N. Napp: Die deutschen Luftstreitkräfte

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Titel
Die deutschen Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg.


Autor(en)
Napp, Niklas
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Immanuel Voigt, Jena

Obwohl sich die deutschen Luftstreitkräfte während des Ersten Weltkrieges zur modernsten Waffengattung innerhalb des deutschen Heeres entwickelten und etliche ihrer Protagonisten zu Kriegshelden stilisiert wurden, die mit heutigen Musik- und Filmstars mühelos vergleichbar sind, spielt das Thema insgesamt innerhalb der deutschen Weltkriegshistoriografie weder aus erinnerungsgeschichtlicher noch aus operationsgeschichtlicher Sicht in neueren wissenschaftlichen Untersuchungen eine größere Rolle. Nicht einmal der Centenar des Ersten Weltkrieges änderte diesen Umstand. Umso erfreulicher, dass nun mit Niklas Napps Dissertation „Die deutschen Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg“ seit mehr als zwei Jahrzehnten die erste umfangreichere wissenschaftliche Arbeit eines deutschen Historikers auf diesem Gebiet vorgelegt wurde.

Niklas Napp verweist zunächst in der Quellendiskussion zu Recht auf die schlechte Grundlage, die sich dem Historiker bei der Bearbeitung des Themas bietet, da nicht nur das Luftarchiv der Luftwaffe in Berlin, sondern auch das Preußische Heeresarchiv in den Wirren des Zweiten Weltkrieges nahezu vollständig vernichtet wurden. Wenige Quellenfragmente finden sich im Bundesarchiv in Freiburg im Breisgau und in den Staatsarchiven in Dresden, Stuttgart und München. Als Quellenkorpus dienen neben einigen archivalischen Quellen daher vornehmlich Fachstudien der Zwischenkriegszeit und die sogenannte „Fliegerliteratur“. Dies sind vornehmlich Biografien, Berichte und Erinnerungen ehemaliger Kriegsteilnehmer der deutschen Luftstreitkräfte.

Grundsätzlich möchte der Historiker in seiner Dissertation zwei bisher vernachlässigte Bereiche der deutschen Luftstreitkräfte untersuchen, nachdem frühere Arbeiten vor allem technische Gesichtspunkte analysiert haben. Seine zentralen Untersuchungsfelder sind zum einen Organisation und Beschaffungswesen der Luftstreitkräfte, zum anderen die Ausbildung des Personals und dessen Kampfkraft. Mit Blick auf das Beschaffungswesen fokussiert der Autor besonders auf die Rüstungsindustrie und die Einflussmöglichkeiten, die der Staat und das Militär auf diese hatten. Napp geht es ebenso um die Rolle der einzelnen Unternehmen sowie deren Strategien. Schließlich soll der technische Entwicklungsstand während des Ersten Weltkrieges berücksichtigt werden. Als methodischer Ansatz dient ihm hier der Vergleich zwischen dem Deutschen Reich und seinen Kriegsgegnern Frankreich und Großbritannien, der den jeweiligen Entwicklungsstand der deutschen Luftstreitkräfte herausstellen soll. Bei der Betrachtung des Personals will Napp das „Innere Verhältnis“ (S. 19) der Luftstreitkräfte analysieren, indem er etwa nach dem gegenseitigen Zusammenhalt, der Motivation der Piloten oder den Auswirkungen des Krieges fragt. Darüber hinaus skizziert der Autor die Genese der deutschen Luftstreitkräfte, konzentriert sich dabei allerdings vornehmlich auf die Westfront und überwiegend auf die Fliegertruppe als Teil der deutschen Luftstreitkräfte.

Seine Arbeit unterteilt sich grundsätzlich in zwei größere Abschnitte. Der erste beschäftigt sich mit den Anfängen und der frühen Organisation der deutschen Fliegertruppe von 1884 bis 1915. Der Autor setzt hier einen sinnvollen Schnitt, da zwischen 1915 und 1916 die ersten Jagdflugzeuge an der Front eingesetzt wurden und den Luftkrieg veränderten. Damit verbunden war eine Reorganisation der Luftstreitkräfte, die unter anderem die wichtige Stelle des „Kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte“ (Kogenluft) schuf. Der Hauptteil beschäftigt sich mit der Zeit zwischen 1916 und 1918 und behandelt eine Reihe wichtiger Entwicklungsstufen, auf die noch genauer einzugehen ist.

In seiner Darstellung selbst beschreibt Napp zunächst detailliert die Entwicklung der Luftstreitkräfte von ersten Überlegungen bis hin zum Einsatz von Luftschiffen innerhalb des deutschen Heeres, die anfänglich dem Flugzeug gegenüber bevorzugt wurden. Gleichfalls thematisiert er die Ausgangslage am Vorabend des Ersten Weltkrieges und verdeutlicht nicht nur das deutsche Luftkriegsmodell, sondern auch die im Vergleich zu Frankreich eher geringe Luftrüstung. Allerdings gewann das Flugzeug bereits kurz nach Kriegsbeginn immer mehr an Bedeutung, was Napp an den Schlachten bei Tannenberg und an der Marne gut veranschaulichen kann. Zugleich beleuchtet er das organisatorische Chaos, das anfänglich einen einheitlichen Einsatz der Fliegertruppe nur selten ermöglichte, um im Anschluss zu zeigen, dass die deutschen Streitkräfte mit der Einführung des Fokker-Jagdeinsitzers schließlich im Spätsommer 1915 einen wichtigen technischen Vorteil erlangten.

