck. Das frühneuzeitliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen Grundherren und bäuerlichen Untertanen erwies sich als immer weniger tragfähig: Nationalistisch geprägte adelige Gutsbesitzer und rebellische bäuerliche Schichten gerieten zueinander in Frontstellung und bezogen sich beiderseits auf Dynastie und Reich, um ihre sozialen Forderungen zu formulieren.

Die sich eigentlich aus mehreren unterschiedlich gelagerten und sich teilweise überlappenden Aufständen ergebende Revolution von 1848 interpretiert Judson nicht als Aufstände, die in ihrer Hauptstoßrichtung den Fortbestand des Imperiums zur Disposition stellten; mit den evidenten Ausnahmen in Lombardo-Venetien und Ungarn. Vielmehr sieht Judson eine überwiegend liberal-demokratische Bewegung am Werk, die eine „Umgestaltung übergeordneter und abstrakterer Formen kaiserlicher Herrschaft“ (S. 229) anstrebte, um die politische Teilhabe auszuweiten. Diese Forderung verpackten die Akteure vielerorts in das Schlagwort der Nation, die im Zuge der Revolution ihre Bedeutung wandelte: Anstelle einer Beschränkung auf adelige Eliten bezog sie ihrem Anspruch nach nun alle sozialen Gruppen entlang von Sprach- und Konfessionsgrenzen ein.

In der Entwicklung seit den 1850er-Jahren erkennt Judson die Fortsetzung des Wegs zu einem „liberalen Imperium“. Dem ging massive Repression voraus, hatte doch das Militär die Revolutionen der Jahre 1848/49 niedergeschlagen, und er begann mit einem Jahrzehnt der neoabsolutistischen Ambition, mit Diktatur statt Parlamentarismus. Dass Judson hier die Entstehung eines liberalen Imperiums erblickt, mag zunächst überraschen, trifft aber etwas Wesentliches: die Formierung eines Amalgams aus expandierender Staatlichkeit und (groß)bürgerlichem Liberalismus, dessen Möglichkeiten und Grenzen ein Leitmotiv von Judsons Darstellung bis zum Ersten Weltkrieg bilden.

Judson weist darauf hin, dass sich nicht nur nationalistische Mobilisierungen an diesem liberalen Imperium rieben, sondern ebenso politische Fokusbildungen, die sich um religiöse und soziale Beunruhigungen ausbildeten. Er setzt Nationalismus nicht als Faktor an, der Alltag und Politik umfassend prägte, mithin als eine Dynamik, die einmal in Gang gesetzt, fortan Ereignisse und politische Konjunkturen unweigerlich bestimmte. Demgegenüber schlägt der Autor im konzeptuell gewichtigsten Abschnitt des Buchs drei Zugriffsweisen vor: In Einklang mit großen Teilen der Forschung zu Nationalismus seit den 1980er-Jahren betont er erstens die Konstruktionsleistung4, die er auf die Platzierung im politischen Raum bezogen sieht. Sie brachte erst hervor – und das nur unvollständig –, was sie voraussetzte: dass Menschen in großer Zahl die eindeutige Zuschreibung zu einer Nation für sich als bindend betrachteten. Zweitens hebt Judson den ereignisgetriebenen und situationalen Charakter von Nationalismus hervor. Es gelte zu untersuchen, wie und in welchem Ausmaß es gelang, die Nation dem Alltag einzulagern. Ihre Propagandisten beunruhigte es, dass auf Spitzen der Aufmerksamkeit für die Nation immer wieder lange Phasen relativer Gleichgültigkeit folgten, in der die Nation eben nicht als bestimmende Alltagsgröße auftrat. Drittens wendet sich Judson gegen eine Analyse, die Konzepte der Nation aus ihrer Interaktion mit den Ideen und Institutionen des Imperiums löst bzw. davon ausgeht, dass den Nationalismen das Ziel einer Beseitigung des Habsburgerreichs immanent war. Stattdessen müsse man ebenso sehen, dass Institutionen, Praktiken und Konzepte, die sich auf das Reich bezogen, und jene, die um die Nation kreisten, einander stärken konnten. Das Habsburgerreich war das institutionelle Gefüge und die Plattform für überregionale Aushandlungsprozesse, das viele Akteur/innen als gegebenen und geeigneten Rahmen für die kulturelle, politische und wirtschaftliche Entfaltung ihrer Nationen betrachteten.

