Cover
Titel
Neue Typografien / New Typographies. Bauhaus & mehr: 100 Jahre funktionales Grafik-Design in Deutschland / Bauhaus & Beyond: 100 years of functional Graphic Design


Autor(en)
Rössler, Patrick
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
229 S., ca. 500 farb. Abb.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerda Breuer, Institut für Kunst- und Designgeschichte, Bergische Universität Wuppertal

Was für ein opulentes Buch! Aufgeteilt in elf Kapitel breitet der Erfurter Kommunikationswissenschaftler Patrick Rössler mit über 500 Bildbeispielen das Panorama der Neuen Typographie aus. Die Inserate, Plakate, Buchumschläge, Briefbögen und Kalenderblätter, auch Zeitschriftencover bis hin zu Geldscheinen sind nach den 1925 von Jan Tschichold ausgerufenen Prinzipien größtmöglicher Funktionalität gestaltet, unter Verwendung einer sachlichen Groteskschrift und nach einem bestimmten Layout. Der Textanteil des Buches ist durch die Überzahl der Abbildungen und die Zweisprachigkeit auf den 232 Seiten vergleichsweise gering, gleichwohl ausreichend informierend für einen „kursorischen Blick auf die Vielfalt der Positionen“ (S. 9).

Etwas irritierend für den Leser ist der Anlass, oder besser: sind die Anlässe für die Herausgabe des Bandes. Er erscheint begleitend zu zwei Ausstellungen: in der Universitätsbibliothek Erfurt 2017/18 und im KunstForum Gotha 2019 und feiert folglich gleich zwei Jubiläen: das erste im Jahr 2017, das mit der „Geburtsstunde“ (S. 14) des funktionalen Grafik-Designs auf den Juni 1917 mit dem Erscheinen eines Prospekts zur „Kleinen Grosz-Mappe“ festgelegt wird, die im Umfeld der Brüder Herzfelde/Heartfield und ihres Malik-Verlages erschien. Der zweite Anlass ist das 100. Gründungsjubiläum des Bauhauses im Jahr 2019, wobei indes die dieser Schule sehr häufig zugeschriebene Bedeutung als Ausgangsort der Neuen Typographie relativiert wird – heißt der Band doch „Neue Typographien“ und im Untertitel „Bauhaus und mehr“. Bei beiden Einschätzungen kommt man auf die Zahl 100, optisch auf dem Buchumschlag hervorgehoben.

Rössler verzichtet weitgehend auf eine strenge Definition von Neuer Typographie, vielmehr beruft er sich auf die Programme selbst. An erster Stelle werden die beiden bekanntesten Repräsentanten der funktionalen Graphik als Ausgangspunkt genannt: László Moholy-Nagy mit seinem Aufsatz „Die Neue Typographie“(1923) und Jan Tschichold mit dem Sonderheft „elementare typographie“ (1925) sowie seiner Publikation Neue Typographie. Ein Handbuch für zeitgemäss Schaffende (1927). Der ideelle Kontext der neuen Bewegung, der zum Teil erheblich voneinander abwich, wird zwar in einigen Fällen erklärt, ist jedoch nicht der Schwerpunkt der Arbeit. Immerhin reichte er von der nationalökonomisch orientierten Markenpolitik des Deutschen Werkbunds bis zu linksorientierten Publikationen, die auf theoretisch-politische Orientierungen im revolutionären Russland zurückgehen.

Bestechend in der Strukturierung des Buches sind die elf Kapitel, die wiederum gegliedert sind in vier Oberkategorien: Innovation, Diffusion, Medien und Epilog. Sie folgen weitgehend einer Periodisierung der Bewegung über einen langen Zeitraum. Das erste Kapitel ist unterteilt in „‚Neue Typographien‘ – Die Anfänge der Bewegung“, wobei von vornherein auf die Diversität der Anfänge hingewiesen wird. Dann folgt das zweite Kapitel „Der Katalysator – Das Bauhaus“. Hier wird die Bedeutung der Schule zwar relativiert, ihr aber eine Sonderstellung als Motor der Bewegung nach wie vor zugesprochen.

Mit dem Oberkapitel „Diffusion“ beginnt nun ein neues übergreifendes Kapitel, das vier Themen unter sich vereint. Der „ring neuer werbegestalter“ steht dabei mit zwei Kapiteln im Vordergrund, dann folgen zwei Zentren in der Nachfolge der Neuen Typographie: Frankfurt sowie Mitteldeutschland mit Magdeburg, Halle und Dessau. Es ist der seitenstärkste Teil des Buches und gibt damit Hinweise auf den Fokus, den der Autor auf die Weiterentwicklung der Neuen Typographie setzt. Die beiden ersten Kapitel gehen vom 1928 von Kurt Schwitters und anderen gegründeten „ring neuer werbegestalter“ aus und untersuchen anhand der Mitglieder aus den Niederlanden, der Schweiz, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei seine internationale Struktur. Dann folgen im zweiten Kapitel die „Ring“-Zentren in Deutschland. Vom Bauhaus war lediglich Moholy-Nagy Mitglied, dem Antrag auf Aufnahme von Herbert Bayer wurde nie entsprochen, was auf eine bewusste Eigenständigkeit des selbsternannten Berufsverbandes schließen lässt.

Dass sich auch jenseits der „Galionsfiguren“ (S. 66) in Deutschland Zentren von modernem Grafik-Design entwickelten, jenseits der Metropolen in München, Hannover und an der Ruhr, darauf geht Rössler im nächsten Kapitel ein. Einen Schwerpunkt bildet hier Paul Renner, der, von München kommend, in Frankfurt an der Kunstgewerbeschule die bekannteste und erfolgreichste Schrift der Neuen Typographie, die Futura, entwarf. Im nächsten Kapitel „Das ‚neue Frankfurt‘ – Eine Stadt erfindet sich“ (ab S. 92) breitet Rössler eindrucksvoll das Phänomen des Neuen Frankfurt mit seiner gleichnamigen Zeitschrift aus. Letztere wurde über lange Strecken von Grete und Hans Leistikow gestaltet, später von Willi Baumeister. Hier versammeln sich aber auch viele andere Größen dieser Zeit wie Walter Dexel und Robert Michel. Das Neue Frankfurt kann als das vielleicht gelungenste Beispiel eines ganzheitlichen Ansatzes der Moderne gelten, das von der Architektur über Wohnen bis zur Urbanistik moderne Gestaltung in die Praxis umsetzte und in das die Neue Typographie konsequent eingebettet war.

Der folgende Abschnitt behandelt die typographischen Entwicklungen im Städtedreieck zwischen Magdeburg, Halle und Dessau, die hier nicht nur von den Kunstgewerbeschulen in Magdeburg und auf Burg Giebichenstein in Halle umgesetzt wurden, sondern auch von Stadtverwaltungen und innovativen Unternehmen. Herausragend ist Wilhelm Deffke dargestellt, der 1925 zum Leiter der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg berufen wurde. Die Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein wiederum tritt mit dem Schweizer Hans Finsler in Fotografie und Werbelehre hervor. Besonders aufschlussreich ist auch der Hinweis auf das Reklamebüro der Junkerswerke am Ort der Bauhausschule in Dessau, das sich seit 1923, als das Bauhaus noch in Weimar war, unter der Leitung des Werbefachmannes Friedrich Peter Drömmer der funktionalen Gestaltung seiner Werbung zuwandte. Seine Graphik ist eines der Beispiele für die Förderung eigenständiger funktionaler Typographie durch fortschrittliche Unternehmen.

Die nächsten drei Kapitel (ab S. 122) sind unter dem Oberbegriff „Medien“ der großen Zahl von Beispielen einer sich rasant entwickelnden Modernisierung der Printmedien gewidmet. Alle drei Kapitel – „Das Buch und sein (Schutz-)Umschlag“, „Film & Foto“ sowie „Die illustrierte Zeitschrift“ – können sich auf eine reiche Fachliteratur stützen, wobei der Schwerpunkt diesmal auf der funktionalen Gestaltung liegt. Die meisten Beispiele der seitenstarken Strecke sind Mischprodukte aus verschiedenen stilistischen Elementen, zu denen auch der Expressionismus zählte, die Neue Sachlichkeit, in seltenen Fällen auch Art déco.

Die illustrierte Zeitschrift wird zunehmend zu einem wesentlichen Kommunikationsträger der avantgardistischen Bewegungen. Fehl am Platz ist es allerdings, an dieser Stelle die „Ring“ titulierten Hefte von 1908/09 des an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule lehrenden Niederländers J. L. M. Lauweriks einzuordnen. Die Ring-Hefte sind zwar vordergründig außergewöhnlich rational gestaltet, doch erweist sich der Begriff „funktionales Design“ hier nicht als strapazierfähig genug. Lauweriks geometrische Entwurfs- und Formprinzipien entsprachen vielmehr einer esoterischen Zahlenmystik. Auch wenn die niederländische Zeitschrift Wendingen an anderer Stelle als ein Beispiel für die „behaglich-verspielten Art Déco-Welten“ bezeichnet wird, in die der konstruktivistische El Lissitzky mit einem Umschlag der Zeitschrift „aufs brutalste“ (S. 18) eingebrochen sei, entspricht dies nicht der generellen Ausrichtung dieses Organs des Amsterdamer Expressionismus, dessen teils kommunistische Protagonisten unter anderem auf großen Stadtarealen den Arbeiterwohnungsbau realisierten.

Das Oberkapitel „Epilog“ umfasst zwei Unterkapitel. Argumentativ das überzeugendste Kapitel des vorliegenden Bandes ist die unter dem Titel „Der NS-Dumpfheit getrotzt – oder angepaßt?“ zusammengefasste Beschreibung der Rolle der Moderne im sogenannten Dritten Reich. Der Autor berichtet hier kritisch über die in Deutschland verbliebene Avantgarde, über „das nicht immer rühmliche Nachleben des funktionalen Grafik-Designs“ (S. 194). Die Nachfolge des funktionalen Designs beschreibt Rössler mit dem Kapitel „Die Epigonen – Ein Gedanke lebt fort“ (ab S. 210). Er geht von einer langen Wirkungskette der Neuen Typographie aus und wartet hier mit internationalen Beispielen aus den 1960er- und 1970er-Jahren auf.

Wenngleich Bilderstürmer-Metaphern in der Beschreibung der funktionalen Graphik anklingen, überzeugt der vorliegende Band doch vor allem durch eine Fülle an Anschauungsmaterial über die Verästelungen ihrer Weiterentwicklung und die vielen Einflussfaktoren. Er eröffnet dadurch neue Perspektiven und ist insofern auch ein Gewinn für eine längst überfällige vergleichende Forschung.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension