D.T. Goering (Hrsg.): Ideengeschichte heute

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Titel
Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven


Herausgeber
Goering, D. Timothy
Reihe
Histoire 112
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Neuffer, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin

In der Einleitung des Bandes „Ideengeschichte heute“ wird eine Bemerkung Paul Noltes aus den 1990er-Jahren zitiert, der zufolge es Ideengeschichte in Deutschland zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben habe. Seit den 1960er-Jahren war die Disziplin aufgrund eines ihr zugeschriebenen elitistischen Gestus und ihrer „Entlastungsfunktion“ hinsichtlich der deutschen Geschichte (Hans-Ulrich Wehler) zum Gegenstand vehementer Kritik geworden. Auch international hatten wirkmächtige Einwände wie jene von Quentin Skinner oder Michel Foucault die „History of Ideas“ als Wissenschaft vom Eigenleben und der Entwicklung von Ideen erledigt, indem diese und andere Autoren ihr eine an historischen Kontexten interessierte „Intellectual History“ und eine Diskontinuitäten betonende „Archäologie des Wissens“ gegenüberstellten.

Doch die Absage an die Ideengeschichte, so scheint es, war zugleich Vorgeschichte und Anfang ihrer Renaissance. Bücher, die den Begriff im Titel tragen, die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ (seit 2007) und Anstrengungen zur methodischen Neufundierung wie der hier besprochene Sammelband zeugen davon. In einer sehr nützlichen Einleitung zeichnet der Herausgeber D. Timothy Goering die Geschichte der Ideengeschichte und ihre methodische Ausdifferenzierung seit dem späten 19. Jahrhundert nach. Dabei bezieht er auch seltener thematisierte Strömungen wie die schwedische „idé- och lärdomshistoria“ mit ein.1 Ob der „heilige Ernst“ der Auseinandersetzungen der 1960er- und 1970er-Jahre tatsächlich so „unnötig und sogar befremdlich“ war, wie er Goering heute erscheint (S. 7), sei dahingestellt. Immerhin bilden die damaligen Kernaspekte der Kritik – insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Ideen und gesellschaftlicher Praxis – für die Beiträge des Bandes, die von sieben Autoren und einer Autorin verfasst worden sind, nach wie vor den Ausgangspunkt der Suche nach brauchbaren „Traditionen und Perspektiven“ (so der Untertitel).

Zu den Ansätzen, die dem Label „Ideengeschichte“ üblicherweise zugeschlagen werden, gehören neben der politischen und soziologischen Theoriegeschichte auch eine in der Tradition Immanuel Kants stehende philosophische „Geschichte der Probleme und zu ihrer Lösung erzeugten Begriffe“ (Wilhelm Windelband). Schriebe man nun eine Problemgeschichte der Ideengeschichte selbst, so würde sich die Überwindung des Dualismus von Idee und historischem Kontext als das zu bearbeitende Problem erweisen, während die unterschiedlichen Ansätze, Kritiken und Revisionen als die Geschichte der jeweils angebotenen Lösungen zu betrachten wären. Aus unterschiedlichen Richtungen und mit unterschiedlichem Erfolg bemühen sich auch die Beiträgerin und die Beiträger des vorliegenden Bandes um die Arbeit an genau diesem Dualismus.

In der Absage an idealistische Konzeptionen sind sich alle versammelten Texte einig. Die Gefahr der Reduktion von Ideen auf den Kontext zu Lasten ihres Gehalts – mit der bereits ein Beweggrund für die Renaissance der Ideengeschichte angegeben sein dürfte – gewichten sie unterschiedlich stark. Den Anfang macht ein Beitrag des bereits erwähnten Quentin Skinner. Er fasst einige aus seinen Schriften bekannte Positionen noch einmal pointiert zusammen und betont, dass historische Äußerungen von Ideen – die immer nur als Text vorlägen – nicht nur oder nicht vorrangig als Ausdruck von Überzeugungen zu verstehen seien, sondern als komplexe „Interventionen“ in den kulturellen Kontext einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Diese performative und handlungstheoretische Perspektive beleuchtet auch der Herausgeber in einem eigenen, von Debatten der Praktischen Philosophie inspirierten Beitrag. Dort schlägt Goering „Handlungsgründe“ als Analysekategorie für Ideen vor, die sich in einer jeweils spezifisch historischen „sozial-diskursiven Praxis des Gebens und Forderns von Gründen“ verorten ließen (S. 99).