„Unser tägliches Reich“ heißt das Kapitel, das die Alltagsdimensionen des Imperiums in den Mittelpunkt stellt. Der suggestive Titel lässt das Reich nicht nur als Gegenstand von ritualisierter Anbetung erscheinen, sondern ebenso als Teil lebensweltlicher Erfahrung und einer ihr verbundenen spirituellen und materiellen Hoffnung. Judson streicht hervor, dass in der Tat viele Menschen tagtäglich Gelegenheit hatten, das Reich als „ihres“ wahrzunehmen und zwar maßgeblich als selbstverständlichen Rahmen der Moderne.

Im abschließenden Kapitel seines Buchs interpretiert Judson den Ausbruch des Ersten Weltkriegs dennoch weniger als Ergebnis geopolitischer Spannungen, sondern als innenpolitisch motivierten, konservativ-absolutistischen Gegenangriff auf das konstitutionelle System der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Kreise um Dynastie und Armee erblickten eine Gelegenheit, die konstitutionellen Errungenschaften und insbesondere den Ausgleich mit Ungarn rückgängig zu machen. Das Kapitel setzt somit den abschließenden Kontrapunkt zum Narrativ vom Ausbruch aus dem „Völkerkerker“, das nationalistische Diskurse dominierte.

Das Buch, dem Judsons eigene langjährige Forschungen zugrunde liegen, vollbringt eine gewaltige Syntheseleistung, die auf der breiten Rezeption jüngerer Forschungsarbeiten aus verschiedenen nationalen Historiographien beruht. Synthesen haben eine rückblickende Dimension, insofern sie eine Bestandsaufnahme bisheriger Auseinandersetzung bieten, deren Schwerpunkte und Perspektiven aufnehmen. Sie können trotzdem insofern „neu“ sein, als sie ihr Material gegen den Strich bürsten, Fragen für künftige Forschung aufwerfen und dieser eine neue Richtung geben. Das entspräche der Verheißung, die der Untertitel zur englischen Originalausgabe macht: „a new history“. Diesem Anspruch wird Judson dort gerecht, wo er politik- und kulturgeschichtliche Akzente setzt – als Gestaltungsprinzip, indem er die soziale und lebensweltliche Konkretisierung des Reichs seit den Reformen des Aufgeklärten Absolutismus untersucht. Seine wichtigste Leistung erbringt das Buch jedoch, indem es Imperium und Nation in der Analyse der Herausbildung nationaler Identitäten nicht als einander ausschließende Pole behandelt, sondern eine vielgestaltige Wechselbeziehung nachzeichnet.

Anmerkungen:
1 Pieter M. Judson, Exclusive revolutionaries. Liberal politics, social experience, and national identity in the Austrian Empire, 1848–1914, Ann Arbor 1996; Ders., Guardians of the nation. Activists on the language frontiers of imperial Austria, Cambridge, Mass. 2006.
2 Siehe dazu: Andrea Komlosy, Grenze und ungleiche regionale Entwicklung, Wien 2003; Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, München 2017, S. 177–245.
3 Er folgt hier u.a. den Forschungen von Anton Tantner, Die Hausnummer: eine Geschichte von Ordnung und Unordnung, Marburg 2007; Michael Hochedlinger / Anton Tantner (Hrsg.), „... der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig“. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770–1771 (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs; Sonderband 8), Innsbruck 2005.
4 Judson zitiert in einem raren Verweis auf historisch-soziologische Forschung: Rogers Brubaker, Ethnicity without groups, Cambridge, Mass. 2004.

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