O. Bartov: Anatomy of a Genocide

Titel
Anatomy of a Genocide. The Life and Death of a Town Called Buczacz


Autor(en)
Bartov, Omer
Erschienen
New York 2018: Simon & Schuster
Anzahl Seiten
XIV, 398 S.
Preis
€ 25,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossoliński-Liebe, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Nichts erinnert heute in der ukrainischen Kleinstadt Buczacz mehr daran, dass dort einst jüdisches Leben blühte und Personen wie der Schriftsteller und Nobelpreisträger Samuel Josef Agnon, der Historiker Emanuel Ringelblum oder der spätere „Nazi-Jäger“ Simon Wiesenthal lebten. Die Vernichtung der Juden wurde in der Westukraine zweimal vergessen: erstens in der sowjetischen Ukraine, als Synagogen in Sporthallen oder Kinos umgestaltet wurden und Grabplatten als Pflastersteine dienten. Zweitens in der unabhängigen Ukraine, als Denkmäler für lokale Kriegsverbrecher, Antisemiten und Faschisten auf dem Gelände ehemaliger Ghettos und Erschießungsorte errichtet wurden.

In seiner neuen Monographie rekonstruiert der renommierte Historiker Omer Bartov mit dem Ansatz der Mikrogeschichte, der in den letzten Jahren in der Holocaustforschung immer mehr in Gebrauch gekommen ist, die Vernichtung der Buczaczer Juden und zeigt, wie komplex und grausam sie verlief. Bartovs Monographie unterscheidet sich jedoch von den meisten mikrohistorischen Studien über die Shoah durch zwei, womöglich zusammenhängende Aspekte. Erstens lebte Bartovs Mutter bis 1935 in Buczacz, ehe ihre Familie nach Palästina zog. Zweitens widmet der Autor seine Aufmerksamkeit den zwischenmenschlichen, nachbarschaftlichen und privaten Aspekten des Judenmordes, die der Aufmerksamkeit vieler anderer Forscher schlicht entgangen sind.

Das Buch beginnt mit einer interessanten und instruktiven Einführung in die Geschichte einer Stadt, in der Juden, Polen und Ukrainer jahrhundertelang zusammen lebten. Ohne diese lange, wechselvolle und vielschichtige Vorgeschichte lässt sich der schnell verlaufende Genozid kaum verstehen. Das Leben jüdischer, polnischer und ukrainischer Buczaczer war sowohl durch friedliche Koexistenz als auch durch soziale und wirtschaftliche Konflikte geprägt. Bei dem größten frühneuzeitlichen Ausbruch der Gewalt, dem Chmelnytzkyj-Aufstand, der sich 1648 in südöstlichen Gebieten Polen-Litauens ereignete, wurden mehrere Tausend Juden ermordet. In Buczacz waren es, wie der Chronist Nathan Hannover im „Sefer yeven metsula“ berichtet, Polen, die den Kosaken Juden auslieferten, um sich selbst zu retten (S. 9f.).

Galizien, so wir es heute kennen und verstehen, entstand nach dem Untergang Polen-Litauens, der sich Ende des 18. Jahrhunderts ereignete. Es waren die habsburgischen Bürokraten, die der multiethnischen Region zwischen Polen und der Ukraine einen Namen gaben und eine Zeitlang die Schaffung einer gemeinsamen galizischen Identität anstrebten. Das 19. Jahrhundert war auch das goldene Zeitalter ostgalizischer Juden, die in der Monarchie mit anderen Gruppen gleichgestellt wurden und z.B. in Buczacz Stellen in der Bürgerschaft bekleiden konnten. Da jedoch auf der lokalen Ebene immer mehr Ämter und öffentliche Institutionen mit Polen besetzt wurden, wurden Juden ebenso wie Ukrainer staatlich doch diskriminiert.

Die nächste Welle organsierter Gewalt erlebten die Buczaczer Juden im Ersten Weltkrieg durch die Kosaken, die mordeten, vergewaltigten und vertrieben, aber auch durch Polen, die ihre jüdischen Nachbarn der Zusammenarbeit mit den Ukrainern während des polnisch-ukrainischen Konflikts verdächtigten und sie ebenfalls massakrierten. In der Zwischenkriegszeit wurde Buczacz weiter „polonisiert“, was jedoch keineswegs dazu führte, dass Juden oder Ukrainer ihre Identitäten aufgaben. Im Gegenteil führte diese Politik zur Stärkung der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die informell als „Ukrainische Faschistische Geheimorganisation“ bekannt wurde und ihre genozidalen Absichten gegenüber Polen und Juden kaum verhehlte. Neben der Ukrainischen National-Demokratischen Allianz (UNDO), die den polnischen Staat akzeptierte, prägte die OUN maßgeblich die politischen Ziele und Zukunftsvisionen der Ukrainer. Sie war jedoch keineswegs die einzige radikale Kraft in Polen. Mit dem Tod Józef Piłsudskis verloren die polnische Juden einen Politiker, der den Antisemitismus als eine „antipolnische“ Strömung von oben zu bremsen versucht hatte. Anschließend begann das Lager der Nationalen Einheit mit Antisemitismus, Faschismus und radikalem Nationalismus den politischen Diskurs zu dominieren.

Auch wenn die Vorgeschichte interessant erzählt ist, so macht doch die Darstellung des Judenmordes während des Zweiten Weltkriegs den eigentlichen Kern der Studie aus. Es waren nicht mehr als zwei Dutzend Deutsche, die mit 300 ukrainischen Polizisten und dem jüdischen Ordnungsdienst etwa 30.000 Juden nach Belzec deportierten und etwa genauso viele in der Stadt und Region ermordeten. Bei der Rekonstruktion dieser Ereignisse widmet Bartov seine Aufmerksamkeit vor allem der mikrohistorischen Seite des Massenmordes, was angesichts der Größe der Stadt und den engen Kontakten zwischen Juden, Polen und Ukrainern viele lehrreiche Erkenntnisse hervorbringt und wichtige Konstellationen deutlich macht.

Der Aufenthalt in Buczacz gehörte für viele Deutsche zu einer der schönsten Perioden ihres Lebens. Einige kamen mit ihren Familien, lebten ohne finanzielle Sorgen, wurden von Putzfrauen und anderen Helfern versorgt und hatten „an almost unlimited access to food, liquor, tobacco, and sex” (S. 185). Die Ermordung der Juden, die von ihnen vorangetrieben wurde oder sich direkt vor ihren Augen ereignete, erschütterte die Harmonie des Alltags nicht. Ganz im Gegenteil, sie gehörte dazu und bestätigte diese Männer und Frauen darin, dass sie eine wichtige Mission zu erfüllen hatten, deren Notwendigkeit und Richtigkeit sie nicht hinterfragen wollten. Die Morde spielten sich da ab, wo sie spazieren gingen oder mit ihren Kindern spielten, wodurch der Alltag und der Holocaust ineinanderflossen. Der SS-Mann Kurt Kölner ermordete zum Beispiel die um ihr Leben flehenden Emil Kitaj und Hania Adler mit Kopfschüssen „with the pistol in one hand and his own five-year-old son’s hand in the other” (S. 189).

Ukrainische Polizisten ermordeten keine Unbekannten, sondern ihre Schulkameraden, Nachbarn, Freunde ihrer Kinder oder den Schneider, der ihre Kleidung genäht hatte. Sie waren in keinen anonymen Genozid involviert, sondern in ein intimes Massaker an Personen, mit denen sie groß geworden waren und die sie gut kannten. Menschen, die anderen halfen, taten dies aus sehr unterschiedlichen Gründen. Wenn Polen Juden eher deshalb halfen, weil sie von der OUN und ihrer Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) auch verfolgt und massakriert wurden, handelten Ukrainer teils aus Nächstenliebe, teils auch aus Eigennutz. In den letzten Wochen der deutschen Besatzung überstieg der Eifer „gewöhnlicher“ Ukrainer vor allem aber ukrainischer Nationalisten die Mordlust der Deutschen. Eine unbekannte Zahl von Juden wurde zu dieser Zeit in der Region Buczacz durch Wehrmachtsoldaten und andere deutsche Einheiten gerettet, die auf dem Rückzug manchmal Juden vor Ukrainern beschützten (S. 262).

Bartov zeigt auch genau, welche Rolle der Judenrat und die jüdische Polizei bei der Umsetzung des Holocaust in Buczacz spielten. Wie an vielen anderen Orten benutzten die Deutschen jüdische Institutionen in Buczacz als ein Instrument, um ihre Ziele effektiver umzusetzen. Dieser Abschnitt, in dem auch die Ressentiments der Opfer deutlich werden, erinnert an Primo Levis „Grauzone“ und zeigt sowohl die Komplexität als auch die Grausamkeit dieser Art der Kollaboration: „There were horrible scenes when children escorted their parents to the pit. The policeman Anderman—a young boy—had to lead his own mother to the mass grave” (S. 176).

Durch die Anwendung einer mikrohistorischen Zugangsweise macht Bartovs Studie den Holocaust in Buczacz konkret und anschaulich. Er zeigt, welche Akteure in ihn involviert waren, in welchem Verhältnis sie zueinander standen, welche Rollen sie übernahmen und wie sie ihn nach dem Krieg in Erinnerung behielten. Das Buch zeichnet den Untergang einer multikulturellen Stadt, die aufgrund ihrer Größe und Zusammensetzung für viele andere ostgalizische Orte stehen kann. Es zeigt auch, dass der Holocaust nicht ein in Berlin geplanter „nationalsozialistischer Judenmord“ war, sondern ein europäischer und transnationaler Genozid, der sich an tausenden Orten in Europa auf einer lokalen Ebene zwischen Nachbarn, Bekannten und Freunden ereignete und keineswegs auf die deutschen bzw. nationalsozialistischen Elemente reduziert werden kann.