J. Burrows: The British Cinema Boom, 1909–1914

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Titel
The British Cinema Boom, 1909–1914. A Commercial History


Autor(en)
Burrows, Jon
Erschienen
Basingstoke 2017: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XI, 242 S.
Preis
€ 96,29
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Loiperdinger, Medienwissenschaft, Universität Trier

Die von Jon Burrows vorgelegte Wirtschaftsgeschichte des britischen Kinobooms der fünf Jahre vor dem Ersten Weltkrieg untersucht, „how the projection of moving images became a mass entertainment medium in Britain“ (S. 1). Als Medium der Massenunterhaltung braucht die Filmprojektion Versammlungsorte für ihr Publikum: verdunkelbare Säle, die für die Mehrheit der Bevölkerung in der Nähe von Wohnung oder Arbeitsplatz leicht erreichbar sind. In Burrows' Studie geht es um den rasanten Anstieg der Kinoanzahl in Großbritannien, um die Investoren dieses Booms und um ihre Erträge. Noch 1909 war die Kinodichte in Großbritannien deutlich niedriger als in den USA, Frankreich und Deutschland. Im rund 4,5 Millionen Einwohner zählenden London finden sich für März 1909 nur 87 Kinos, während die knapp 2 Millionen Einwohner von Berlin und seinen Vororten damals über mindestens 300 Kinos verfügten.1 Der britische Markt holte jedoch auf – durch einen Investitionsboom, wie ihn der Unterhaltungssektor der Insel bis dahin nicht erlebt hatte. Für Juni 1914 weist die Branchenstatistik knapp 7.000 Kinos in England, Schottland und Wales aus. Diese Zahl ist zwar laut Burrows zu hoch gegriffen, seine Berechnungen ergeben für die knapp 42 Millionen Einwohner Großbritanniens aber immerhin 3.365 reguläre Kinos und 942 gelegentliche Spielstätten. Die Kinodichte war also inzwischen deutlich höher als in Deutschland, auf dessen 67 Millionen Einwohner 1914 nur über knapp 2.500 reguläre Kinos kamen.2 Schon 1912 mussten amerikanische Branchenbeobachter feststellen, dass die britischen Kinos größer und schöner waren und längere Filmprogramme zu höheren Preisen anboten als die Kinos in den USA. Was war geschehen?

Burrows' Datenerhebungen aus britischen Handelsregistern ergeben, dass zwischen 1906 und 1914 insgesamt 1.998 Gesellschaften zum Betrieb von ortsfesten Kinos gegründet wurden. Die Zahlen steigen von 24 Gründungen im Jahr 1908 in den Jahren 1909, 1910 und 1912 sprunghaft an bis zu 539 Gründungen im Jahr 1913 und verbleiben im ersten Halbjahr 1914 auf diesem Niveau. Nur 21 Prozent der zwischen 1909 und 1914 gegründeten Gesellschaften waren „public companies“ mit der Verpflichtung, jährliche Rechenschaftsberichte zu veröffentlichen. Fast viermal so hoch war die Zahl der „private companies“, die über ihre Geschäftsergebnisse nicht öffentlich Auskunft geben mussten (S. 42). Die Betreiber von etwa der Hälfte der existierenden Kinos verzichteten gänzlich auf die Gründung einer Gesellschaft, sodass für diese Unternehmen keine statistisch auswertbaren Daten vorliegen.

Woher kamen die Teilhaber der Kinogesellschaften, die Anfang der 1910er-Jahre mit ihren Einlagen in den Um- bzw. Neubau von Kinos investierten? Das Finanzkapital in Gestalt reich gewordener Bankmanager und Börsenhändler spielte beim britischen Kinoboom nur eine randständige Rolle. Vielmehr investierten vor allem Unternehmer und Angestellte aus rezessionsbedrohten Branchen, die neue Einkommensquellen suchten, um ihren sozialen Status als Angehörige der Mittelschicht zu bewahren: So kamen 18 Prozent der 5.704 zwischen 1906 und 1914 registrierten Direktoriumsmitglieder von Kinogesellschaften aus dem Einzelhandel, dessen Kundschaft zu den preisgünstigeren Kaufhäusern abwanderte. Weitere große Gruppen waren Bauunternehmer und Architekten (13,8 Prozent) sowie industrielle Unternehmer (5,8 Prozent), die in der neuen Unterhaltungsbranche höhere Renditen erwarteten als in ihren angestammten Geschäftszweigen. In die zahlreichen „private companies“ investierten hauptsächlich Teilhaber, die sich mit den lokalen Verhältnissen gut auskannten: So waren insgesamt 1.029 Einzelhändler an 40,7 Prozent der „private companies“ beteiligt, und 30,8 Prozent dieser Gesellschaften hatten mindestens ein Direktoriumsmitglied, das selbst aus der Unterhaltungsbranche kam. Damit widerlegt Burrows die seinerzeit erhobenen Klagen, dass branchenfremde Amateure dem Kinogeschäft schadeten. De facto war verschärfte Konkurrenz der Grund für die enttäuschend geringen Margen der britischen Kinobetreiber: Die rasch wachsende Zahl von Kinos ging nicht mit einer entsprechenden Ausweitung des Publikums einher, sodass bereits geringe Schwankungen der Einnahmen Gewinn oder Verlust bedeuteten, wie Burrows an den erhaltenen Kassenbüchern von acht Kinos zeigen kann. Bei den drei großen Kinoketten mit jeweils rund 20 Spielstätten fällt auf, dass die Provincial Cinematograph Theatres Company deutlich höhere Gewinne erzielte als ihre beiden Konkurrentinnen. Manager Ralph Jupp legte größten Wert auf komfortable Innenausstattung und verlangte um 50 bis 100 Prozent höhere Eintrittspreise. Daraus zieht Burrows den Schluss, dass es in der Kinokonkurrenz entscheidend darum ging, über die gewohnheitsmäßigen Kinobesucher des Stammpublikums hinaus das finanziell besser gestellte Laufpublikum zu gewinnen. Dies bestätigt der lokale Wettbewerb, in dem die Kinobetreiber ihre Spielstätten nicht nur baulich, sondern für das wählerische Publikum auch durch das Filmprogramm von der Konkurrenz abzuheben suchten: Weil Kurzfilme von maximal 15 Minuten dafür nicht geeignet waren, stürzten sie sich geradezu auf die ab 1911 erhältlichen rund einstündigen Spielfilme – mit dem Effekt, dass oft mehrere Kinos am selben Ort den gleichen langen Spielfilm als Hauptattraktion ihres Programms anpriesen. Abhilfe für dieses Problem versprach der Monopolverleih, der dem Kinobetreiber garantierte, dass kein Wettbewerber vor Ort den gebuchten Film gleichzeitig zeigen konnte. Künstliche Verknappung und Verteuerung der Filmware durch Exklusivität war das entscheidende Mittel gegen den offenen Filmmarkt, der dem Bedürfnis der lokalen Kinobetreiber nach Einzigartigkeit ihres Filmangebots nicht entsprechen konnte. Allerdings setzte sich der Monopolfilmverleih in Großbritannien gegen Vorbehalte aus der Kinobranche erst allmählich durch: Die Kinobetreiber mussten für Exklusivität höhere Filmmieten zahlen und liefen Gefahr, einen Teil ihres Stammpublikums zu verlieren, das die langen Spielfilme nicht bestellt hatte und auf die kurzweiligen Nummernprogramme aus kurzen Filmen nicht verzichten wollte. Dennoch waren 1914 auf dem britischen Markt bereits 27 Prozent der gehandelten Filme ausschließlich im Monopolfilmverleih erhältlich.

Burrows zeigt, dass Verlegenheiten in anderen Branchen dem Kinosektor vor dem Ersten Weltkrieg Kapitalzuflüsse bescherten, welche die Rentabilität der rasch wachsenden Zahl von Kinos bald in Frage stellten. Letztlich erwies sich die Umstellung des Filmhandels vom freien Kopienverkauf von Kurzfilmen auf den limitierten exklusiven Verleih von langen Filmen als hilfreicher Ausweg: Im Wettstreit der Kinos um das zahlungskräftige Publikum, das seine Entscheidungen für den Kinobesuch selektiv traf, entsprach der Monopolverleih langer Spielfilme der geschäftlichen Notwendigkeit der Kinobetreiber, ihr Filmangebot von dem ihrer lokalen Konkurrenten sichtbar zu unterscheiden.

In den 1910er-Jahren vollzogen die Film- und Kinobranchen aller industrialisierten Staaten einen epochalen Medienumbruch, in dessen Verlauf die abwechslungsreichen Kurzfilmprogramme des frühen Kinos abgelöst wurden von dem bis heute üblichen Format des langen Spielfilms. Die Forschung zu diesem Medienumbruch in Deutschland konzentriert sich auf Filmprogramm und Filmaufführung, also auf den Vertrieb und die Vorführung von Filmen, während Burrows' britische Perspektive die Investitionen in das Geschäftsmittel Kino und die Erwirtschaftung von Renditen in den Blick rückt. Filmprogramm und Filmaufführung behandelt er kursorisch erst am Ende seines Buchs, wo er auf die mangelnde Versorgung der britischen Kinos mit geeigneten Filmen für die Rentabilität der jeweiligen Immobilien zu sprechen kommt.

Jon Burrows rekonstruiert und analysiert in seiner umfassend mit empirischen Daten gestützten Wirtschaftsgeschichte überzeugend Ursachen und Verlauf des britischen Kinobooms der Jahre 1909 bis 1914. Neben ihrem enormen Erkenntnisgewinn für die Geschichte der britischen Kinobranche bietet die Studie reichlich Anregungen, um die Akteure aus den verschiedenen Sparten der Filmwirtschaft, ihre Interessen und ihren Anteil an diesem Medienumbruch in Großbritannien sowie darüber hinaus auch in anderen Ländern zu untersuchen.

Anmerkungen:
1 Corinna Müller, Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen, Stuttgart 1994, S. 29.
2 Joseph Garncarz, Maßlose Unterhaltung. Zur Etablierung des Films in Deutschland 1896-1914, Frankfurt am Main 2010, S. 8.

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