H. Möller u.a. (Hgg.): Einführung in die Zeitgeschichte

Cover
Titel
Einführung in die Zeitgeschichte.


Herausgeber
Möller, Horst; Wengst, Udo
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Angerer, Institut für Geschichte, Universität Wien

Dieses Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Es ergänzt das spärliche Angebot vergleichbarer Art auf zum Teil nützliche Weise und enthält einzelne Kapitel, die sich nicht nur in der universitären Lehre bewähren werden, sondern auch interessierten Laien empfohlen werden können. Nach einem Einführungsessay von Horst Möller bieten Manfred Kittel, Volker Dahm und Udo Wengst Überblicke über die Entwicklungen der Weimarer Republik, des „Dritten Reichs“ und der beiden deutschen Staaten bis zur Wiedervereinigung. Die drei Überblickskapitel machen volle zwei Drittel des Textteiles aus. Mit Kurzzitaten aus sechs Forschungskontroversen, knappen Literatur- und Forschungsberichten und verhältnismäßig umfangreichen Literaturlisten ergänzen die Autoren die Darstellungen in Anlehnung an die „Oldenbourg Grundrisse der Geschichte“, an die auch das Layout erinnert. Dazwischen informiert ein Kapitel kurz über Studienorte, Institutionen, Zeitschriften, Berufsfelder (Udo Wengst), Archive (Klaus A. Lankheit), Bibliotheken (Christoph Weisz) und das Internet (Andreas Nagel). Ein Personen- und ein Sachregister sowie drei Karten runden den von Angehörigen des Instituts für Zeitgeschichte herausgegebenen und verfassten Band ab.

Alle Beiträge lesen sich gut, doch fallen sie inhaltlich wie qualitativ stark auseinander und halten insgesamt nicht, was Buchtitel, Klappentext oder auch nur das Vorwort versprechen. So überraschen die Herausgeber von Anfang an durch ihre enge Auffassung vom Gegenstand einer „Einführung in die Zeitgeschichte“, die über „Geschichte, Methoden und zentrale Fragestellungen“ (Klappentext) informieren will: „Jede Nation hat ihre eigene Zeitgeschichte, und daher handelt es sich in vorliegendem Fall um eine Einführung in die deutsche Zeitgeschichte – wobei internationale Entwicklungen soweit möglich und erforderlich in die Betrachtung einbezogen werden.“ (Vorwort, S. 11) Ist das nicht etwas provinziell? Hans Rothfels’ Aufruf zur „universalen Ausrichtung“ der Zeitgeschichtsforschung scheint vergessen, aktuelle Alternativkonzepte werden nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt.1

Leider vernachlässigt das Buch auch wesentliche Dimensionen der deutschen Zeitgeschichte selbst. Erstens bezieht es „internationale Entwicklungen“, die für die deutsche Zeitgeschichte maßgeblich sind, bei weitem nicht „soweit möglich und erforderlich“ ein. Das deutet sich schon in Horst Möllers gedankenreichem, historiografiegeschichtlich orientiertem Einleitungsessay an („Was ist Zeitgeschichte?“, S. 13-51). In welch besonderem Maße deutsche Zeitgeschichte und Zeitgeschichtsforschung in anderen Teilen Europas und der Welt auch über die Totalitarismus- und Faschismus-Debatten hinaus interessiert, wird nicht erörtert. Die Folgen sind beträchtlich. So klingt die immer wieder erneuerte Diskussion um die Haltung Deutschlands zu Europa und der übrigen Welt nur kurz oder am Rande an (S. 40, 43ff.). Außerdem fehlen die zentralen, maßgeblich von der internationalen Forschung angestoßenen Kontroversen über Geschichte und Deutung der Shoah.

Was es bedeutet hätte, internationale Entwicklungen „soweit möglich und erforderlich“ zu berücksichtigen, zeigt die erste und beste der drei Überblicksdarstellungen: „Zwischenkriegszeit und Weimarer Republik“ von Manfred Kittel (S. 52-99). Kittel stellt die deutschen Entwicklungen durchweg vergleichend und verknüpfend in den internationalen Kontext. In Volker Dahms Beitrag über „NSDAP, Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg“ (S. 100-172) ist dies dagegen kaum der Fall, obwohl er mit Abstand der längste ist und eine internationale Einordnung der NS-Herrschaft wohl kaum weniger wichtig gewesen wäre als diejenige der Weimarer Republik. Zwar gibt es einen Abschnitt über Hitlers Kriegspolitik (S. 143-155), doch kaum etwas zu den globalen Auswirkungen der „Welt in Waffen“ und zur deutschen Neuordnung Europas. Viel zu kurz kommen die internationalen Zusammenhänge auch in Udo Wengsts Beitrag „Kalter Krieg und geteiltes Deutschland“ (S. 173-228), dem blassesten der drei darstellenden Kapitel. Gut gelungen und verdienstvoll ist hier die laufende Gegenüberstellung und Verknüpfung der Geschichten West- und Ostdeutschlands. Im Bemühen um eine Verbindung der Geschichten der Bundesrepublik und der DDR zu einer „eigenen“ deutschen Zeitgeschichte gerät allerdings zu stark aus dem Blick, dass die beiden Staaten mit den jeweils anderen Teilen Europas und der Welt ungleich mehr verband als untereinander.

