G. Walterskirchen: Die blinden Flecken der Geschichte

Cover
Titel
Die blinden Flecken der Geschichte. Österreich 1927–1938


Autor(en)
Walterskirchen, Gudula
Erschienen
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carlo Moos, Historisches Seminar, Fachbereich Neuzeit, Universität Zürich

In erfrischendem Tatendrang will Gudula Walterskirchen die besonders umstrittenen Punkte der österreichischen Zeitgeschichte zwischen 1927 und 1938, die sie als blinde Flecken interpretiert, hinterfragen, auf der Basis neuer Fakten anders betrachten und mit ihrem Buch (gemäß Umschlag) „völlig neue Perspektiven eröffnen“. Zentral geht es um die Ereignisse in, um und nach Schattendorf 1927, dann um die Frage, ob der Februar 1934 ein Arbeiteraufstand, Bürgerkrieg oder Putschversuch gewesen sei, weiter um die Qualifizierung der Dollfuss-Schuschnigg-Diktatur als Ständestaat oder Austrofaschismus und um die dichotomische Sicht auf Österreich als Opfer oder Täter beim „Anschluss“ sowie zu guter Letzt um das Problem der Instrumentalisierung von Geschichte.

Vorweg ist zu sagen, dass der Versuch einer neuen Sicht auf die genannten Themen nicht sonderlich geglückt ist. Zwar operiert die Autorin immer wieder mit langen und durchaus aussagekräftigen Zitaten und mobilisiert verschiedenerlei Materialien, unter ihnen viele Zeitungsartikel, aber auch Texte oder Manuskripte, die ihr „freundlicherweise zur Verfügung“ gestellt wurden. Worin indessen die „zusätzlichen Fakten“ bestehen, auf die gestützt sie etwa den „Bürgerkrieg“ völlig anders betrachten will (S. 62), wird nicht recht einsichtig und dürfte eher als Verwechslung von Fakten und Quellen seitens einer in den Journalismus abgewanderten Historikerin zu interpretieren sein.

Ein erhellendes Exempel ist die Vorlage für die erstaunliche These, dass die Februarereignisse von 1934 einen ersten Hitlerputsch dargestellt hätten, während der ‚richtige’ im Juli jenes Jahres der zweite wäre. Quelle dafür ist der erst 1981 erschienene, aber rund ein Jahrzehnt nach den Ereignissen geschriebene und 1945/46 überarbeitete Erlebnisbericht des Bezirkshauptmanns von Braunau (1933) und Sicherheitsdirektors von Oberösterreich (1934) Hans von Hammerstein.1 In seinem Text ist die Rede von einem nicht datierten, aber am 13. oder 14. Februar von ihm gehörten Aufruf von Theo Habicht im reichsdeutschen Rundfunk, der die österreichischen Arbeiter zum Aufruhr antrieb, sowie von einem Schutzbündler, der ihm Ende August 1944 in einer Zelle des Linzer Polizeipräsidiums von drei anderen Schutzbündlern berichtet habe, die im Bürgerkriegsgeschehen jener Stadt eine Rolle spielten und Nationalsozialisten waren oder es in der Folge wurden oder von solchen profitierten.2 Ohne gründliche Quellenkritik damit den Beweis geliefert haben zu wollen, dass der Februar 1934 kein Bürgerkrieg und auch kein Arbeiteraufstand, sondern schlicht ein Putschversuch des Schutzbundes gewesen sei, der „höchst geschickt“ von Nationalsozialisten orchestriert wurde, die im Hintergrund die Fäden gezogen hätten (S. 109f., 121), erscheint allzu abenteuerlich, selbst wenn nicht auszuschließen ist, dass der Schutzbund durch Nazis unterwandert war (S. 91). Solange keine schlagenderen Beweise für Hitlers sowohl im Februaraufstand wie im Juliputsch 1934 angewandte Taktik, einen solchen anzustiften (S. 154, 177), beigebracht werden, hält man sich mit Vorteil weiter an Ernst Hanisch, dessen differenzierte Sicht zu revidieren sich in keiner Weise aufdrängt; Otto Bauer kommt bei ihm schlecht genug weg, ohne dass man ihn als großen Sündenbock für alles zu disqualifizieren braucht.3

Der Haupteinwand, den man gegen dieses Buch erheben kann, liegt meines Erachtens in seiner allzu klaren politischen Schlagseite. Zwar wird ab und zu mit Bedauern eingeräumt, dass die christlichsozialen Kontrahenten im zusehends brutaler werdenden Machtspiel gegen links auch Fehler begangen hätten. Aber angeprangert werden mit schönster Konsequenz vornehmlich Sozialdemokraten wie Friedrich Austerlitz, Otto Bauer, Julius Deutsch oder Karl Renner, aber auch Historikerinnen und Historiker, die auf dieser Seite verortet werden, von nicht namentlich genannten Achtundsechzigern zum „sehr SPÖ-nahen“ Oliver Rathkolb (dem als einzigem eine politische Zugehörigkeit attestiert wird, S. 186, 206) oder zum „unwissenschaftlichen“ Emmerich Tálos (S. 176f.), von dem ohnehin fast nichts zu retten sei. Hier wäre indessen nachzutragen, dass die Verfasserin die vielschichtige Diskussion um einen generischen Faschismusbegriff, von der sie keine Ahnung zu haben scheint (vgl. S. 130, 132ff.), wenigstens zur Kenntnis nehmen sollte. Als Einstieg könnte das gut lesbare Buch von Robert O. Paxton dienen; es zeigt, dass auch ein professioneller Historiker für ein breiteres Publikum zu schreiben versteht.4

Unter dem Siegel der Instrumentalisierung von Geschichte muss nebst unterschiedlichen Gedenkkulturen und Gedenktagen und der Durchforstung von Wiener Straßennamen auch das künftige Wiener „Haus der Geschichte“ herhalten, während die niederösterreichische „Parallelaktion“ (S. 207) mit sprechendem Stillschweigen wohlwollend übergangen wird. Dass der Wiener Heldenplatz beim Dollfuss-Begräbnis so voll war wie anlässlich der ominösen Hitler-Rede vier Jahre später, wird nicht nur photographisch eindrücklich dokumentiert, sondern auch im Text mehrmals und selbst auf der Umschlagsklappe erwähnt. Viel mehr, als dass man sich offensichtlich mit jeder Diktatur arrangiert, lässt sich daraus freilich nicht ersehen.

Die politischen Sympathien von Gudula Walterskirchen in Ehren, aber als Basis für eine Neubewertung des umstrittensten Jahrzehnts der österreichischen Zeitgeschichte taugen sie zu wenig. Will man diese Periode wirklich gegen den Strich bürsten, reichen die 15 Jahre, die in dieses Projekt investiert wurden (S. 10), nicht aus, oder nur, wenn aus ihnen volle Jahre werden. Als wichtigste Voraussetzung müsste freilich nicht die Zeit gelten, die eingesetzt wird, sondern – um es etwas altmodisch zu sagen – eine sine ira et studio-Grundhaltung. Insofern wäre es vielleicht an der Zeit, den sterilen Streit um Qualifizierungen wie „Ständestaat“ versus „Austrofaschismus“ oder „Annexion“ versus „Anschluss“ (nebenbei: impliziert „Anschluss“ wirklich Freiwilligkeit? S. 200) endlich über Bord zu werfen und sich den Inhalten, die oft weniger umstritten sind als ihre Etikettierungen, zuzuwenden. So bliebe noch mehr als genug zu tun.

Anmerkungen
1 Hans von Hammerstein, Im Anfang war der Mord. Erlebnisse als Bezirkshauptmann von Braunau am Inn und als Sicherheitsdirektor von Oberösterreich in den Jahren 1933 und 1934, hg. v. Harry Slapnicka, München (Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte 3) 1981. Isabella Ackerl, die Redaktorin der Reihe, urteilt im Vorwort, die Erinnerungen dieses späteren Justizministers Schuschniggs enthielten „sicherlich keine Sensationen oder völlig neue Aspekte zur Geschichte der ersten österreichischen Republik“ (S. 7).
2 Hammerstein, Erlebnisse, S. 114f., 120f., 128.
3 Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien 2011, S. 293–310.
4 Robert O. Paxton, Anatomie des Faschismus, München 2004 (amerikanisches Original New York 2004). Paxton hält das Dollfuss-Schuschnigg-Regime im Übrigen nicht für faschistisch, sondern bezeichnet es als klerikal-autoritär oder autoritär-katholisch (S. 145, 170).

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