J. Ranc: "Eventuell nicht gewollter Antisemitismus"

Titel
"Eventuell nicht gewollter Antisemitismus". Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern


Autor(en)
Ranc, Julijana
Erschienen
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Poensgen, Berlin

Wie wird Antisemitismus im Alltag zur Sprache gebracht, wann wird er ignoriert, kritisiert, wann wird antisemitischen Ressentiments aber auch zugestimmt – und in welcher Form? Mit dieser Fragestellung hat sich die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Julijana Ranc in der vorliegenden Studie befasst. Dass heute Antisemit/innen in Deutschland in aller Regel nicht als solche gesehen werden möchten, macht sie bereits mit dem Zitat eines Teilnehmers einer Gruppendiskussion deutlich, welches der Studie ihren Titel gibt: „Eventuell nicht gewollter Antisemitismus“. Dieses Zitat, so Ranc, „plaudert aus, was der Antisemitismus ohne Antisemiten verhehlt: daß nämlich diejenigen, die ihn kommunizieren, wohl wissen oder zumindest sehr wohl ahnen, was sie tun, und keineswegs ahnungslos an einem Tabu, dem Antisemitismus-Tabu, in der Tat rühren. Wüßten oder ahnten sie es nicht, würden sie sich kaum all der Camouflage und Mimikry, all der rhetorischen und strategischen Maskeraden, Manöver und Rechtfertigungen befleißigen, um es zu unterlaufen.“ (S. 13, Hervorhebung im Original) Hiergegen argumentiert sie in ihrer Studie „Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern“ und stellt sich damit in eine Reihe von Arbeiten in der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung, die in Abgrenzung zur quantitativen Einstellungsforschung mit Hilfe einer qualitativen Methode – der Gruppendiskussion – Aussagen zum intersubjektiv kommunizierten Antisemitismus treffen wollen.1

Julijana Ranc hat ein beeindruckendes empirisches Korpus erhoben: Von 2004 bis 2007 hat sie in 32 Gruppendiskussionen sowie 130 Einzelinterviews mit Schüler/innen, Studierenden, Lehrer/innen sowie Besucher/innen von Volkshochschulkursen Gespräche geführt und diese analysiert. Ranc bezeichnet jene Teilnehmer/innen als „Durchschnittsbürger“ und grenzt sie explizit von der „Mitte der Gesellschaft“ ab (S. 7), was jedoch nicht genauer definiert wird und somit wenig überzeugt. Zwar ist durchaus anzunehmen, dass die Teilnehmer/innen aus heterogenen und bspw. nicht rechtsextremen Milieus kommen, wie Ranc argumentiert (ebd.), was Lehrer/innen, Schüler/innen und Studierende jedoch zu „Durchschnittsbürgern“ macht – in Hinblick auf welche politische oder sozioökonomische Dimension, bleibt offen –, wird leider nicht weiter ausgeführt. Thematisch ging es in den Gruppendiskussionen um aktuelle und kontroverse politische Themen, die mit Ausnahme des Nahost-Konflikts in der Regel keinen Bezug zur Thematisierung von 'Juden' oder 'Israelis' nahelegten: Die Anschläge vom 11. September 2001, der sogenannte „Krieg gegen den Terror“, die Globalisierung, der EU-Beitritt der Türkei, die „Kopftuchdebatte“ und die Zuwanderungspolitik wurden in den Gesprächen als Diskussions-Impulse genutzt. Innerhalb dieses Rahmens wurde es den Teilnehmer/innen selbst überlassen, eigene Schwerpunkte zu setzen. Ranc will mit dieser Vorgehensweise ein „selbstläufiges Sprechen über Juden“ ermöglichen, dessen Zustandekommen durch die große Anzahl von Gruppendiskussionen gewährleistet wurde (Vgl. S. 40f.).

Ranc geht es darum, "wie antijüdische Ressentiments 'zur Sprache' gebracht werden, wenn unterschiedliche Positionen zusammen- und aufeinandertreffen." (ebd.) Untersucht werden soll jedes „Sprechen über Juden“, ob antisemitisch oder nicht, in Hinblick auf dessen intersubjektive Interaktionsdynamik sowie den prozessualen und dramaturgischen Verlauf der „Ressentiment-Kommunikation“. Dabei arbeitet Ranc aus einer an der verstehenden Soziologie nach Weber und der hermeneutischen Wissenssoziologie orientierten Perspektive. Sie liefert dabei eine Vielzahl von interessanten Erkenntnissen. Dies ist auch dann der Fall, wenn man die an der Argumentationstheorie orientierte Herangehensweise der Autorin nicht teilt, wonach Menschen von Selbstverständigungs- und Selbstvergewisserungsprozessen argumentativer Natur (S. 83f.) bestimmt seien.

Grundsätzlich hält Ranc fest: Es gibt ein großes Bedürfnis, über Kollektive und Individuen zu sprechen, die man als 'jüdisch' oder 'israelisch' wahrnimmt. Die Möglichkeit, über 'Juden' zu reden, wurde in den Gruppen schnell, ausführlich und bereitwillig wahrgenommen. Dabei unterscheidet Ranc konsensuelle, kontroverse und konfrontative Sequenzen (S. 44). Wie in diesen auf geäußerte antijüdische Ressentiments reagiert wurde, hing dabei laut Ranc weniger von deren Explizitheit ab, als davon, „wer in der Gruppe auf wen traf“ (S. 48). Hierbei unterscheidet Ranc fünf Kommunikationstypen: „Ressentiment-Getriebene“, „Gelegenheits-Antisemiten“ (von der Autorin auch als „Ressentiment-Geleitete“ bezeichnet), „Ambivalente“, „Indifferente“ und „Anti-Antisemiten“. Letztere waren nicht in jeder Gruppe vertreten, schafften es aber zuweilen, die Ambivalenten und Indifferenten 'aufzuwecken', antisemitische Ressentiment-Kommunikation zu stören oder gar zum Verstummen zu bringen (S. 67). In der Regel habe es jedoch eine „hohe Akzeptanz- und Resonanzfähigkeit“ (S. 71) beim Sprechen über Juden gegeben – Ressentiment-Geleitete und -Getriebene bestärkten sich gegenseitig und senkten die bei ihnen ohnehin niedrigen Hemmschwellen einer eventuell bestehenden „Kommunikationslatenz“ (S. 61). Es bildeten sich ressentimentgeladene „Deutungs- und Erregungsgemeinschaften“ (ebd.) – insbesondere bei Themen wie israelischer Politik, Antisemitismus-Debatten in Deutschland oder dem Zentralrat der Juden in Deutschland (S. 53). Die Vernichtung der Juden oder antisemitische Gewalt heute wurden von diesen Erregungsgemeinschaften hingegen nicht thematisiert, Verschwörungstheorien waren ebenfalls nicht resonanz- oder etablierungsfähig (S. 51). Aus einer funktional-strukturorientierten Perspektive, die auf die argumentative Aufbereitung der Ressentiments abzielt, stellt Ranc fünf Leitmotive fest, die den Bezugsrahmen der Ressentiment-Kommunikation ausmachen: “Wir und die Juden“, „Deutsche Bürde“, „Normalität und Normalisierung“, „Tabu und Tabubruch“ sowie „Juden, 'Juden' und 'Wunschjuden'“ (S. 76). Zudem begleitet der Holocaust das Sprechen über Juden stetig, was Ranc als „Generalbaß Holocaust“ bezeichnet (S. 70ff.). Die ausführliche Beschreibung dieser Leitmotive bildet den Hauptteil der Studie.

Auch wenn sie die Rolle der Vorurteilsforschung für die sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung etwas überschätzt, gelingt es Ranc in ihren theoretischen Ausführungen, Licht in die durchaus herrschende Begriffsverwirrung bezüglich Stereotypen und Topoi, Vorurteilen und Ressentiments zu bringen (S. 15ff., 83ff.). Der von Ranc verwendete Ressentimentbegriff hat dabei den Vorteil, kognitive und affektive Aspekte sowie deren psychodynamisches Zusammenspiel in der Ressentiment-Kommunikation in den Blick zu nehmen (S. 19). So ist es möglich, die überwiegend wissenssoziologische Perspektive um psychoanalytische Überlegungen zu erweitern. Zugleich hat er jedoch bei Ranc eine gesellschaftstheoretische Leerstelle, die es erschwert, antisemitische von anderen Ressentiments abzugrenzen. Diese Leerstelle zeigt sich in der Studie beispielsweise, wenn Ranc Antisemitismus mit anderen angenommenen Formen ressentimenthafter Kommunikation vergleicht, beispielsweise mit „antideutschen Ressentiments“ (S. 94). Leider spielt zudem der Korpus in der Darstellung der empirischen Analyse eine zu geringe Rolle. Aussagen werden häufig losgelöst von ihrem Gesprächszusammenhang zitiert, zum Teil vielfach aneinandergereiht (z.B. S. 176ff., 182ff.). Der Analyse der Gesprächsdramaturgie, und -situation sowie der Gruppenzusammensetzung wird jedoch in der methodologischen Diskussion zur Gruppendiskussion beispielsweise von Bohnsack2 oder speziell für die Antisemitismusforschung von Schäuble3 große Bedeutung zugemessen. So stellt Ranc z.B. keinen Zusammenhang her zwischen der Dynamik der Ressentiment-Kommunikation und dem Umstand, dass sich in einigen Gruppen Teilnehmer/innen auch jenseits des Untersuchungssettings kannten, z.B. als Kolleg/innen an einer Schule arbeiteten, während andere mit ihnen völlig Unbekannten diskutierten – für die Entstehung von „Erregungsgemeinschaften“ ein wichtiger Faktor. Gleichzeitig hätten viele Äußerungen aber auch eine kritisch-analytische Feinanalyse verdient, die oftmals unterbleibt.

Dort aber, wo Ranc die Dynamik der Gesprächsverläufe ausführlicher nachzeichnet und dabei auch auf einzelne Topoi detaillierter eingeht, sind ihre Erkenntnisse aufschlussreich und für die Leser/innen gut nachzuvollziehen. Überzeugend zeigt sie z.B. ein für den Antisemitismus spezifisches Konstruktionsprinzip bestehend aus Kausaltäuschung, Inkriminierung zugunsten moralischer Selbstnobilitierung sowie Anverwandlung, d.h. „Bewahrheitung“ des Ressentiments an seinem Objekt, den Juden (S. 233f.). Ranc kann stimmig zeigen, wie vor dem Hintergrund unterschiedlicher Problemsetzungen mittels Alteritäts-, Analogie- und Opfer-Täter-Konstrukte das nicht-jüdische Kollektiv zum zumindest potentiellen Opfer konstruiert und den Juden die Täterrolle zugewiesen wird. (S. 235) Sie arbeitet eine Vielzahl antisemitischer Inkriminierungstopoi heraus (S. 109ff., 135) und kritisiert überzeugend den Begriff eines „Schuldabwehr-Antisemitismus“. Stattdessen spricht sie von der „Vergegenwärtigungsabwehr durch Selbstinfantilisierung“: Das Unbehagen beim Sprechen über Auschwitz, die Zweifel am eigenen Denken über Juden sowie ein Gefühl des Unheimlichen bezüglich Jüdinnen und Juden führe zu einer grundsätzlichen Abwehr, sobald die Existenz von Antisemitismus vergegenwärtigt werde (S. 241f.). Dies schlägt sich zum Beispiel in einer „Ressentiment-Kommunikation ohne Ressentiment-Geleitete“ (S. 12f.) nieder, aber auch in einer favorisierten thematischen Ausrichtung auf Antisemitismus-Vorwürfe (S. 193) bei gleichzeitiger Dethematisierung von Antisemitismus als solchem. Es sind jedoch insbesondere Rancs Überlegungen zur Dynamik der Entstehung von „Ressentimentlust-Gemeinschaften“ (S. 246), die unweigerlich an öffentliche Antisemitismus-Debatten in der Bundesrepublik erinnern und die die Studie unbedingt lesenswert machen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Barbara Schäuble, Anders als Wir. Differenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen. Anregungen für die politische Bildung, Berlin 2015; Tim Seidenschnur, Antisemitismus im Kontext. Erkundungen in ethnisch heterogenen Jugendkulturen, Bielefeld 2013
2 Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 1999.
3 Schäuble, Anders als Wir, S. 97ff.