Cover
Titel
Kleidung zieht jeden an. Die deutsche Bekleidungsindustrie 1918 bis 1973


Autor(en)
Schnaus, Julia
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 20
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 401 S., 65 Abb.
Preis
€ 94,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Teupe, Universität Bayreuth

Kein industrieller Sektor im Deutschen Reich hatte vor Beginn des Ersten Weltkriegs so viele Beschäftigte wie die Textil-, Kleidungs- und Schuhproduktion. Hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter nähten Hosen, Blusen, Korsetts und zahlreiche weitere Kleidungsstücke, die ihre Käuferinnen und Käufer vor Kälte schützten, ihr Modebewusstsein signalisierten oder ihr Schamgefühl demonstrierten. Wie Julia Schnaus‘ Studie „Kleidung zieht jeden an“ im Titel andeutet, bediente die deutsche Bekleidungsindustrie ein Grundbedürfnis der Menschen. Sie prägte darüber hinaus lange Zeit die Arbeitswelten zahlreicher Menschen und entwickelte sich von einer exportstarken Industrie zu einem prominenten Opfer des Strukturwandels in den 1970er-Jahren. Ohne Frage war die Bekleidungsindustrie ein bedeutsamer Akteur der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Es ist umso erstaunlicher, dass deutsche Wirtschaftshistoriker/innen zwar Bibliotheken zur Schwerindustrie gefüllt, diese Branche aber bisher stiefmütterlich behandelt haben. Desto erfreulicher ist es, dass nun eine Branchen- und Pionierstudie vorliegt, welche grundlegende Entwicklungen zwischen Erstem Weltkrieg und Ölpreiskrise nachzeichnet. Die Studie entstand als Dissertation an der Universität Regensburg und war Teil eines breiter angelegten Forschungsprojekts, das die Geschichte C&As1 sowie der Bekleidungsindustrie neben der hier eingenommenen Produktionsperspektive auch aus Sicht des Einzelhandels2 und des Marketings3 verfolgte.

Die Arbeit ist in zwei Teile und acht Kapitel unterteilt. Der erste Teil skizziert die Branchenentwicklung zwischen den 1840er-Jahren, von den Anfängen der Produktion nach „Normgrößen“ bis zu den Importzunahmen, Standortverlagerungen und Konkursen der 1970er-Jahre. Der zweite Teil präsentiert mit der Valentin Mehler AG, der Triumph International AG und C&A Brenninkmeyer drei Fallstudien prägender Unternehmen. Die ursprünglich als Weberei gegründete Mehler AG entwickelte sich bereits im Kaiserreich vom Verlags- zum mechanisierten Fabrikbetrieb, der seit den 1920er-Jahren eine auf Herren- und Damenmäntel spezialisierte Konfektionsabteilung aufbaute. Triumph startete unter dem Namen Spiesshofer & Braun GmbH als Korsettmanufaktur und entwickelte sich zu einem stark international orientierten Hersteller von Miederwaren und Unterwäsche. C&A Brenninkmeyer fand als Mettinger Einzelhandelsunternehmen über die Eigenproduktion seinen Weg in die Bekleidungsindustrie. Aufgrund seines rasanten Wachstums war das Unternehmen Mitte des 20. Jahrhunderts trotz geringer Eigenproduktionsquoten einer der größten deutschen Hersteller von Bekleidung.

Das erste Kapitel zu den Anfängen der Branche fokussiert in erster Linie auf die lange Zeit prägenden Produktionszentren, die mit Hintergründen im Einzelhandel (Berlin und Mönchengladbach), in der Schneiderei (Aschaffenburg) oder der Leinenindustrie (Bielefeld-Herford) jeweils unterschiedliche Ausgangspunkte hatten. Zudem werden zentrale Merkmale der Industrie herausgearbeitet, die auch noch im 20. Jahrhundert mit unterschiedlichen Bedeutungsgraden wirkungsmächtig blieben. So war die Herstellung von Kleidung lange Zeit durch das Verlagssystem bestimmt und entsprechend dezentral, wenig kapitalintensiv und ländlich geprägt. Personalkosten spielten trotz des zunehmenden Einsatzes von Fließbändern und (Näh-)Maschinen eine zentrale Rolle. Anschließend orientiert sich die Gliederung an den großen politischen Zäsuren 1918, 1933, 1945 und 1949. Dieser Orientierung an politischen Brüchen wird im Großen und Ganzen auch in den Fallstudien gefolgt.

