O. Shtyrkina: NS-Propaganda gegen die Sowjetunion

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Titel
Mediale Schlachtfelder. Die NS-Propaganda gegen die Sowjetunion (1939–1945)


Autor(en)
Shtyrkina, Olga
Erschienen
Frankfurt am Main 2018: Campus Verlag
Anzahl Seiten
492 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Babette Quinkert, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin E-Mai:

Olga Shtyrkina befasst sich in ihrer Studie mit der Entwicklung und den Modifizierungen der NS-Propaganda gegen die Sowjetunion in den Kriegsjahren 1939 bis 1945. Die Publikation ist die gekürzte Fassung ihrer Dissertation, die sie 2017 im Fach Medienwissenschaft an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt hat. Olga Shtyrkina gliedert ihre Studie in fünf Abschnitte. Im ersten Kapitel „Kriegspropaganda in Deutschland vor und nach 1933“ gibt die Autorin eine Übersicht über Propagandatheorien in der Weimarer Republik, diesbezügliche Vorstellungen führender NS-Politiker und die Entwicklung der Zeitungswissenschaft. Die vier folgenden Kapitel widmen sich chronologisch gegliedert den inhaltlichen Veränderungen der Propaganda. Sie umfassen die Zeit des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts 1939 bis 1941, das Kriegsjahr vom deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bis zur deutschen Sommeroffensive 1942, die Zeitspanne zwischen der Schlacht um Stalingrad und der Schlacht am Kursker Bogen im Sommer 1943 sowie der Entwicklung bis zum Kriegsende im Mai 1945.

Für ihre Forschungen wertete Olga Shtyrkina einen bisher noch nicht systematisch erschlossenen Quellenbestand aus: die Mitte der 1990er-Jahre im sogenannten Sonderarchiv Moskau1 entdeckten Protokolle der Geheimkonferenzen von Joseph Goebbels im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) aus den Jahren 1939 bis 1945. Diese täglichen „Elf-Uhr-Konferenzen“ wurden in der bisherigen Forschung zwar in Teilen bereits berücksichtigt2, mit der Gesamtauswertung der Protokolle der fast 1.200 Ministerkonferenzen der Kriegszeit erschließt Olga Shtyrkina jedoch einen ausgesprochen wichtigen Quellenbestand.

Die Erwartungen, die diese außerordentliche Quellenbasis weckt, werden jedoch schnell enttäuscht. Es gelingt Olga Shtyrkina nicht, die von ihr ausgewerteten Protokolle angemessen zu kontextualisieren. Dies liegt einerseits daran, dass sie den von ihr formulierten Anspruch, „Forschungsarbeiten von Geschichts- und Medienforschern“ (S. 16) mit zu berücksichtigen, nur sehr eingeschränkt einlöst. Grundlegende Standardwerke zu ihrem Themenfeld hat die Autorin ignoriert3 und die von ihr berücksichtigte Sekundärliteratur fließt lediglich in kurze einleitende Abschnitte zu ihren Kapiteln ein. Ihre Beschreibung der Entwicklung und Modifizierung der antisowjetischen Propaganda basiert auf einer oftmals unkritischen Auswertung ihrer Quellen, die neben den Protokollen der Ministerkonferenzen vor allem Protokolle der Reichspressekonferenzen, Presserundschreiben, Artikel aus dem Völkischen Beobachter sowie die Tagebücher von Joseph Goebbels umfassen.

Am gravierendsten ist sicher, dass Olga Shtyrkina die Rolle von Joseph Goebbels verkennt, den sie als den „Hauptpropagandisten des ‚Dritten Reiches‘“ (S. 11) und zentralen Akteur auf allen Feldern der Propaganda – gegenüber der deutschen Bevölkerung, gegenüber dem Ausland, gegenüber den Soldaten der Roten Armee sowie der sowjetischen Bevölkerung – charakterisiert. Tatsächlich waren Goebbels und der Apparat des RMVP in Bezug auf die letzten beiden Aspekte lediglich für die technische Umsetzung der antisowjetischen Propaganda zuständig, während die Richtlinienkompetenz bei der Wehrmacht und dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete lag.4 Diese beiden für die antisowjetische Propaganda zentralen Akteure tauchen in Olga Shtyrkinas Studie allerdings nur am Rande auf.

Die mangelnde Durchdringung der institutionellen Zuständigkeiten verleitet die Autorin auch zu falschen Schlussfolgerungen bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung der Propaganda. Für die erste Zeit unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion kommt sie zu dem Schluss: „Der grundlegende inhaltliche Aspekt der für die sowjetische Bevölkerung gedachten Propaganda bestand in einer antibolschewistischen Agitation. Im Unterschied zu den innerdeutschen und westlichen Propagandarichtungen verzichtete man auf die Identifikation des bolschewistischen Staatsregimes als jüdisch“ (S. 223). Ihr Beleg hierfür ist lediglich ein Zitat von Goebbels auf einer Elf-Uhr-Konferenz Ende Juni 1941 – das sich zudem nicht auf die Bevölkerung, sondern auf die Propaganda gegenüber Soldaten der Roten Armee bezieht (vgl. ebd. Fn. 232). Ihre Schlussfolgerung ist schlichtweg falsch: Die enge Verknüpfung von Antibolschewismus und Antisemitismus war eines der Kernthemen der Propaganda gegenüber der Roten Armee und der sowjetischen Bevölkerung.5

An vielen Stellen des Bandes fällt auf, dass die Einordnung der Quellen in einen größeren Kontext fehlt. So verweist Olga Shtyrkina im Abschnitt zur Entwicklung der Propaganda im Winter 1941/42 zwar auf die Gegenoffensive der Roten Armee vor Moskau Anfang Dezember 1941, geht aber mit keinem Wort auf den Kriegseintritt der USA ein, mit dem sich der Krieg zu dem von den Nationalsozialisten besonders befürchteten Weltkrieg ausweitete (S. 244ff.) Manche von der Autorin aufgestellte Thesen haben keinerlei Grundlage. So sind Schlagworte wie „Sowjetjudäa“ und „jüdischer Bolschewismus“ keinesfalls erst im Rahmen der seit Frühjahr 1937 forcierten antisowjetischen Propagandakampagne „entstanden“ (S. 133). Die These einer „Solidarisierung der Volksgemeinschaft“, die sich „von Anfang an auf die Strategie der Negation“ gestützt habe – sie sei nur eine „Solidarisierung gegen etwas und nicht für etwas“ gewesen (S. 458) – ist ebenfalls unhaltbar.6 Organisierte Reisen von Journalisten waren keineswegs eine „innovative propagandistische Methode“ (S. 218, 462), sondern gehörten bereits vor dem Krieg zum Repertoire des RMVP.7 Die Liste ließe sich fortsetzen.

Die hier genannten Grenzen von Olga Shtyrkinas Studie sind bedauerlich, denn insgesamt gelingt es ihr aufzuzeigen, dass die NS-Propaganda im Hinblick auf politische und militärische Notwendigkeiten kontinuierlich angepasst wurde. Eine der Stärken ihrer Forschungsarbeit ist zudem, dass sie die russischsprachige Literatur und damit auch Studien mit einer sich von der westlichen Forschung deutlich unterscheidenden Sichtweise mit einbezieht.8 Da Olga Shtyrkina am Anfang ihres wissenschaftlichen Arbeitslebens steht, ist zu hoffen, dass sie diese Potenziale in weiteren Studien ausbaut.

Anmerkungen:
1 Das „Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen“ (Sonderarchiv Moskau) ist heute dem Russischen Staatlichen Militärarchiv zugeordnet.
2 Willi A. Boelcke (Hrsg.), Kriegspropaganda 1939–1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966; ders. (Hrsg.), Wollt ihr den totalen Krieg? Die geheimen Goebbels-Konferenzen 1939–1943, Herrsching 1989.
3 Um nur zwei zu nennen: Wolfram Wette, Die propagandistische Begleitmusik zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, in: Gerd R. Ueberschär, Wolfram Wette (Hrsg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. „Unternehmen Barbarossa“ 1941, Frankfurt am Main 1991, S. 45–65; Ortwin Buchbender, Das tönende Erz. Deutsche Propaganda gegen die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1978.
4 Zum Propagandaapparat im Krieg gegen die Sowjetunion vgl. Babette Quinkert, Propaganda und Terror in Weißrussland 1941–1944. Die deutsche „geistige“ Kriegführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen, Paderborn u. a. 2009, S. 71–109, besonders S. 89ff.
5 Vgl. Buchbender, Erz, S. 60ff., Quinkert, Propaganda, S. 140ff. Der zitierte Abschnitt zeigt auch Formulierungsschwächen der Autorin, die für weite Teile der Studie gelten. Ein sorgfältigeres inhaltliches und stilistisches Lektorat hätte dem Band gutgetan.
6 Vgl. Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewismus“. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009; zur Verknüpfung von Exklusions- und Inklusionsstrategien vgl. u. a. Frank Bajohr, Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009.
7 Vgl. Babette Quinkert, Propagandistin gegen den „jüdischen Bolschewismus“ - Maria de Smeths Reisebericht aus Spanien 1936/37, in: Sybille Steinbacher (Hrsg.), Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Bd. 23, Göttingen 2007; S. 173–186, besonders S. 176f.
8 Nicht unproblematisch erscheinen an manchen Stellen jedoch relativierende Formulierungen, z. B. zu den Morden des NKWD in Lemberg im Zuge des Rückzuges im Sommer 1941 als „angebliche Gräueltaten der Sowjetmacht gegenüber der ukrainischen Bevölkerung“, S. 206, siehe auch S. 214 und 462.

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