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Titel
Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie


Autor(en)
Taubman, William
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
935 S., 75 Abb.
Preis
38,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Schattenberg, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

„Gorbatschow ist schwer zu verstehen“ – so beginnt William Taubmans monumentale Biographie über Michail Gorbatschow (S. 27). Gesagt hat diesen Satz Gorbatschow über sich selbst – zu Taubman. Damit lässt uns Taubman zwei Dinge wissen: zum einen, dass er Gorbatschow nahe steht, manchmal denkt man: zu nahe, und zum anderen, dass er einen hermeneutisch-psychologisierenden Ansatz wählt. Wie schon in seiner fundamentalen Chruschtschow-Biographie versucht Taubman, „den Mann und seine Zeit“ in erster Linie über dessen Charakter zu ergründen.1 Als Quellenfundus dienten ihm dafür nicht nur Gespräche mit seinem Protagonisten selbst, sondern auch die zahlreichen Erinnerungen von dessen Mitarbeitern und Politbüro-Mitschriften, die sich in Kopien sogar zum großen Teil in den USA befinden. Taubman erzählt die Lebensgeschichte Gorbatschows chronologisch von dessen Geburt bis zum Jahr 2016 in 19 Kapiteln. Es scheint, als ob er ihm als ständiger Begleiter über die Schulter schaut und dabei immer noch näher in die einzelnen Begebenheiten von Gorbatschows Leben hineinzoomt. Die so auf 815 Seiten entfaltete Narration ist eine engmaschige Geschichte, reich an Zitaten und Details, voller Dramatik – und auch unverhohlener Bewunderung Taubmans.

Gorbatschow wurde 1931 mitten in der Zeit der gewaltsamen Kollektivierung geboren. Eigentlich hieß er Viktor, aber seine Großmutter ließ ihn heimlich auf den Namen Michail taufen. Diese zwei Namen symbolisieren bereits Gorbatschows Natur und Dilemma: einerseits nach außen gut im System zu funktionieren und für den Sieg – Viktor – zu kämpfen; andererseits im Inneren etwas ganz anderes zu wollen. Während man bislang davon ausging, dass Gorbatschow anders als seine Vorgänger Chruschtschow und Breschnew den Hochstalinismus der 1930er-Jahre nicht bewusst miterlebte und dementsprechend wenig vom Terror geprägt wurde, zeigt Taubman das Gegenteil: Mehrere Onkel und Tanten kamen währen der Hungersnot 1932/33 ums Leben und seine beiden Großväter wurden 1934 bzw. 1937 verhaftet, überlebten aber die Lagerhaft und kamen bald wieder frei. Auch der Krieg hinterließ seinen Schrecken bei dem Kind Michail: Sein Heimatdorf Priwolnoje war 1942 vier Monate lang von der Wehrmacht besetzt und der Vater wurde als vermisst gemeldet, obwohl er den Krieg überlebte und heimkehrte.

„Psychologen haben festgestellt, dass die potenziellen Opfer persönlicher Schicksalsschläge […], wenn diese durch Glück oder eigene Anstrengung ein positives Ende nehmen, von den Ereignissen profitieren und mit erhöhtem Selbstvertrauen, gesteigertem Optimismus und geringerer Anfälligkeit für Depressionen aus ihnen hervorgehen“, so Taubman (S. 34). Diese These macht er sich zu eigen und zeigt im Folgenden, wie Gorbatschow in bitterster Armut aufwuchs, aber durch äußerste Willensstärke das Beste daraus machte: „Wir waren arm, praktisch Bettler, aber insgesamt fühlte ich mich großartig“, sagte er selbst (S. 35). Der heimgekehrte Vater gab ihm mit auf den Weg: „kämpfen, bis der Kampf ausgeht“ (S. 53), und ein Feld voll verwesender Soldatenleichen schockierte ihn vielleicht so stark, dass er später vor jeder Gewaltanwendung zurückschreckte, so mutmaßt Taubman. Kampf schien nichts, was sich aus der Ideologie ableitete – seine Großeltern mütterlicherseits waren anti-, die Eltern des Vaters pro-bolschewistisch eingestellt –, sondern was sich aus der Notwendigkeit zu überleben ergab: im Krieg, während der folgenden Hungersnot, grundsätzlich auf dem Land.

Was folgte, macht jeder sowjetischen Heldengeschichte Ehre: die begeisterte tägliche Prawda-Lektüre, Eintritt in den Komsomol 1946, gieriges Verschlingen aller verfügbarer Bücher, Einfahren einer Rekord-Ernte zusammen mit seinem Vater 1948, der dafür den Leninorden erhielt. „Ich bin seit meiner Kindheit ans Führen gewöhnt. Das war ein Ziel, das ich immer erreichen wollte“, sagte Gorbatschow später (S. 60). Aber Taubman entwirft nicht nur den perfekten sowjetischen Helden, sondern zeigt gerade auch die großen Härten des Alltags, die dazu geführt hätten, dass Gorbatschow die stalinistische Kollektivierung seit jungen Jahren für „unglaubliches Unrecht“ (S. 83) gehalten habe. Nichtsdestoweniger habe der Tod Stalins 1953 ihn wie so viele andere Sowjetmenschen erschüttert (S. 88). Gorbatschow war mittlerweile Parteimitglied und studierte in Moskau Jura. Hier lernte er 1951 die Liebe seines Lebens Raissa kennen. Taubman schildert in aller Ausführlichkeit diese symbiotische Beziehung, zumal Raissa zu Gorbatschows ständiger Begleiterin wurde, worüber sich das westliche Ausland später freute, die Genossen im Politbüro aber höchst irritiert waren.

1955 kehrten sie beide in seine Heimatregion Stawropol im Kaukasus zurück, wo Gorbatschow vom Komsomolchef bis zum Parteisekretär der Region einen rasanten Aufstieg nahm. In diesen Jahren begleitet Taubman Gorbatschow mehr als Privatmann, schildert die schwierige Wohnungslage, die Geburt der Tochter und die akademische Karriere seiner Frau, die ihn dazu anspornte, ebenfalls ein zweites Universitätsdiplom in Landwirtschaft zu erwerben (S. 151). Die Politik tritt nicht allzu sehr in den Vordergrund: Gorbatschow habe in Stawropol bereits eine „kleine Perestroika“ durchgeführt (S. 111); eher gestreift werden die wichtigen Patron-Klienten-Beziehungen zu seinen Förderern Fjodor Kulakow und Juri Andropow, der ihn mit Leonid Breschnew bekannt machte, der ihn 1978 als ZK-Sekretär für Landwirtschaftsfragen nach Moskau holte. Taubman rückt Gorbatschow in die Nähe der „Dissidenten im System“, die nach außen funktionierten und das Regime trugen, aber im Inneren immer wieder zweifelten, seit Chruschtschow 1956 seine „Geheimrede“ über die Verbrechen Stalins gehalten hatte, sie die intellektuelle Freiheit des „Tauwetters“ gekostet und dann fassungslos den Einmarsch in Prag 1968 miterlebt hatten. Das habe für Gorbatschow umso mehr gegolten, als er seit Studienzeiten mit Zdenek Mlynar befreundet war, dem er nicht zur Hilfe eilen konnte.

Dennoch hatte Gorbatschow, als er im März 1985 dem dritten, nun endlich auch verstorbenen Tattergreis im Amt des Generalsekretärs der KPdSU folgte, kein klares Programm. „Was tun?“ überschreibt Taubman in Anspielung auf Lenins berühmte Schrift das Kapitel. Auf den nun folgenden 550 Seiten führt er minutiös Gorbatschows politische Handlungen aus, sein Zaudern und Zagen, sein Voranpreschen und Ungestüm, seine Erfolge, etwa bei der Beendigung des Kalten Krieges, und seine Niederlagen, etwa mit der „unseligen Anti-Alkohol-Kampagne“ (S. 285). Es liest sich oft wie eine Polit-Reportage, mitunter wie ein Polit-Thriller, etwa das zweite Gipfeltreffen mit US-Präsident Ronald Reagan in Rejkjavik 1986, auf dem sie fast einen Durchbruch bei der Abrüstung von Atomwaffen geschafft hätten, aber eben nur fast. Immer wieder geht Taubman aber auch ausführlich auf Gorbatschows Persönlichkeit ein und reflektiert, mitunter: rätselt, wie diese den Verlauf der Ereignisse beeinflusste. Dramatisch ist die Schilderung, wie Gorbatschow sich mit Boris Jelzin einen Erzfeind schuf („Zwei Skorpione in einer Flasche“), obwohl sie politisch an einem Strang zogen: Ehrgeiz, Egozentrismus und Rachsucht führten zu einem erbitterten Kampf voller Demütigungen und Blamagen, die letztlich erheblich zu Gorbatschows Scheitern beitrugen. Taubman ist sich sicher, die Ursache für ihre Fehde im „unvereinbaren Charakter der beiden Männer“ (S. 401) zu finden. Als Jelzin 1987 einen Suizid mit einer Schere versuchte, dachte Gorbatschow: „Was für ein Schweinehund. Er hat sein eigenes Zimmer mit Blut besudelt“ (S. 398).