Sean A. Forner antwortet ebenfalls auf die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Praxis, indem er vor allem anhand marxistischer und postmarxistischer Theorieangebote – von Georg Lukács über Moishe Postone bis Claude Lefort und Cornelius Castoriadis – eine „post-idealist intellectual history“ (S. 74, S. 79) skizziert. Besonders die Kategorie des „social imaginary“ (Lefort / Castoriadis) verspricht es Forner zufolge, das reziproke Verhältnis zwischen „social order“ und „symbolic representations“ zu theoretisieren. Das historische Beispiel, an dem Verbindungslinien von der Theorie zur Praxis – oder umgekehrt – auf der Gegenstands- wie auf der methodischen Ebene sichtbar werden sollen, sind die „Europäischen Gespräche“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes in den 1950er-Jahren. Hier trafen Intellektuelle wie Alfred Weber, Eugen Kogon und Dolf Sternberger mit Gewerkschaftlern und Arbeitern zusammen, um über das Konzept der „Mitbestimmung“ sowie über praktische Formen von Solidarität vor dem Hintergrund eines „shared set of significations“ (S. 83) zu sprechen, womit zeitgenössische Diagnosen über technokratische „Managerherrschaft“ in der Massendemokratie gemeint sind. Dass das Konzept des „social imaginary“ dazu beitrage, Ideen – „in some systematic way“ (S. 93) – auf gesellschaftlich-soziale Praxis zu beziehen, kann Forner dabei jedoch eher proklamieren als tatsächlich ausführen.

Ebenfalls den Fokus auf Intellektuelle setzt Darius Harwardt in einem lesenswerten Text über die beiden rechten Denker Armin Mohler und Caspar von Schrenck-Notzing. Wichtig ist sein Hinweis, dass die oft als „rotes Jahrzehnt“ ausbuchstabierten 1960er-und 1970er-Jahre in der Bundesrepublik ebenso eine Zeitspanne waren, in der sich die Neue Rechte – mit Rückgriffen auf ältere rechtsintellektuelle Traditionen – ideenpolitisch konstituierte. Zentral für das Verständnis dieses Prozesses sind aus Harwardts Sicht Zirkel, Milieus, Konstellationen und Zeitschriften, da in diesen Vergemeinschaftungsformen mit relativ niedrigem Institutionalisierungsgrad die kontextgebundene Handlungsfähigkeit von Intellektuellen sichtbar werde.

Mit Pierre Bourdieus Hinweis auf die Spannung von Kontext und Kontextlosigkeit im Ideentransfer beginnt Emily J. Levine ihren darauf folgenden Beitrag, der die Bedeutung ortsbezogener Kategorien – den „impact of place“ – für eine global orientierte Ideengeschichte betont. Levine schlägt Universitäten und ihre städtischen Umwelten als Orte vor, an denen Ideentransfers ebenso wie die Akkumulation von „scholarly ‚capital‘“ (S. 165) im Spannungsfeld von globalen und lokalen Bezugsrahmen beobachtet werden könnten. Leider geht der Text, der viele Vorarbeiten und Perspektiven einer „Global Intellectual History“ grob skizziert, kaum über ein – etwas umständliches – Plädoyer für die Beachtung der Relevanz von Universitäten und Städten in einer solchen globalen Ideengeschichte hinaus.

