J. Hagen: Die Tränen der Mächtigen und die Macht der Tränen

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Titel
Die Tränen der Mächtigen und die Macht der Tränen. Eine emotionsgeschichtliche Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie


Autor(en)
Hagen, Judith
Reihe
Altertumswissenschaftliches Kolloquium 25
Erschienen
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabelle Künzer, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Seit einiger Zeit erfreuen sich emotionsgeschichtliche Untersuchungen in den Altertumswissenschaften einer gewissen Popularität. Auch die hier zu besprechende Dissertation Judith Hagens zu Tränen und Weinen in der kaiserzeitlichen Geschichtsschreibung fügt sich recht passend in diesen Rahmen ein. Die Verfasserin macht es sich zur Aufgabe, mittels eines emotionsgeschichtlichen Zugangs die von Angehörigen der republikanischen und kaiserzeitlichen Elite vergossenen Tränen auf ihre Funktion in spezifischen Kontexten sowie im literarischen Diskurs zu analysieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Normen und Verhaltenserwartungen, die durch Tränen unterstützt, gegebenenfalls hinterfragt oder aber gebrochen wurden. Gleichzeitig berücksichtigt Hagen je nach Situation auch das Weinen von Akteuren vor politischen oder militärischen Funktionsträgern. Als zeitlicher Rahmen dient der Verfasserin einerseits der Bereich, der von der kaiserzeitlichen Historiographie erfasst wird. Dementsprechend sind auch die Tränen diverser Akteure aus der spätrepublikanischen Zeit, beispielsweise Catos des Jüngeren, Gegenstand der Studie, da dessen Weinverhalten unter anderem bei Plutarch thematisiert wird. Andererseits lehnt Hagen es wohl zu Recht ab, mit der Spätantike eine allzu starre Zäsur zu setzen. Aus diesem Grund behandelt sie auch Tränen politischer und militärischer Entscheidungsträger des frühen Mittelalters. Als Quellengrundlage dienen im Wesentlichen die historiographischen Werke, die im Verlaufe der römischen Kaiserzeit entstanden sind, daneben aber auch biographische oder dichterische Schriften.

Hagens Untersuchung gliedert sich in zwei Teile: In einem ersten Abschnitt wird nach einer Sichtung des Forschungsstands zu ritual- und emotionsgeschichtlichen Fragestellungen im Allgemeinen und zu Tränen in den Altertumswissenschaften im Speziellen sowie ferner zu Emotionen und Ritualen in der Mediävistik das eigene methodische Vorgehen entwickelt. Zu Recht hebt Hagen dabei in Abgrenzung von Dinzelbacher hervor, dass Emotionen und Rituale nicht prinzipiell als gegensätzlich zu verstehen sind.1 Jedoch verfällt sie selbst nur wenig später in polarisierendes Denken und stellt somit ihre eigenen Ausführungen im Grunde infrage, wenn sie von der „Dichotomie des Weinens zwischen Emotion und Ritual“ (S. 55) spricht. Der zweite, eigentliche Analyseteil widmet sich im Verfahren einer „systematisierten Ausschnitthaftigkeit“ (S. 64) der Quellenanalyse, die auf fünf Aspekte konzentriert ist: Orte, an denen geweint wurde, Akteure, die Tränen vergossen, Frauen, die Frage nach der Reglementierung des Weinverhaltens sowie spezifische durch Tränen zum Ausdruck gebrachte Emotionen und deren Bewertung durch die antiken Autoren.

Hagens Ziel ist es, sowohl den konkreten historischen Kontexten wie auch der spezifischen literarischen Präsentation der jeweiligen Episoden gerecht zu werden. Aus diesem Grunde diskutiert sie auch das Problem der Authentizität der in bestimmten Situationen und Passagen angeführten Tränen. Sie betont, dass sich anhand der Textstellen in den seltensten Fällen allerdings konkretisieren lasse, ob Tränen in der Realität vergossen wurden, jedoch hätten für das performative Agieren in der Öffentlichkeit – so auch für das Weinen – Verhaltenserwartungen bestanden. Dementsprechend gebe die Erwähnung von Tränen daher nicht nur Auskunft darüber, ob Akteure gewissermaßen normenkonform handelten, vielmehr sei deren Nennung für antike Autoren ein häufig angewandtes literarisches Mittel zur gezielten Charakterisierung von Personen gewesen. An folgenden Orten seien dabei Tränen immer wieder vergossen worden: vor Gericht, in der Kurie und auf dem Forum, im Circus und Theater, im Umfeld von Kirchen, im Feldlager und auf Heereszügen sowie im privaten Bereich. In diesem Zusammenhang versteht Hagen Tränen als Kommunikationsmittel, das es ermöglichte, Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Dabei sei das Weinen als besonders intensive Form der Präsentation von Gefühlen zu bewerten, mit der unterschiedliche Intentionen verbunden sein konnten. So hätten Tränen etwa als Loyalitätsbeweis, als Zeichen von Trauer oder zur Konstitution eines interpersonellen Nahverhältnisses gedient. Zuweilen seien sie auch Teil taktisch-strategischer Überlegungen gewesen und unter Umständen aus Heuchelei vergossen worden. In der Regel war demnach mit dem Weinen das Ziel verbunden, bestimmte Adressaten zu beeinflussen.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Untersuchung nicht insgesamt mit Hilfe einer stärkeren Konzentration auf die spezifischen Emotionen, die mit Tränen zum Ausdruck gebracht werden konnten, und deren jeweilige Funktionen deutlichere Konturen hätten verliehen werden können. Die Kapitel zu den Orten, an denen geweint wurde, und zu den Tränen vergießenden Akteuren gelangen bedauerlicherweise selten über den Stand einer zettelkastenartigen Befundaufnahme hinaus, die durchaus knapper hätte ausfallen können. Zumeist werden diese Abschnitte zudem von Hagen selbst mit den wenig überraschenden Worten bilanziert, Tränen seien an den jeweiligen Ort, bei einer bestimmten Person und in einem konkreten Kontext Kennzeichen für intensive Emotionen oder aber eine dementsprechende Stilisierung durch die antiken Autoren. Ein deutlicherer Fokus auf die spezifischen Emotionen, die Tränen und Weinen transportieren konnten, und auf deren konkrete Funktion in den jeweiligen Situationen hätte außerdem dem emotionsgeschichtlichen Zugang, dem sich die Studie ja verpflichtet fühlt, ein klareres Profil gegeben und darüber hinaus wohl zahlreiche Redundanzen vermeiden helfen können, die bei dem vorhandenen Zuschnitt der Untersuchung wohl unweigerlich entstanden sind.2 Gerade die vorgeschlagene andere Akzentsetzung wäre gewiss auch für Hagens Vorhaben überaus dienlich gewesen, die Verhaltensmuster rund um das Thema Tränen in der kaiserzeitlichen Historiographie zu untersuchen. Das Problem tritt umso stärker in den Vordergrund, da Hagens Kritik an Flaigs Auffassung von den Tränen des Feldherrn vor seinen Soldaten immanent zu einer Relativierung des Wertes ihrer eigenen Arbeit gerät, wenn sie konstatiert, dass Tränen eben nur ein mögliches performatives emotionales Ausdrucksmittel neben weiteren denkbaren Elementen darstellten, die eine vergleichbar intensive Wirkung entfalten konnten (vgl. S. 121).3 Letztlich sind daher das vierte und das fünfte Kapitel des zweiten Teils die stärksten Abschnitte der Studie. Hier kommt Hagen auf Situationen, in denen geweint wurde oder in denen eben keine Tränen flossen, obwohl dies erwartet wurde, sowie auf Emotionen, die durch Weinen repräsentiert wurden, und deren Reglementierung zu sprechen. Gleichwohl liegt der Fokus an dieser Stelle eher auf Tugenden und Charakteristika, die mit den Tränen veranschaulicht wurden.

Hagens resümierendes Ergebnis, dass Tränen und Weinen in der Geschichtsschreibung der römischen Kaiserzeit einerseits und in der historischen Realität andererseits als intensiver Ausdruck von Emotionen eine immense Bedeutung besaßen (vgl. S. 319), erscheint somit auf den ersten Blick nicht sonderlich bemerkenswert. Gleichwohl gelingt es ihr aufzuzeigen, dass Tränen nicht zwangsläufig als ein Zeichen von Schwäche anzusehen waren, sondern je nach Situation unter Umständen schlicht Bestandteil der Verhaltenserwartung und somit geradezu notwendig waren. Dieses vorsichtige Plädoyer für die situationsspezifische Betrachtung bei gleichzeitiger Berücksichtigung soziokultureller wie individueller Dispositionen kann deshalb durchaus als Anleitung zur emotionsgeschichtlichen Erforschung antiker Historiographie gesehen werden. Von Hagens Untersuchung könnten und sollten daher weitere Forschungen ausgehen.

Anmerkungen:
1 Anders Peter Dinzelbacher, Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler 2009, S. 43f.
2 So werden beispielsweise Tränen, die die Trauer um einen Verstorbenen vortäuschen sollten und die als unaufrichtig gewertet wurden, an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Zusammenhängen thematisiert, wenngleich in der Regel dieselben Schlüsse aus dem Phänomen gezogen werden, vgl. S. 202–212, 230–233 u. 304.
3 Vgl. Egon Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 110–115.

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