Davon abgesehen leidet das Buch unter weiteren Verkürzungen der Perspektive. Die erste ist eine zeitliche. Die darstellenden Kapitel beginnen nicht mit 1917, wie im Vorwort analog zu Rothfels’ Periodisierungsvorschlag angekündigt (S. 11), sondern mit 1918, was sich aus der Verengung der universalen auf die nationale Perspektive ergibt. Diese erklärt allerdings nicht, warum der darstellende Teil mit der deutschen Einigung und dem Zerfall der Sowjetunion schließt, obwohl Möller im Einleitungskapitel der allgemeinen Auffassung beipflichtet, dass die Zeitgeschichte „ein offenes Ende“ hat (S. 23). Könnte und sollte nicht gerade eine integrative Darstellung der Geschichte des geteilten Deutschlands, um die sich der Band offensichtlich bemüht, die Geschichte der Einigung Deutschlands seit 1990 einbeziehen? „Neueste Zeitgeschichtsschreibung von hoher Qualität ist möglich“, erinnerte jüngst Hans-Peter Schwarz.2

Drittens – und dies ist wahrscheinlich die größte Schwäche – erfasst das Buch nur sehr wenige Lebensbereiche. Mit Ausnahme des in jeder Hinsicht herausstechenden Kapitels über die Zwischenkriegszeit und die Weimarer Republik sind die Beiträge dermaßen politiklastig, dass auch Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in der Regel nur unter politischen Gesichtspunkten erörtert werden: Politisierung der Gesellschaft, Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, politische Kultur... Eine über dreihundertseitige „Einführung in die Zeitgeschichte“, die den dramatischen Wandel der Geschlechter- und Familienverhältnisse nur in einem halben Absatz am Beispiel der DDR andeutet (S. 213), die Pluralisierung von Kultur und Gesellschaft durch Immigration mit einem kurzen Hinweis auf den Anstieg der Ausländerquote in der Bundesrepublik abhandelt (S. 211) und weder auf Popkultur und Pille noch auf AV-Medien und NGOs eingeht – da sind nicht nur die Proportionen fragwürdig, sondern es fehlt ein Großteil Zeitgeschichte überhaupt, auch und gerade der deutschen.

Das Kapitel „Praktische Hilfsmittel“ (S. 229-260) ist unverhältnismäßig kurz und fällt auch durch merkwürdige Gewichtungen auf. So ist es sicher gerechtfertigt, das Institut für Zeitgeschichte und seine Forschungsschwerpunkte genauer vorzustellen als andere (S. 229f.), doch wohl zu wenig, es dann beim Hamburger Institut für Sozialforschung mit der Erläuterung bewenden zu lassen, es sei eine „Besonderheit“, „da es sich in privater Trägerschaft befindet (Jan Philipp Reemtsma)“ (S. 231). Und muss die Zeitschriftenauswahl wirklich so eng ausfallen, dass Titel wie das „Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte“, „BIOS“, „Sozial.Geschichte“ (ehemals „1999“), „Holocaust and Genocide Studies“ u.a.m. keinen Platz mehr haben? Außerdem finden sich weder grundlegende, inzwischen digitalisierte Datenbanken wie das „Archiv der Gegenwart“ noch Hinweise auf die Archivierung von Internetseiten. Leider fehlen auch Literaturhinweise.

Die von den Autoren des darstellenden Teils abschließend verfassten „Literatur- und Forschungsberichte“ (S. 261-291) sind der Länge nach sehr unausgewogen. Der zweite und ausführlichste Abschnitt verweist zur Erörterung der Forschung zur NS-Außenpolitik auf den ersten (S. 280); mit Ausnahme einer kurzen Andeutung der Debatte über die Kontinuitäten vor und nach 1933 (S. 266) wird man dort allerdings nicht fündig. Der Abschnitt über Literatur und Forschung zu Deutschland nach 1945 ist nicht nur der kürzeste, sondern auch in der Wahl der Schwerpunkte für die Forschung wenig repräsentativ.

Zeitgeschichtliche Quellenkunde erschöpft sich in einer auf die Kapitel „Praktische Hilfsmittel“ und „Literatur- und Forschungsberichte“ verstreuten Aufzählung von Archiven und Akteneditionen. Methodenfragen sind kein Thema, obwohl es der Klappentext prominent ankündigt. Nur in Möllers Einleitungsessay ist davon auf knapp zwei Seiten unvermittelt die Rede. Oral History sei „eine Regression in ein Zeitalter nur mündlicher Geschichtsüberlieferung“ und „irrelevant“, um etwa „die wirkliche Epochenbedeutung des Jahres 1945“ einzuschätzen (S. 19). Den Seitenhieb auf einen prominenten Kollegen hat man verstanden; zur Frage nach dem Wert mündlicher Quellen in der Zeitgeschichte und der Spannung zwischen zeitgenössischem Bewusstsein und zeitgeschichtlicher Erkenntnis hätte man in diesem Buch allerdings Seriöseres erwartet.3

Anmerkungen:
1 Rothfels, Hans, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8, hier S. 7; vgl. etwa Gehler, Michael, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen 12), Bochum 2001; Osterhammel, Jürgen, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 147), Göttingen 2001.
2 Schwarz, Hans-Peter, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 5-28, hier S. 16.
3 Eine wesentlich detailliertere Fassung dieser Rezension erscheint in Heft 4/2004 der Zeitschrift "zeitgeschichte".

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension