Cover
Titel
Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte


Autor(en)
Völkel, Bärbel
Reihe
Wochenschau Wissenschaft
Erschienen
Schwalbach am Taunus 2017: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 21,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susan Krause, Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik, Universität Bielefeld

Mit Bärbel Völkels Veröffentlichung erscheint eine Monographie, die sich erstmals der inklusiven Geschichtsdidaktik von der grundlegenden Theoriebildung her widmet. Bisher erschienen zu dem Thema Sammelbände. Eine Beschäftigung fand auf breiter Themenbasis statt, entweder entlang eines weiten Inklusionsbegriffes1 oder punktuell anhand einzelner Förderschwerpunkte.2 Diese unterschiedlichen Herangehensweisen (inhaltlich, curricular, kategorial, zielgruppenspezifisch etc.) konnten bereits vielfältige Ansätze zum Thema inklusives, historisches Lernen aufzeigen. Dies geschah vor allem unter Beibehaltung bzw. nur geringfügiger Modifikation der Domänenspezifik des Geschichtsunterrichts, die im Kern allerdings unverändert blieb. Hier setzt Völkels Kritik an, die sich durch ihre Ausführungen zieht und bereits zuvor wiederholt von ihr formuliert wurde.3 Sie attestiert in aller Deutlichkeit ein strukturelles Defizit in der geschichtsdidaktischen Theoriebildung „das einen inklusiven, historisch-kulturelle wie auch geistig-kommunikative Andersheit einschließenden Geschichtsunterricht derzeit nicht erlaubt.“ (S. 7) So werde eine Vorstellung von Zeit und Zeiterfahrung vorausgesetzt, ohne dass diese näher erläutert wird und eine ganze Theorie fuße somit auf Nichtwissen. (S. 106) Der Geschichtsunterricht würde zudem einen Beitrag zu ausgrenzenden Denkmustern leisten. Denn die fachdidaktische Theoriebildung beziehe sich stets auf das, was Eingang in die Geschichtswissenschaft genommen hat: die „Privilegierung der Geschichte fähiger, weißer, westeuropäischer (heterosexueller) Männer.“ (S. 57) Überzeugend ist dabei, dass Völkel ihr Anliegen aus einer heterogenen, d.h. multiethnischen und divergent-begabten Gesellschaft heraus formuliert und konsequent durchdenkt.

Aufgrund dieser von ihr konstatierten inhärenten Ausschlussmechanismen nähert sich Völkel nicht von der Seite der Kognition und des Denkens der Geschichte an, sondern vom Leib her. Es geht ihr darum, „den bewegten Körper als Raum erlebter Erfahrungen mit in den Fokus der geschichtsdidaktischen Aufmerksamkeit zu rücken.“ (S. 9) Der Leibbezug ist dabei zunächst nicht grundlegend neu. In den Disability Studies ist eine Orientierung auf den Leib bereits üblich.4 Völkels theoretischen Ausgangspunkt bei der Untersuchung von Zeit und Zeitbewusstsein bilden Leibbetrachtungen der Phänomenologie und des Gestaltkreises. Sie lehnt sich in ihren Ausführungen an Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Bernhard Waldenfels und Viktor von Weizsäcker an. Ein solcher Theorieansatz stellt für die Geschichtsdidaktik, für die bisher vor allem die Geschichtswissenschaft als Bezugsdisziplin galt, ein Novum dar.

Damit einher geht ein völlig veränderter Zeitzugang. Mit Zeit ist kein Akt des reflexiven Bewusstseins, im Sinne eines Geschichtsbewusstseins (mehr) gemeint, sondern die „im Erleben empfundene Zeit.“ (S. 99) Daher seien Erlebnisse die Grundlage der leiblichen Reflexivität. Das Schaffen einer „Urimpression“ sei das Ziel zukünftiger Geschichtslehrer/innen, da von den Schüler/innen letztlich nichts reflektiert werden könne, was losgelöst von ihrer Lebenswelt ist. Eigenes Erleben wird somit für eine Vergegenwärtigung von Vergangenheit zentral.