Die Geschichte der Bekleidungsindustrie in der Weimarer Republik war zunächst geprägt durch den Währungsverfall der Nachkriegszeit. Für die Bekleidungsindustrie brachte dies Außenhandelsprobleme und eine Welle an „Inflationsgründungen“ mit sich, die nicht lange Bestand hatten. Ähnlich tiefgreifend scheint für die Industrie jedoch auch die Krise von 1925/26 gewesen zu sein. Die Stimmung war der Studie zufolge die gesamten 1920er-Jahre durch kontinuierliche Streitigkeiten über Liefer- und Zahlungsbedingungen zwischen Industrie und Einzelhandel getrübt. Die Herstellung der Bekleidung in dezentraler Heimarbeit blieb trotz Ansätzen zur Rationalisierung dominant. Die Große Depression in den frühen 1930er-Jahren führte zwar durchaus zu Konkursen, Umsatzeinbrüchen und Verlusten. Die Fallstudie der Triumph AG zeigt allerdings auch, dass in realen Werten der Umsatz bis einschließlich 1932 kontinuierlich ausgeweitet werden konnte. Auch die Produktionszahlen der Cunda GmbH, einer „Inflationsgründung“, die als Tochter von C&A Brenninkmeyer Eigenfabrikate für das Handelsunternehmen fertigte, brachen eher kurzfristig und geringfügig ein.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte für die Branche gravierende Konsequenzen. Die deutsche Bekleidungsindustrie war durch jüdische Unternehmer geprägt, die nun im Zuge von Diskriminierungen bei staatlichen Aufträgen bis hin zu weit verbreiteten „Arisierungen“ aus ihren Geschäften vertrieben wurden. Die Studie von Schnaus zeigt eindrucksvoll, mit welchen perfiden Mitteln dies geschah und was „Arisierung“ für die betroffenen Personen und Unternehmen bedeutete. Besonders prominent erscheint der Fall von Arthur Kayser, der den Aufstieg der Valentin Mehler AG begründete, bevor er 1938 sein Amt als Vorstandsvorsitzender räumen und seine Aktien verkaufen musste. Kayser starb noch im selben Jahr bei einem Flugzeugabsturz. Schnaus beleuchtet auch weitere Fälle von Übernahmen, die nach dem Krieg offiziell als „sittenwidrig“ eingestuft wurden und Rückerstattungen zur Folge hatten. Eine weitere Stärke der Studie ist der Blick auf die Bekleidungsproduktion in Ghettos und Konzentrationslagern, teilweise durch Interviews der Autorin ermöglicht. Angesichts eines kriegsbedingten Arbeitskräftemangels griffen weite Teile der Branche auf diese von der Ghettoverwaltung geradezu aggressiv beworbene Möglichkeit zurück. Sowohl die Tradition des dezentralen Verlagswesens als auch die Orientierung an billiger Arbeitskraft kamen der Strategie entgegen.

Mehr als eine „Übergangslösung“ war diese Produktionsweise freilich nicht. In der Nachkriegszeit stand die westdeutsche Bekleidungsindustrie – auf welche Schnaus von nun an fokussiert – vor der Herausforderung, sich neu zu orientieren. Zwar waren die Produktionskapazitäten größtenteils noch vorhanden. Voll auslasten ließen sie sich aber nicht, einerseits aufgrund zerstörter Spinnereien und Webereien, andererseits aufgrund des Transportproblems zwischen den Besatzungszonen. Auf Grundlage der offiziellen Zuteilung hätte man auf einen Wintermantel 154 Jahre warten müssen. Für die personelle Situation der Unternehmensführung galt das Problem der Neuorientierung nicht. Personelle Kontinuitäten trotz Nähe zur NSDAP waren auch in der Bekleidungsindustrie verbreitet. Im Fall der Mehler AG führte die Absetzung und zwischenzeitliche Inhaftierung des Vorstandsvorsitzenden Willy Kaus allerdings dazu, dass Kaus, der später als „Mitläufer“ eingestuft wurde, seine wirtschaftliche Karriere in anderen Unternehmen fortsetzte.

