A. Weinreb: Modern Hungers. Food and Power in Twentieth-Century Germany

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Titel
Modern Hungers. Food and Power in Twentieth-Century Germany


Autor(en)
Weinreb, Alice
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 317 S.
Preis
£ 35.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tatjana Tönsmeyer, Fachgruppe Geschichte, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Bergische Universität Wuppertal

Ausgehend von dem Befund, dass Ernährung, die Verfasserin spricht vom „food system“, in vielfältiger Weise mit dem modernen Staat und seinen Ideologien verbunden sei, stellt Alice Weinreb, in eher loser Anlehnung an Michel Foucault, Lebensmittel und Mangel in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung zu Fragen von Herrschaft und Körper(lichkeit) in Deutschland im 20. Jahrhundert. Sie greift dabei auf eine Vielzahl von Quellen zurück und berücksichtigt solche staatlicher Provenienz ebenso wie Materialien aus einschlägigen Stadtarchiven, darunter Köln und Leipzig. Beeindruckend ist die Fülle der Zeitungs- und Zeitschriftenliteratur, die von der "Ostsee-Zeitung" bis zum "Fachblatt für hauswirtschaftliche Führungskräfte" reicht, aber auch die "Brigitte" und medizinische Fachpublikationen einbezieht.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Lebensmittelversorgung in Deutschland von einer zunehmenden Globalisierung von Produktionsverhältnissen und Handelsbeziehungen gekennzeichnet. Im Ersten Weltkrieg mit seiner weitreichenden Militarisierung der Ernährung unter den Bedingungen einer Seeblockade, konkurrierten militärische wie zivile Abnehmer um die gleichen, nur in begrenzten Mengen vorhandenen Ressourcen, darunter Chemikalien wie Stickstoff, aber auch Glycerin und unterschiedliche Fette. Die daraus resultierende Hungerkrise auf dem europäischen Kontinent und speziell in Deutschland beschleunigte die politische Radikalisierung und ließ neue Akteure das politische Spielfeld betreten; ein Befund, der allerdings nicht ganz neu ist.1

Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen dann Versorgungsfragen zwischen 1933 und 1945. Nähere Betrachtung findet das NS-Propagandakonstrukt vom jüdischen „Rassefeind“, der für Agrardepression und Hunger in Deutschland verantwortlich gemacht wurde. Im Zuge dieser Propaganda, so Weinreb, sei jeder Gang in ein Lebensmittelgeschäft, jedes Essen in einer Betriebskantine und jede zu Hause gekochte Mahlzeit „into a site for racial performance, assigning collective racial identity at the same time that foodstuffs themselves remade individual bodies in racially predetermined ways“ (S. 52) transformiert worden. Eintopfsonntage, Kampagnen zum Verzehr von Vollkornbrot und allgemein den Umgang mit Mangel habe das Regime zu „tests of will as well as expressions of racial allegiance“ (S. 57) gemacht. Dadurch sei die deutsche Gesellschaft genötigt worden, eine nach rassistischen Gesichtspunkten angemessene Ernährungsweise anzunehmen, mit dem sich vegetarisch ernährenden Hitler als Führer und Vorbild.

Vieles, was hier eher assoziativ verbunden wird, öffnet neue Blickachsen und lässt die oft nur nachrangig berücksichtigte Bedeutung von Ernährungsfragen in den Vordergrund treten. Zugleich irritiert jedoch auch die plakative Verwendung von „German Hungers“, die keine zeitliche oder soziale Differenzierung kennt und auch nicht zwischen Knappheit, Mangel und Hunger im engeren Sinne unterscheidet, was den tatsächlichen Gegebenheiten in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gerecht wird. Hunger, das kann man etwa in den Pionierstudien des späteren Nobelpreisträgers Amartya Sen lernen, ist eben kein großer Gleichmacher.2 Hinzu kommt: Ergänzende Überlegungen werden kaum herangezogen, obwohl gerade die Auseinandersetzung mit der makroökonomischen Rahmung der geschilderten Maßnahmen im Kontext einer Rüstungswirtschaft wünschenswert gewesen wäre. Die Verfasserin betont demgegenüber die „Allgegenwart und Unsichtbarkeit“ von „Rasse“ in der modernen Lebensmittelökonomie (S. 85). Entsprechend habe die Verbitterung über den Verlust der „Kornkammern“ in den besetzten Gebieten die Angst, den Ärger und die Enttäuschung „gerahmt“, mit der die deutsche Bevölkerung seit der Niederlage die alliierten Versorgungspläne betrachtet habe (S. 87).

In den weiteren Kapiteln nimmt Weinreb ihr Lesepublikum mit in die deutsche Nachkriegsgeschichte. Sie thematisiert die Mangeljahre, die unmittelbar auf das Kriegsende folgten und argumentiert, dass es zunächst die ausgemergelten Überlebenden der Konzentrationslager waren, die zum „universellen Symbol“ (S. 90) für den „katastrophischen Hunger“ (ebd.) wurden. Doch die deutsche Bevölkerung habe die Rhetorik von der Inhumanität des Hungers überaus schnell gelernt und Ernährung als ihnen zustehendes Menschenrecht eingefordert. Es sei somit letztlich der Hunger gewesen, der es der deutschen Bevölkerung ermöglicht habe, sich selbst als Opfer und nicht als Täter des Krieges zu entwerfen. Verfangen konnten die mit diesem Diskurs verbunden Forderungen nur vor dem Hintergrund des heraufziehenden Kalten Kriegs: Die Versorgung der (west-)deutschen Bevölkerung zu gewährleisten, verband sich für die Alliierten gleichermaßen mit der Verteidigung der Menschenrechte wie mit der Bekämpfung des Kommunismus.

Man mag es dahingestellt sein lassen, ob die Bundesrepublik in den 1950er- und 1960er-Jahren tatsächlich für den Aufbau einer egalisierten Mittelstandsgesellschaft bewundert wurde (S. 162) – zumal die Forschung längst gezeigt hat, dass die entsprechende Annahme Helmut Schelskys so nicht der Realität entsprach –, interessant ist, dass Alice Weinreb in den Ausführungen zu den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, die sich fraglos in vielfältiger Hinsicht unterschieden, durchaus Ähnlichkeiten aufspürt. So zeigt sie nicht nur, dass Werkskantinen und Supermärkte, „Zwillingsorte des Konsums industrialisierter Lebensmittel“ (S. 125) wie sie schreibt, in beiden Ländern ungeachtet der unterschiedlichen Geschlechterpolitiken hochgradig gegenderte Räume waren, sondern auch, dass die Vorstellungen von Weiblichkeit in beiden deutschen Staaten in je spezifischer Weise mit der Produktion und Konsumption von Lebensmitteln verbunden waren. Gemeinsamkeiten diskutiert Weinreb auch in ihrem Kapitel „Fighting Fat“, in dem sie unter anderem die erstaunlich ähnlichen (und ähnlich erfolglosen) Bestrebungen ost- wie westdeutscher Ärzte im Umgang mit Übergewicht in den beiden industrialisierten Bevölkerungen in den 1970er- und 1980er-Jahren thematisiert, so dass Adipositas immer mehr zum politischen Gegenstand wurde. Es sind gerade diese die Nachkriegszeit betreffenden Kapitel, in denen das Buch seine volle interpretatorische Kraft entfaltet, für die es 2017 mit dem Fraenkel Book Prize der Wiener Library ausgezeichnet worden ist.

Anmerkungen:
1 Belinda Joy Davis, Home Fires Burning. Food, Politics and Everyday Life in World War I Berlin, Chapel Hill 2000. Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004.
2 Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford 1981.

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