Jörn Rüsens postulierten und als Grundlage der Geschichtsdidaktik geltenden narrativen Sinn, der über Zeiterfahrung erzeugt wird, lehnt Völkel für die inklusive Betrachtung von historischem Lernen ab. Viel anschlussfähiger sei dagegen der Begriff „Handlungssinn.“ (S. 80f.) Denn auch ohne Narrativieren sei der Mensch in Geschichte handelnd verstrickt durch seinen reflexiven Leib. Es brauche daher keine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, da beide Zeitebenen bereits „koinzident“ im Leib vorhanden seien. Über diese vergegenwärtigte Gegenwart erfolge die (vorsprachliche) Sinnerschließung (S. 136). Für Völkel gibt es zwei Welten, die klar voneinander zu trennen sind: zum einen die kognitiv-rationale, auf „Eindeutigkeit und Wahrheit ausgelegte Wissenschaft“ (S. 189, Anm. 23), wo sie das Geschichtsbewusstsein, das Wissenschaftswissen und die elaborierte Geschichte verortet. Hier agierten für sie allenfalls Historiker/innen, aber keine Schüler/innen, für die diese eine „ungeeignete Idealwelt“ darstelle (S. 140). Auf der anderen Seite sieht sie die Lebenswelt, in der biographisch-relevante Zeit eine zentrale Rolle spielt und wo sich Schüler/innen über Selbstthematisierung ihrer eigenen Lebensgeschichte der Geschichte nähern. Geschichtsbewusstsein heißt hier Zeitbewusstsein, und Wissen entsteht über sinnliche Wahrnehmung. Eine leiborientierte Geschichtsdidaktik müsste sich hier verorten. Die Geschichtsdidaktik, wie sie sich derzeit begreift, „hängt“ allerdings zwischen beiden Welten (S. 115).

Es wird bereits deutlich, dass es um mehr geht als einen neuen Forschungsansatz für inklusives, historisches Lernen. Leiborientierte, historische Bildung fußt nicht auf der bisherigen Theoriekonzeption. Sie (er)fordert eine, der gesellschaftlichen Neukonstellation durch Inklusion Rechnung tragende, gänzliche Neuformierung der Geschichtsdidaktik.

Einleitend versucht Völkel eine Bestandaufnahme der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts und stellt dabei einen defizitären Ist-Zustandes heraus. Im Hauptteil folgt sehr ausführlich das Vorstellen der neuen „Leib“-Konzeption der Geschichtsdidaktik, für die sie ausdrücklich wirbt. In den letzten Kapiteln geht es um die praktischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben sollen und die mit vielen Beispielen versehen werden. Immer wieder fließt bereits vorgreifend und andeutend Kritik mit ein, werden neue Erkenntnisse mit bisherigen Theoriekonzeptionen gegengespielt und mit Beispielen aus Lebenswelt und Historie verwoben. Dies geschieht in von ihr zuvor angekündigt wiederholender, aber dadurch etwas unübersichtlicher Weise. Daraus ergibt sich ein dichtes Theoriegebilde, das sich an manchen Stellen schwer durchdringen lässt. Die Zugänge aus Phänomenologie und Gestaltkreis sind für geschichtsdidaktische Leser ungewohnt und in ihrem Detailreichtum teilweise überzogen. Daher ist es eine für Geschichtslehrkräfte, Referendar/innen und Lehramtsstudierende nur bedingt hilfreiche Lektüre. Völkel bezieht wenig Bildungspolitisches und Begriffsgeschichtliches zu Inklusion mit ein. Sie greift die Inklusionsdebatte insgesamt wenig umfangreich auf, was wohl damit zu erklären ist, dass es sich um eine grundlegend neue Betrachtungsweise von inklusiver Geschichtsdidaktik handelt.