Der Hauptteil ist zunächst stark operationsgeschichtlich geprägt, da sich Napp hier in den ersten Kapiteln sehr ausführlich den Schlachten um Verdun (S. 159ff.) und an der Somme (S. 176ff.) widmet, um die Rolle der deutschen Luftwaffe zu verdeutlichen. Mitunter schweift der Historiker hier zu weit vom Thema ab und verliert sich in Details. Schließlich folgt die zweite Reorganisation der Luftwaffe mit der Schaffung der Stelle des Kogenluft und weiteren Verbesserungen. Anschließend widmet sich Napp der „Totalisierung des Luftkrieges“ und analysiert dies exemplarisch an der Eskalation des Bombenkrieges (S. 228ff.), was gut gelingt. Nicht nur kann er zeigen, wie der Luftkrieg gegen Großbritannien von der deutschen Seite entgrenzt wurde (S. 243ff.), sondern auch welche Maßnahmen im Reich zur Verteidigung gegen Luftangriffe geschaffen wurden (S. 256ff.).

Relativ spät, nach über 250 Seiten, kommt Napp zur von ihm selbst benannten ersten zentralen Fragestellung seiner Arbeit: Die Luftrüstung in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Sehr anschaulich vergleicht der Autor die drei Staaten miteinander und zieht für Deutschland das Fazit, dass der Staat keine Aufsicht über die Rüstungsindustrie übernahm und die Arbeiter freier waren als in den gegnerischen Ländern, was wiederum einen koordinierten Einsatz der Industrie verhinderte (S. 300). Im Hinblick auf die Unternehmen unterschieden sich die drei Staaten nur wenig, da die Betriebe durch das ungeheure Auftragsvolumen der Kriegswirtschaft ihre Monopolstellung gegenüber dem Staat meist zu ihren Gunsten ausnutzten (S. 318). Deutschlands Rüstungsindustrie wurde zudem durch die britische Seeblockade stark gehemmt, welche mit fortscheitender Kriegsdauer die Rohstoffe stark verknappte (S. 319). Napps Fazit zum technologischen Wettlauf ist dennoch eindeutig: Trotz des Rohstoffmangels infolge der Blockade konnten die Deutschen der Entwicklung bis zuletzt weitestgehend folgen (S. 344f.).

Im letzten Teil seiner Untersuchung widmet sich der Historiker der Ausbildung und Auswahl des fliegenden Personals. Napp beschreibt diesen Themenkomplex wiederum sehr detailliert, wenn er etwa die Motivation der jungen Männer und deren Ausbildung zum Pilot oder Beobachter darlegt (S. 360ff.). Sein Fazit lautet hier, dass mit zunehmender Kriegsdauer und den aufkommenden Materialproblemen die qualitativen Standards in der Ausbildung sanken. Dennoch besaßen die Deutschen das bessere Ausbildungssystem gegenüber ihren Gegnern (S. 378ff.).

Schließlich kommt Napp zu einem „zentralen Thema“ (S. 28) seiner Untersuchung, der „Innenansicht“ der Fliegertruppe. Hier wirkt die Argumentation des Historikers mitunter nicht schlüssig, denn zum einen stützt sich Napp auf die „Fliegerliteratur“ als Quelle und will deren Wahrheitsgehalt überprüfen (S. 384), ohne dabei allerdings näher auf diese Quellengattung einzugehen. Zwar verweist der Autor kurz auf deren tendenziöse und gefärbte Inhalte (S. 22f.), eine Einordnung in den Forschungskontext fehlt hingegen, sodass wichtige Arbeiten wie etwa von Stefanie Schüler-Springorum 1 oder Fernando Esposito 2 vernachlässigt werden. Schließlich lässt sich Napp zu überzogenen Aussagen verleiten, die aufgrund der dürftigen Quellenbasis kaum für alle Angehörigen der Luftwaffe beweisbar sind, etwa wenn er behauptet, dass deutsche Infanterieflieger durch die zunehmende Verrohung im Luftkrieg gegen Kriegsende bei ihren Einsätzen oft „nur noch pure Mordlust“ empfunden hätten (S. 414). Nicht zuletzt ist der Wahrheitsgehalt etlicher Berichte mitunter zweifelhaft und heute nur schwer rekonstruierbar. Der Erkenntniswert von Napps Studie fällt an dieser Stelle leider etwas dünn aus.

Obwohl Niklas Napps Arbeit in einigen Abschnitten stark operationsgeschichtlich geprägt ist und seine eigentlichen Untersuchungsfelder nur etwa die Hälfte der Analyse einnehmen, bleibt die Dissertation ein wichtiger Baustein für die Weltkriegshistoriografie. Bisher gibt es unter den neueren deutschsprachigen Untersuchungen keine vergleichbare Arbeit. Auch wenn der Erkenntnisgewinn an einigen Stellen höher ausfallen könnte, ist der Wert vor allem in Napps kenntnisreicher Zusammenfassung des Einsatzes der deutschen Luftstreitkräfte während des Ersten Weltkrieges zu sehen, die erstmals in einer neueren Darstellung unternommen wurde.

Anmerkungen:
1 Vgl. Stefanie Schüler-Springorum, Vom Fliegen und Töten. Männlichkeit in der deutschen Fliegerliteratur 1914–1939, in: Karen Hagemann / Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a, Main 2002, S. 208–233.
2 Vgl. Fernando Esposito, Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien, München 2011.

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