Doch während sich Jelzin zu einer persönlichen Nemesis auswuchs, hatte Gorbatschow bekanntermaßen politische Feinde, die ihm wesentlich gefährlicher werden konnten. Ausführlich geht Taubman auf die ganze Komplexität des Briefes der Nina Andrejewa ein, der 1988 veröffentlichen Anklage gegen Glasnost und Perestroika einer Chemielehrerin, die diese tatsächlich geschrieben hatte, die aber ein Redakteur in Absprache mit Gorbatschows Widersachern noch ordentlich aufpoliert hatte. Gorbatschow erscheint hier wie in anderen Situationen als Getriebener, der nur vage wusste, wo er hin wollte, und immer wieder von den Ereignissen überrollt wurde, so auch von der Wucht, mit der sich die Nationalitätenkonflikte in Zentralasien und im Kaukasus entluden. Anstatt diese Zeitbombe zu entschärfen und Lösungen zu entwickeln, „versuchte Gorbatschow den Rest des Jahres seine Kollegen und sich selbst davon zu überzeugen, dass der Nationalismus unter Kontrolle sei“ (S. 442). Die Landung von Mathias Rust 1987 auf dem Roten Platz verschaffte ihm den Anlass, sich von einigen militärischen Hardlinern zu trennen und den Weg für Durchbrüche in der Abrüstung bei den kommenden Gipfeln frei zu machen.

Aber die Erfolge und Anerkennung, die er international hatte, erreichte er bekanntlich in der UdSSR nicht, im Gegenteil schaffte er es nicht, die Intellektuellen, die Glasnost und Perestroika befürworteten, als stützende Macht hinter sich zu vereinen. Stattdessen überwarf er sich mit Andrei Sacharow, den er 1986 selbst aus dem Exil zurückgeholt hatte, während des ersten, teils frei gewählten Volksdeputiertenkongress 1989. Die Komik der Situation, wie Gorbatschow schließlich Sacharow das Mikrofon abstellte, ist bekannt; aber Taubman zeigt die Tragik, die dahinter steckte, dass Gorbatschow zwar neu dachte, aber in den alten Strukturen handelte und deren Einhaltung erwartete, während die Intellektuellen diesen Starrsinn nicht begriffen, da ihnen sowjetische Statuten und Regularien höchst suspekt waren. Während die Anhänger Sacharows von Gorbatschow Ende 1989 eine Geste anlässlich des Todes des Friedensnobelpreisträgers erwarteten, verweigerte er unter Verweis auf die Regularien entsprechende Respektbekundungen.

Während er hier potentiell Verbündete vor den Kopf stieß und endgültig verlor und auf den Straßen angesichts leerer Regale „offener Hass“ (S. 624) herrschte, entschied er sich 1990 für einen Vizepräsidenten Gennadi Janajew und einen Ministerpräsidenten Valentin Pawlow, weil beide farb- und ideenlos waren und ihn damit niemals wie Jelzin herausfordern würden (S. 631, S. 676). Er entfremdete damit auch seine eigenen Berater, die auch nicht verstehen konnten, warum er nicht auf das „500-Tage-Programm“ des Wirtschaftsreformers Grigori Jawlinski setzte und stattdessen im Westen immer neue Milliarden-Kredite verlangte, die ihm niemand mehr geben wollte, da auch seine westlichen Partner mittlerweile ihn und die Sowjetunion im freien Fall sahen.

Während Taubman Gorbatschow einerseits viel Respekt dafür zollt und ausführlich darstellt, wie schnell dieser der Wiedervereinigung Deutschlands als NATO-Staat zustimmte, obwohl er von Falin hintergangen wurde, lässt er es beim Rätseln, wie es zum „Blutsonntag“ in Vilnius kommen konnte. Es war eine Mischung aus Druck, den die Hardliner auf ihn ausübten, in Vilnius „wie in Prag anno 1968“ (S. 595, S. 677) vorzugehen, und der sowjetischen Prägung, Gewalt „als letztes Mittel unter extremen Umständen“ zu rechtfertigen (S. 596).