Sehr konsequent, aber zum Teil radikal wirken die Ausführungen zu Schüler/innen mit schwersten kognitiven Einschränkungen, denn diese würden letztlich keinen Geschichtsunterricht erhalten. Geschichtslehrer/innen sollten sich hier künftig als „Fachmenschen für die Phänomene Raum und Zeit“ verstehen (S. 164) und der Geschichtsunterricht folglich zum „Zeitunterricht“ werden (S. 212f.).

Der recht aufgeladene Text bietet dennoch viel Potential. So wird durch die Zugrundelegung einer solchen Theoriekonzeption von Geschichtsunterricht denkbar auch stärker kognitiv eingeschränkte Schüler/innen mit einzubeziehen. Wichtig sei es, ihnen zu ermöglichen, gemeinsam mit anderen und nicht isoliert zu lernen. Geschichtslehrer/innen sollten ihnen Angebote machen, die ihre Erfahrungswelt erweitern, z.B. auf Ebene leiblicher Begegnungen in Form von Erlebnissen und Wahrnehmungen im Schulalltag (S. 175f.).

Den der Theoriebildung inhärenten Ausschlussmechanismen stellt Völkel eine „dominanzkulturelle Selbstreflexion“ entgegen. Sie fordert eine dialogische Geschichte mit Betonung auf Beziehungen und Verflechtungen; einen „relationalen“ Geschichtsunterricht, der aufklärt darüber, dass es keine Nationalgeschichte gibt, sondern Geschichten stets aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig beeinflusst haben (S. 212f.).

Es sind mutige Thesen mit Aufforderungscharakter, die hier formuliert werden. Ob diesem Appell nachgekommen wird, muss sich noch zeigen. Keine Position dazu zu beziehen, wird allerdings schwierig. Denn was deutlich wird, ist, dass Völkel damit nicht nur ein Buch geschrieben hat, das für inklusive Lernsettings einen Bedeutungsanspruch erhebt. Es handelt sich um eine Fundamentalkritik am derzeitigen Theoriekonzept der Geschichtsdidaktik. Da alle historische Bildung, wenn sie sich als zeitgemäß verstehen will, inklusiv zu denkende Bildung ist5, kann eigentlich niemand an diesem Buch vorbei, der sich mit der Theorie und Didaktik der Geschichtswissenschaft beschäftigt.

Anmerkungen:
1 Bettina Alavi / Martin Lücke (Hrsg.), Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts. 2016. sowie: Christoph Kühberger / Robert Schneider (Hrsg.), Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts, Bad Heilbrunn 2016.
2 Sebastian Barsch / Wolfgang Hasberg (Hrsg.), Inklusiv – Exklusiv. Historisches Lernen für Alle, 1. Auflage, Schwalbach/Ts. 2014.
3 So hat sie bereits in ihrem Aufsatz Nationalism – Ethnicity – Racism kritisiert, dass die Orientierung am Geschichtsbewusstsein ganz eigene Effekte habe, „die angesichts der Veränderungen der Welt nur noch bedingt hilfreich sind.“ Zitiert in: Bärbel Völkel, Kategorien oder Inhalte? Erste Annäherungen an eine inklusive Geschichtsdidaktik, in: Alavi/Lücke, Geschichtsunterricht ohne Verlierer!?, S. 34.
4 Leib ist nicht synonym zu Körper zu verstehen. Er biete einen Ort des Zusammenfallens von Körper und Geist und somit eine Überwindung der Dichotomie und Hierarchisierung dieser beiden zugunsten des Geistes (S. 69). Vgl. zudem den Leibbezug aus historischer Perspektive in: Elsbeth Bösl / Anne Klein / Anne Waldschmidt (Hrsg.), Disability History. Konstruktion von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010.
5 Vgl. das Inklusionsverständnis in der Allgemeinen Pädagogik, wo nicht betont werden muss, dass es Schüler/innen mit oder ohne Inklusionslabel gibt, sondern die Schülerschaft als Ganzes betrachtet wird, die Heterogenitätsmerkmale aller Art selbstverständlich miteinschließt.

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