Diese räumliche Perspektive ergänzt Helge Jordheim um die Frage nach Zeit und Zeitlichkeit von Ideen, die er in „Thoughts on a Stratigraphic Model of Intellectual History“ (so der Untertitel des Beitrags) zu systematisieren vorschlägt. Wenn er dabei zu bedenken gibt, dass auch die Schichten der „deep history“ – die vor die ersten Schriftkulturen zurückreichende Universalgeschichte der Menschheit – möglicherweise einzubeziehen seien, bedeutet dies in der Konsequenz eine signifikante Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs von Ideengeschichte. In entgegengesetzter Richtung handelt Peter Hoeres’ Beitrag ebenfalls von einer Horizonterweiterung der Disziplin, sofern er darauf hinweist, dass die Digital Humanities nicht nur neue technische Mittel bereitstellen, sondern auch neue ideengeschichtliche Gegenstände hervorbringen: Zu Objekten und Herausforderungen ideengeschichtlicher Forschung werden die Auswirkungen der Technologie auf die intellektuelle Produktion, die Aktualisierungen alter Ideen (etwa in puncto Öffentlichkeit) sowie neu auftretende Ideen, die sich auf das Digitale selbst beziehen (etwa in puncto Open Access).

Derart breit gefächert, vermittelt das im Band vertretene Spektrum an Paradigmen, Theorien, Ideologien, Glaubens- und Ordnungssystemen, auf die sich „Ideengeschichte heute“ richten kann, einen relativ offenen Begriff des Objekts „Idee“. Wenn sich die Methoden auch durch die Wahl des Gegenstandes bedingen, wie Sean A. Forner im Band schreibt, dann scheinen eben diese Gegenstandsbereiche weiter klärungsbedürftig – und mit ihnen die Interessen der Forschung, die sich darauf jeweils richten. Eine selbstbewusste Position dazu nimmt derjenige Beitrag des Bandes ein, der am plausibelsten seinen methodischen Ansatz mit Blick auf sein Fallbeispiel begründen kann: Marcus Llanque stellt für die Rekonstruktion der „pluralen Ursprünge“ der Menschenrechte eine an Foucault geschulte, Diskontinuitäten und Machtrelationen betonende Form der Ideengeschichte vor, die durch „Offenhalten des Interpretationsspektrums“ als potentielle Intervention in die aktuelle Theoriearbeit zur Menschenrechtsfrage verstanden werden will. Dies ist freilich ein Zugang, der im Rahmen einer politikwissenschaftlich begründeten Ideengeschichte, um deren Perspektive der Autor den Band ergänzt, stärker etabliert ist als in der Geschichtswissenschaft, aus der die übrigen Beiträge stammen.

Als Ensemble heterogener Ansätze schafft es der Band, zentrale Stränge der Forschung zu konturieren und Impulse für weitere Methodendiskussion und Interessensklärung zu geben. Noch stärkere Selbstreflexion wäre dabei besonders in einem Punkt wünschenswert, der die geschlechtliche Verfasstheit der Disziplin betrifft: Für zukünftige Tagungen und Sammelbände erscheint ein Nachdenken darüber angebracht, ob und wie sich Asymmetrien in Fragen geschlechtsspezifischer Repräsentation über die Gegenstände, den Kanon und die Fachtraditionen der Ideengeschichte reproduzieren – und ob und wie dieses Verhältnis mit einer Befragung der Ideengeschichte durch die Gender History (oder eine Ideengeschichte als Gender History) – zu verändern wäre.2

Anmerkungen:
1 Die Institutionalisierung der schwedischen „Ideen- und Gelehrtengeschichte“ nahm ihren Anfang mit der Einrichtung einer so denominierten Professur an der Universität Uppsala im Jahr 1932. Deren erster Inhaber war der Literaturhistoriker Johan Nordström, einer der Gründer der bis heute erscheinenden ideengeschichtlichen Zeitschrift „Lychnos“.
2 Vgl. hierzu etwa die auf dem Blog der U.S. Society for Intellectual History geführten Debatten: https://s-usih.org/2012/03/women-and-intellectual-history/ (25.08.2017).