Gorbatschow isolierte sich immer mehr, so Taubman, reagierte unwirsch, mit Wutausbrüchen, fuhr seine Mitarbeiter an, er drohte „zu einem Fremden im eigenen Land zu werden“ (S. 638). Einerseits drohte er mit Rücktritt, andererseits ignorierte er – wie seinerzeit Chruschtschow – alle Warnungen, ein Putsch sei in Vorbereitung. In allen Einzelheiten, inklusive des Anwesens in Foros, schildert Taubman den Ablauf des Putsches, den gefassten Gorbatschow und die vollkommen traumatisierte Raissa, die sich gesundheitlich nie wieder ganz davon erholen sollte. Jelzin rettete Gorbatschow aus den Fängen seiner Widersacher und versetzte ihm gleichzeitig den letzten Stoß, als er hinter dessen Rücken den Vertrag der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ausarbeitete, der eine neue sowjetische Verfassung obsolet machte. Am Ende war Gorbatschow allein: ein Präsident ohne Staat.

So detailreich das Werk ist, bleiben an manchen Stellen Fragen offen: So ganz glaubhaft erscheint es nicht, dass Gorbatschow von Beginn an Breschnew verachtete, obwohl sie vier Jahre lang eng zusammenarbeiteten. Auch fragt man sich: Wenn die Invasion in Prag für Gorbatschow ein Schlüsselerlebnis war, warum findet sich dann nichts zu seinen Gedanken beim Einmarsch in Afghanistan oder der Verhängung des Kriegsrechts in Polen?

Schließlich entsteht an einigen Stellen der Eindruck, dass die Übersetzung in großer Hast geschah: Im Original2 heißt es: „Meanwhile, famine struck“ (S. 17), doch aus der Hungersnot 1932/33 wurde: „Im Jahr 1933 brach eine Hungersnot aus“ (S. 44). Warum heißt es „Gestellungsbefehl“ und nicht Einberufungsbescheid (S. 47), im Original: „call-ups“ (S. 20)? Seltsam klingt, dass „die Schule überhaupt erst wieder verwendbar“ gemacht werden musste (S. 55), im Original: „to make the schools usable“ (S. 28); es ist von den „Vorbergen des Nordkaukasus“ anstatt von dessen „Ausläufern“ die Rede (S. 147), im Original: „foothills“ (S. 111), die „viceroys“ (Original S. 143) wurden als „Vizekönige“ Moskaus anstatt als „Statthalter“ übersetzt (S. 182); aus Georgi Zinjow wurde Georgi Zinew (S. 184) u.ä.

„Gorbatschow war ein Visionär, der sein Land und die Welt veränderte“, so beendet Taubman seine Hommage an Gorbatschow. Es bleibt der Eindruck, dass er dort, wo er die negativen Seiten seines Helden untersuchen müsste, vor einer tiefergehenden Analyse zurückscheut. Das mag auch an dem Konzept des „Charakter Verstehens“ liegen, das an diesen Stellen zu kurz greift. Taubman schildert es zwar, sagt es aber nicht explizit, nämlich wie sowjetisch Gorbatschow geprägt war, wie sehr er an die Institutionen und Rituale glaubte und ihnen verhaftet war, man könnte zusammenfassen: ein liberaler Geist in einem sowjetischen Körper.

Taubman hat nicht die erste Gorbatschow-Biographie geschrieben.3 Einerseits liefert er die meisten Details und hat die größte Quellenfülle, andererseits drückt er sich vor abschließenden Analysen und Bewertungen. Die „dichte Perspektive“ verhindert eine größere Distanz und damit mehr Mut zum Urteil. „Gorbatschows mutiges Projekt war möglicherweise von Anfang an zum Scheitern verurteilt“, so Taubman (S. 810). Aber war nicht der Zusammenbruch der Sowjetunion sein Triumph, dass Freiheit und Selbstbestimmung über Zwang und Gewalt siegten (wenn auch nur für einen Augenblick), so wie Taubman es selbst weiter oben voller Anerkennung über die Auflösung des Warschauer Pakts berichtet? Stephen Kotkin hat das Dilemma Gorbatschows so auf den Punkt gebracht: Diejenigen, die wie er am Erhalt der Sowjetunion festhielten, waren seine Widersacher und Putschisten; jene aber, die wie er die Grund- und Menschenrechte hochhielten und eigentlich seine Unterstützer hätten sein sollen, wollten die Sowjetunion nicht mehr.4

Anmerkungen:
1 William Taubman, Khrushchev. The Mand and His Era, New York 2003.
2 William Taubman, Gorbachev. His Life and Times, New York 2017.
3 Zhores Medwedjew, Der Generalsekretär. Michail Gorbatschow. Eine politische Biographie, Darmstadt 1986; György Dalos, Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biographie, München 2011; siehe auch Archie Brown, Seven Years that Changed the World. Perestroika in Perspective, Oxford 2007.
4 Stephen Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000, updated edition, Oxford 2008 (1. Aufl. 2001), S. 73.

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