D. Grimm: "Ich bin ein Freund der Verfassung"

Titel
"Ich bin ein Freund der Verfassung". Wissenschaftsbiographisches Interview von Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach


Autor(en)
Grimm, Dieter
Erschienen
Tübingen 2017: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frieder Günther, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Folgt man dem hier zu besprechenden Interviewband, dann war der heute 80-jährige, frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm geradezu ein Glückskind, dem die einzelnen Schritte seiner herausragenden beruflichen Karriere gleichsam mit spielerischer Leichtigkeit gelangen. Eines ergibt sich wie von selbst aus dem anderen. Selten liest man etwas von Konkurrenz, Konflikten oder gar Intrigen, nie etwas von Enttäuschung, Frustration oder Selbstzweifeln. Heute gehört Grimm zu den wenigen deutschen Verfassungsrechtlern, die sich in die öffentlichen Debatten als Public Intellectuals immer wieder einbringen und zugleich einen internationalen Ruf genießen. Doch Grimm betont, dass die Verhältnisse, aus denen er ursprünglich stammte, ganz andere waren. Es handelt sich somit um eine klassische bildungsbürgerliche Aufstiegsgeschichte, die hier erzählt wird.

Grimm wurde 1937 geboren. Der Vater war Eisenbahnbeamter, die Familie katholisch. Die Kindheit verbrachte Grimm in dem vom Krieg zerstörten Kassel. Entsprechend dem Grundzug der frühen Bundesrepublik war seine politische Einstellung zunächst konservativ, nationalistisch und antikommunistisch, später vollzog er die gesellschaftliche Liberalisierung ein Stück weit mit. Da er in die Politik gehen wollte, entschied er sich für das Studienfach Jura und den Studienort Frankfurt am Main. Prägend wurden die katholische Begabtenförderungseinrichtung Cusanuswerk und Auslandsaufenthalte in Paris und vor allem an der Harvard University. Er entwickelte ein einzigartiges Wissenschaftsprofil, in dem sich Öffentliches Recht mit Interdisziplinarität, Rechtsgeschichte, Rechtvergleichung und theoretischer Fundierung verbindet. Nach einer Anstellung am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte erhielt Grimm seinen ersten Ruf nach Bielefeld, bevor er 1987, von der SPD vorgeschlagen, zum Bundesverfassungsrichter gewählt wurde und damit den „Höhepunkt [s]eines beruflichen Weges“ (S. 302) erreichte. Nach der Amtszeit von zwölf Jahren zog es ihn nach Berlin, er wurde zunächst Permanent Fellow, dann Rektor des Wissenschaftskollegs und zugleich Professor an der Humboldt-Universität sowie Visiting Professor in Yale.

Das Interview wird geführt von drei Verfassungsrechtlern, Oliver Lepsius, Matthias Roßbach und Christian Waldhoff, von denen zwei selbst renommierte Lehrstühle bekleiden. In den Teilen, in denen Grimms Biographie im Mittelpunkt steht, beschränken sie sich weitgehend darauf, Grimms Lebensstationen anzusprechen, ihn dann einfach erzählen zu lassen und daraufhin auf geschickte Weise die thematisierten Aspekte zu vertiefen. Ganz anders die Teile, in denen es um fachliche Fragen und vor allem um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht. Hier entwickelt sich das Interview plötzlich zu einem lebhaften, teilweise kontroversen Expertengespräch mit vier Diskussionsteilnehmern. Es geht nun um Fragen wie die Grundrechtsdogmatik und das Grundrechtsverständnis, den Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit Präjudizien oder um so kontroverse Entscheidungen wie „Kruzifix“ oder „Soldaten sind Mörder“. Auch wird beispielsweise diskutiert, inwiefern seit Ende der 1980er-Jahre eine neue dogmatisierende Phase in der Geschichte des Gerichts begonnen hat. Da sich der Kommentar des Bandes weitgehend auf knappe biographische Skizzen, Rechtsprechungserläuterungen und sporadische Literaturhinweise beschränkt, dürfte der nicht juristisch geschulte Leser an solchen Stellen einige Schwierigkeiten haben, den Argumenten im Einzelnen zu folgen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Grimms Ausführungen über die internen Vorgänge des Bundesverfassungsgerichts – etwa die Beratungen der Richter –, da hierüber nur selten Informationen an die Öffentlichkeit gelangen.

Nach seiner Kindheitserfahrung mit Krieg und Besatzungszeit stellt Grimm die Prägung durch das politische Konzept der Bundesrepublik und ihre Verfassungsordnung als entscheidend für seinen Lebensweg dar. Er bezeichnet das Grundgesetz als „‚meine‘ Verfassung“ (S. 317), die zeitlebens als zentraler Orientierungspunkt wirkte. Hier zeigt sich ein ausgeprägter Verfassungspatriotismus, obwohl Grimm deutlich jünger ist als diejenigen, die – wie Dolf Sternberger und Jürgen Habermas – dieses Konzept entwickelt haben, und er auch nicht der Flakhelfergeneration angehört, die in diesem Kontext häufig genannt wird. Hinzu kommt bei Grimm eine ethische Grundausrichtung sowie die Zuversicht, dass sich Konflikte letztlich argumentativ und mit Vernunft lösen lassen. Aufgrund seiner herausgehobenen Position konnte er diese Prägung durch die „alte Bundesrepublik“ während der 1990er-Jahre in den verfassungspolitischen Diskurs einspeisen und so dabei mitwirken, der Bevölkerung des wiedervereinigten Deutschland ein westlich-liberales und dezidiert rechtsstaatliches Identifikationsangebot zu machen. Dieser Aspekt des Interviews dürfte auch den Zeithistoriker zum weiteren Nachdenken anregen.

Der Band bietet insgesamt die typischen Vor- und Nachteile eines Interviews: Er präsentiert einen ersten akteurszentrierten Einblick in das Leben von Dieter Grimm und seinen zeithistorischen Kontext, ist dabei durchaus unterhaltsam und nie ausufernd, hat aber zwangsläufig – abgesehen von den analytisch sehr erhellenden Abschnitten zu verfassungsrechtlichen Fragen – etwas Feuilletonistisches. Wer sich von den Antworten Grimms spontane Unmittelbarkeit erhofft, wird überwiegend enttäuscht – dafür ist Grimm als Interviewpartner einfach zu routiniert und reflektiert.

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