Die Geschichte der Bekleidungsindustrie in der BRD, die Schnaus bis 1973 verfolgt, erscheint im Wesentlichen als eine Geschichte des Niedergangs. Die treibenden Kräfte dieser Entwicklung sieht Schnaus einerseits in steigenden Lohnkosten, die vor allem eine Folge der Vollbeschäftigung im Zuge des „Wirtschaftswunders“ waren. Zeitgleich litt die Industrie unter den wachsenden Importen aus Niedriglohnländern. Die Unternehmen reagierten auf die Entwicklung zunächst mit der Verlagerung von Produktionsstätten in ländliche Regionen, in denen Arbeitskräfte vergleichsweise billig zu haben waren und die Politik Subventionen zur Verfügung stellte. Die Strategie entsprach der traditionellen Orientierung der deutschen Bekleidungsindustrie. Sie stellte sich als Sackgasse heraus, da auf dem Land lediglich kleine, ineffiziente Betriebe errichtet werden konnten. Die langfristig vielversprechendere Strategie bestand in der Verlagerung der Produktion ins Ausland. Dies konnte, wie Schnaus zeigt, auf zwei Weisen geschehen. Entweder betrieben die Unternehmen „passive Lohnveredelung“, die aus Produktionsaufträgen an ausländische Unternehmen bestand, oder sie errichteten eigene Produktionsstätten. Das „Know-How und die Verwaltung der Firmen“ (S. 182) verblieben hingegen in Deutschland. Anders als etwa im Fall der Unterhaltungselektronik hat dies dazu geführt, dass sich deutsche Unternehmen der Bekleidungsindustrie noch heute einen signifikanten Anteil der stark internationalisierten Wertschöpfungskette aneignen können.

Insofern ist das Narrativ eines Niedergangs auch eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der Arbeiterinnen und Arbeiter war die Schließung zahlreicher Werke ohne Frage ein einschneidendes Ereignis, wobei Schnaus‘ Studie insgesamt den Schluss nahelegt, dass diese kalkulierten Schritte nicht unbedingt leichten Herzens beschlossen wurden. Die Frage, ob protektionistische Maßnahmen die Branche hätten retten können, möchte Schnaus nicht beantworten. Allerdings betont und demonstriert sie anhand verschiedener Quellen die Bedeutung einer politisch gleichgültigen Haltung in den Ministerien. Im Kontext vorhandener Zölle und Einfuhrkontingente für Bekleidung und einer letztlich nicht branchenspezifischen Entwicklung des Strukturwandels scheint dies jedoch keineswegs der zentrale Faktor gewesen zu sein, zumal Schnaus selbst aufzeigt, wie die deutschen Unternehmen durch ausländische Direktinvestitionen und „passive Lohnveredelung“ den Importanteil des inländischen Konsums steigerten. Mit ihrer gut lesbaren Studie hat Schnaus ein Fundament für weiterführende Arbeiten gelegt. Diese könnten näher beleuchten, wie Transfer und Abstimmungen etwa zwischen „Know-How“ und Produktion oder zwischen den deutschen Firmenverwaltungen und ihren ausländischen Dependancen beziehungsweise Auftragnehmern aussahen. Letzteres wäre mit Blick auf die Entwicklung internationaler Wertschöpfungsketten in der Bekleidungsindustrie interessant, in deren Erforschung die historische Rolle deutscher Unternehmen bisher wenig Beachtung gefunden hat.4

Insgesamt hat Schnaus eine verdienstvolle Pionierstudie zu einem relevanten Thema der Wirtschaftsgeschichte vorgelegt und sich glücklicherweise nicht von den Schwierigkeiten spärlicher und verstreuter Archivquellen abschrecken lassen. Eine stärkere Integration der unternehmerischen Fallstudien in das Gesamtnarrativ hätte den Lesefluss des Buches sicher nicht getrübt, der Aufbau erleichtert umgekehrt aber den unternehmensspezifischen Zugriff. Wer etwas über die Geschichte der Unternehmen Mehler, Triumph und C&A sowie die deutsche Bekleidungsindustrie und ihre Bedeutung für die deutsche Wirtschaftsgeschichte lernen möchte, dem sei das Buch ans Herz gelegt.

Anmerkungen:
1 Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911-1961, München 2016.
2 Uwe Balder, Der deutsche Textileinzelhandel 1914 bis 1961 (im Erscheinen).
3 Anna Pauli, Die Geschichte des Marketings im Textileinzelhandel 1918 bis 1960 (im Erscheinen).
4 Gary Gereffi, International Trade and Industrial Upgrading in the Apparel Commodity Chain, in: Journal of International Economics 48 (1999), S. 37–70; Pietra Rivoli, Reisebericht eines T-Shirts. Ein Alltagsprodukt erklärt die Weltwirtschaft, Berlin 2007.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch