Titel
Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik


Autor(en)
Jones, Mark
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Dirk Schumann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Wie Genese und Eskalation der im Frühjahr 1919 einen schrecklichen Höhepunkt erreichende Bürgerkriegsgewalt zu erklären sind, ist in der neueren Historiographie zur Revolution 1918/19 nicht grundsätzlich strittig. Dass die sozialdemokratische Regierung unter Friedrich Ebert berechtigt war, gegen linksradikale Umsturzversuche auch mit militärischen Mitteln vorzugehen, wird nicht prinzipiell bezweifelt. Außer Frage steht auch, dass beide Seiten an der Eskalation seit den Weihnachtskämpfen 1918 Schuld trugen und dafür übersteigerte Erwartungen einer zweiten Revolution auf der einen Seite und eine Überschätzung ihrer Trägerschaft sowie überzogene Ängste vor einem drohenden Chaos auf der anderen die zentrale Rolle spielten. Wie groß der jeweilige Anteil zu bemessen ist, bleibt freilich umstritten. Ob eine andere Militärpolitik, die den Aufbau eindeutig republiktreuer Einheiten vorangetrieben hätte, erfolgreich gewesen wäre und die Gewalteskalation hätte abwenden können, ist eine offene Frage.

Mark Jones, dessen Studie aus einer am Europäischen Hochschulinstitut Florenz entstandenen Dissertation hervorgegangen ist, verspricht nun, „die erste eingehende historische Analyse der Rolle blutiger Gewalt in der Novemberrevolution“ (S. 11) vorzulegen und wartet mit sehr pointierten Argumenten auf. Daran hat auch der Verlag mitgewirkt, der den deutschen Leser/innen nicht nur nicht zu viele Fußnoten mit genauen Seitenangaben der zitierten Literatur zumuten wollte, sondern wohl auch hoffte, durch plakative Thesen für Aufmerksamkeit zu sorgen. So ist die deutsche Ausgabe keineswegs eine direkte Übersetzung der bei der Cambridge University Press 2016 erschienenen Originalversion, sondern eine an vielen Stellen umgearbeitete und zugespitzte Fassung mit gekürzter Forschungsdiskussion. Das mag die Lesbarkeit erleichtern (wozu auch die gute Übersetzung beiträgt), sollte aber nicht modellhaft werden.

Jones untersucht die Formen und die Entwicklung der Gewalt, die politischen Positionierungen zu ihr und die Kommunikation über sie, insbesondere vor Gericht und in der Presse. Als Quellen zieht er neben einer Vielzahl staatlicher Akten zeitgenössische Erinnerungsliteratur und Artikel aus 60 Zeitungen heran, vornehmlich allerdings von solchen aus Berlin. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den Gräueltaten. In den Revolutionsmonaten „war Gewalt Politik, und Politik war Gewalt“ (S. 13), hält Jones fest; diesem „Grundcharakter der Epoche“ (S. 14) und vor allem der Verantwortung der Mehrheitssozialdemokratie für die Gewalteskalation sei bisher nicht hinreichend Rechnung getragen worden. Neue konzeptionelle Wege, die er aus der Historischen Semantik oder dem „spatial turn“ hätte beziehen können, beschreitet Jones in seiner Untersuchung allerdings nicht. Im Kern ist sein Zugriff die Kombination einer ‚dichten Beschreibung‘ von Gewaltkomplexen mit einer konventionellen Pressediskussion. Der Aufbau der Arbeit folgt der Chronologie. In 15 Einzelkapiteln beschäftigt sich Jones mit der Entwicklung der Gewalt im Zeitraum zwischen den letzten Kriegswochen und der Niederschlagung der Münchener Räterepublik, konzentriert auf die Schauplätze Kiel, Berlin und München.

Die weitgehende Gewaltarmut der ersten Revolutionswochen, ungeachtet aller Ängste vor einer konterrevolutionären „Offiziersverschwörung“ (S. 51) ähnlich der „Grande Peur“ in der Französischen Revolution, erklärt Jones mit dem Charakter der revolutionären Bewegung als einer Antikriegsbewegung. Plastisch schildert er die von Gerüchten und Nervosität gekennzeichnete Atmosphäre in Kiel, Berlin und anderen Großstädten, in der sich die Furcht vor einer Radikalisierung nach russischem Muster zunehmend auf die Person Liebknechts fixierte, verstärkt durch zeitgenössische Annahmen über die Relevanz von Führerfiguren für das Verhalten der ‚Masse‘. Nach der misslungenen Aktion einer Militäreinheit unter einem Feldwebel Spiro, die Ebert zum Diktator ausrufen wollte, fielen erste tödliche Schüsse aus einem Maschinengewehr im Herzen Berlins, abgefeuert von Regierungseinheiten. Vermutlich waren sie das Resultat von Nervosität und Autosuggestion, ihnen folgten aber Schuldzuweisungen der Presse an den Spartakusbund, dessen Anhänger dann ihrerseits auch unter Mitnahme von Maschinengewehren demonstrierten, was die Atmosphäre weiter aufheizte.

Als Wendepunkt sieht Jones im Einklang mit der bisherigen Forschung die Weihnachtskämpfe um den Marstall nach der Gefangennahme des sozialdemokratischen Stadtkommandanten Otto Wels durch Angehörige der Volksmarinedivision. Sie brachte Ebert, dessen Wahrnehmung auch unmittelbarer persönlicher Bedrohung Ende Dezember 1918 in Jones' Darstellung deutlich fassbar wird, dazu, seine bisherige Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz militärischer Gewalt gegen bewaffnete Aufständische aufzugeben. Eine von der Forschung bisher nicht angemessen gewürdigte große Demonstration von Anhängern der Mehrheitssozialdemokratie sowie der DDP nach den Kämpfen versteht Jones als Bestätigung und weitere Triebkraft der harten Linie der Regierung, die sich, wie dies der Chefredakteur des „Vorwärts“, Friedrich Stampfer, formulierte, vor die Alternative „Volksherrschaft“ oder „Verbrecherherrschaft“ (S. 127) gestellt sah. Ausführlich widmet Jones sich dann dem Januaraufstand in Berlin. Eindringlich arbeitet er den wiederum von Gerüchten, übersteigerten Hoffnungen und Befürchtungen und Gewaltrhetorik geformten Erwartungshorizont auf beiden Seiten heraus, der eine Verhandlungslösung, wie sie die USPD anzubahnen versuchte, ausschloss. Anhand der öffentlichen Diskussionen über den Mord von gefangenen Aufständischen in der Dragonerkaserne und der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburg legt er insbesondere die Verhärtungen und Verdrängungen auf Seiten der Regierung und der sie unterstützenden Presse dar. Anregend ist seine These, die von den Regierungstruppen angewandte Gewalt sei auch deshalb so exzessiv gewesen, weil sie über ihre unmittelbare Funktion hinaus als „kommunikativer Akt“ (S. 210) dem von großer Bolschewismusfurcht erfassten Teil der Bevölkerung signalisieren sollte, dass die Regierung ein Chaos wie in Russland mit allen Mitteln verhindern werde. Wenn Jones jedoch den Mehrheitssozialdemokraten vorhält, sie hätten im Januar 1919 „ihre Herrschaft mit blutiger Gewalt“ (S. 189) verteidigen wollen, ist dies schon deshalb eine fragwürdige Formulierung, weil von einer wirklichen „Herrschaft“ mit umfassenden Gestaltungsmöglichkeiten nicht wirklich die Rede sein konnte.

Detailliert beschäftigt sich Jones dann mit den Berliner Märzkämpfen. Deren Verlauf ist ebenso wie die zentrale Rolle Noskes in den Grundzügen bereits von der Forschung herausgearbeitet worden, einschließlich der Genese seines berüchtigten Schießbefehls, der auf ein Gerücht über ein angebliches Massaker an Polizeibeamten in Berlin-Lichtenberg zurückging und den die Regierungstruppen als Legitimation nutzten, schrankenlose Gewalt auch gegenüber unbeteiligten Zivilisten anzuwenden (ob das Gerücht von Hauptmann Pabst von der Garde-Kavallerie-Schützendivision lanciert wurde, lässt sich nicht eindeutig verifizieren). Jones ergänzt die bekannte Interpretationslinie um erhellende Einzelbefunde, die vor allem den weiterhin verhärteten Positionen in der öffentlichen Diskussion deutliche Konturen verleihen. Sozialdemokratische, liberale und konservative Zeitungen waren sich einig in der Unterstützung des harten Vorgehens der Regierungstruppen gegen einen vermeintlich entmenschlichten Feind, ohne dass die Lichtenberger Gräuelgeschichte kritisch hinterfragt wurde. Völlig überzogen sind dann aber die Thesen, die Jones mit der Erörterung der Märzkämpfe verbindet. Für ihn ist Noskes Schießbefehl „ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu den Schrecken des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs" (S. 254) – diese wackelige Kontinuitätskonstruktion wird aber nicht näher erläutert. Wenn er behauptet, die „wirklichen Gründungspfeiler der Republik waren Gewalt und negative Mythen über die im Magma der Revolution rumorenden Gefahren“ (S. 291), diskutiert er dies auch nicht ansatzweise im Kontext anderer zentraler Aspekte der Weimarer Gründungsgeschichte wie des Frauenwahlrechts und der Verfassungsgebung und der damit gegebenen Gleichheits- und Sozialstaatsversprechen. Dass diese provokanten Thesen die Forschung weiterführen, darf bezweifelt werden.

Die letzten beiden Kapitel der Studie kontrastieren die von den Trägern der zweiten Münchener Räterepublik angewandte Gewalt mit der viel weiter reichenden der Freikorps, die gegen sie vorgingen. Auch hier lässt Jones die von der bisherigen Forschung erarbeiteten Befunde prägnanter werden. Plastisch wird das Feindbild der auch sexueller Gewalt schuldigen „jüdischen Bolschewisten“ (allerdings geht es um ein von revolutionärer Seite erschossenes Opfer, und zwar die Gräfin Hella – nicht „Haila“ – von Westarp, S. 294), gegen die jegliche Gewalt gerechtfertigt schien. Instruktiv ist Jones' Darstellung der öffentlichen Debatte um die Ermordung völlig unbeteiligter Mitgliedern eines katholischen Gesellenvereins, die in einer gerüchteschwangeren Atmosphäre von Freikorpsmitgliedern für „Spartakisten“ gehalten wurden. Da die Getöteten eben dies aber zweifelsfrei nicht waren, wie sich rasch herausstellte, war die öffentliche Empörung groß. Jones, der in den zuvor behandelten Auseinandersetzungen seit Ende 1918 eine Übertragung von Denk- und Verhaltensmustern des Krieges auf den Umgang mit dem innenpolitischen Feind erkennt, betont hier nun die Grenzen einer solchen „Brutalisierung“ und fragt zu Recht, wie die vorherigen Konflikte verlaufen wären, hätte es einen vergleichbaren Fall gegeben.

Jones' Studie führt insgesamt in großer Eindringlichkeit vor Augen, wie sich die politische Polarisierung zwischen November 1918 und dem Frühjahr 1919 vollzog und Gerüchte, Ängste, Feindbilder und Autosuggestionen eine Atmosphäre generierten, in der mit wenig Skrupeln ausgestatteten Akteure wie Noske und noch rücksichtslosere Militärs das Handeln auf Regierungsseite zu bestimmen vermochten. Der Verfasser kann sich dann aber nicht so recht entscheiden, ob er die Bürgerkriegssituation möglichst präzise in ihrer Komplexität darlegen oder doch vor allem die MSPD-Führung wegen ihres vermeintlich ausgeprägten Machtwillens und ihrer Rücksichtslosigkeit anprangern soll. Gleichfalls uneindeutig fällt seine Bewertung der längerfristigen Folgen der untersuchten Gewalt aus. Einerseits betont er in seinem Fazit die Leistungen und Überlebenschancen der Weimarer Republik, andererseits sieht er sie als „Inkubationsraum für das Dritte Reich“ (S. 343). Jones hätte seine Befunde zur Gewalt in der Revolution weiter differenzieren können, wenn er die neueren Forschungen zum Militär in der Revolution und den ersten Weimarer Jahren genauer rezipiert hätte, die die grundsätzliche Kooperationsbereitschaft auch der Sozialdemokraten ebenso wie ihr Hinwirken auf eine republikanische Ausrichtung unterstrichen und gleichzeitig die politische Grundhaltung des neuen Militärs genauer gekennzeichnet und keineswegs durchgängig als republikfeindlich beschrieben haben.1 So verleiht Jones dem von der Forschung gezeichneten Bild der Revolution in ihren Brennpunkten vielfach schärfere Konturen und gibt ihr einzelne neue Anregungen, vermag aber mit seinen sehr zugespitzten Thesen nicht zu überzeugen.

Anmerkung:
1 Neben Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933, München 2012, wäre hier die Studie von Peter Keller, „Die Wehrmacht der deutschen Republik ist die Reichswehr“. Die deutsche Armee 1918–1921, Paderborn 2014 zu nennen, die in Jones' Literaturverzeichnis nicht auftaucht.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/