C. Ulf: Der neue Streit um Troia

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Titel
Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz


Herausgeber
Ulf, Christoph
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Schuol, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Im Sommer 2001 war in Zusammenhang mit der Ausstellung "Troia - Traum und Wirklichkeit" 1 eine heftige Auseinandersetzung nicht nur um einzelne Fakten, sondern um methodische Grundsatzfragen in der Auswertung archäologischer Befunde entbrannt. Auslöser für diese Kontroverse, die sehr schnell über den fachwissenschaftlichen Austausch hinaus durch die Berichterstattung in den Printmedien und im Internet eine starke Resonanz in der Öffentlichkeit fand,2 waren von dem Tübinger Althistoriker Kolb an den Troia-Ausgräber Korfmann gerichtete scharfe Vorwürfe: Ohne eindeutige Grabungsbefunde sei eine große Unterstadt Troias rekonstruiert und die Stadt als bedeutende Handelsmetropole bewertet worden.3 Korfmanns Erwiderungen und auch die Stellungnahmen von Vertretern anderer Fächer sorgten für die Eskalation des Streites. Das vom Rektor der Universität Tübingen veranstaltete Symposion "Die Bedeutung Troias in der späten Bronzezeit" (14.-15.2.2002) sollte den Weg zu einer sachlichen Auseinandersetzung ausschließlich im universitären Rahmen ebnen; die Fronten blieben jedoch verhärtet, jeder der beiden Kontrahenten sah sich durch die Ergebnisse dieser Konferenz bestätigt.4 Seitdem ist eine Reihe weiterer Publikationen zu Troia erschienen,5 und auf dem Historikertag in Halle im September 2002 tagte eine von dem Korfmann-Kritiker J. Cobet geleitete Sektion mit dem Thema "Troia und Homer".

Wozu noch ein Buch über den Streit um Troia? Das Ziel des Herausgebers Christoph Ulf ist "die Vermittlung einer Grundlage, von der aus es für historisch interessierte Laien und für Fachwissenschaftler möglich sein sollte, zu einem eigenen Urteil zu kommen" (S. 15). Einige der in diesem Band zusammengestellten Beiträge sind erweiterte Fassungen der auf dem Tübinger Symposion im Februar 2002 gehaltenen Vorträge; andere Autoren traten zwar nicht direkt im Streit um Troia hervor, sind aber durch ihre Forschungstätigkeit ausgewiesene Kenner dieses Themenkomplexes. Die Anhänger Korfmanns lehnten die Mitarbeit ab,6 müssen sich dafür jedoch den Vorwurf gefallen lassen, mit ihrem Ausstieg aus der Diskussion die Fortführung des fachlichen Austausches zu verhindern und mit ihrer "Sprachverweigerung" "außerwissenschaftliche Register" zu ziehen (S. 57).

Im ersten Beitrag dieses Bandes zeichnet J. Cobet die Geschichte der Troia-Diskussion nach: Dabei geht es um die Frage nach dem Verhältnis der homerischen Epen zur historischen Topografie der Troas, die eng verbunden ist mit dem Streit um die Historizität des Troianischen Krieges und dem Umgang sowohl mit den Texten als auch mit dem archäologischen Befund. Dieses Gegeneinander von Philologen und Archäologen lässt sich bis Schliemann (Kritik an Grote) zurückverfolgen und wurde auch wieder in der Auseinandersetzung zwischen Korfmann und Kolb sichtbar.

Das Verhältnis von archäologischem Befund und literarischer Überlieferung thematisiert auch U. Sinn, der eine Reihe von Übereinstimmungen von Texten und Grabungsergebnissen nennt, aber auch Beispiele für vorschnelle Verknüpfungen archäologischer Funde mit antiken Texten auflistet. Nach langer erfolgreicher Kooperation zwischen Philologen und Archäologen (Lexikon des frühgriechischen Epos, Archaeologica Homerica) ist es für U. Sinn befremdlich, dass die Resultate dieser Zusammenarbeit in der aktuellen Kontroverse außer Acht gelassen werden.

H.-J. Gehrke untersucht den Umgang mit Vergangenheit in den homerischen Epen, insbesondere die lebendig gehaltene Erinnerung an den Kampf um Troia als ein Geschichte gewordenes Großereignis, das - trotz aller Differenzen und Konflikte - einen wichtigen Bezugspunkt für die Herausbildung eines gesamtgriechischen Bewusstseins darstellt. D. Hertel unterzieht die bereits von den ersten Ausgräbern Troias (Schliemann, Dörpfeld und Blegen), aber auch im Troia-Streit von der Gruppe um Korfmann vertretene Meinung, dass sich der Troianische Krieg als ein historisches Ereignis in der Späten Bronzezeit archäologisch nachweisen lasse, einer kritischen Nachprüfung. Der archäologische Befund der Zerstörungsschichten der Siedlungen VI (1700-1300 v.Chr.) und VIIa (1300-1190 v.Chr.) lässt jedoch auf Erdbeben- und Brandkatastrophen schließen, nicht aber auf Belagerungen und Eroberungen; auch wirtschaftliche Motive etwaiger Angreifer sind angesichts der kleinen und verarmten Siedlung VIIa auf dem Hügel von Hisarlik unwahrscheinlich.

Um die Frage nach der Bedeutung Troias im Tausch- und Handelsverkehr in der Ägäis geht es auch im Beitrag von B. Hänsel. Die Bewertung Troias als "Drehscheibe des Handels" ist aber weder durch (Fern-)Handelswaren, importierte Keramik, Texte oder andere Kleinfunde noch durch die architektonischen Überreste zu rechtfertigen. Anzunehmen ist Handelstätigkeit zur Grundversorgung, ohne dass über eine regionale Vernetzung im nordägäischen Raum und gelegentlichen Gabentausch zur Anknüpfung und Pflege sozialer Bindungen hinaus mit etablierten Fernhandelsbeziehungen zu rechnen ist.

F. Kolb greift einen der Hauptstreitpunkte zwischen ihm und Korfmann noch einmal auf, indem er die Bezeichnung Troias als Stadt für ungerechtfertigt erklärt. Er bezieht sich dabei auf die in der prähistorischen Siedlungsforschung von B. Hänsel und H. Hauptmann entwickelten Kriterien für die Definition einer Siedlung als Stadt. Von den fünf Kriterien erfüllt Troia nur zwei (politische und administrative Geschlossenheit, Langlebigkeit), während die drei übrigen für eine Stadt zu fordernden Merkmale (urbane Bausubstanz, ausgeprägte berufliche Spezialisierung und soziale Differenzierung, Zentralortfunktion) aufgrund der bislang vorliegenden Ausgrabungsergebnisse nicht erkennbar sind.

Mit einem weiteren Streitpunkt der neuesten Troia-Forschung, der Lokalisierung der in der hethitischen Überlieferung bezeugten Länder Wiluša und Taruiša, beschäftigt sich S. Heinhold-Krahmer. Weder mittels einer sprachwissenschaftlichen Überprüfung noch durch die hethitischen Texte lassen sich die jüngst wieder von dem Tübinger Altanatolisten F. Starke 7 vertretenen Gleichungen Taruiša = Troia und Wiluša = (W)Ilios bestätigen. Insgesamt lässt der derzeitige Stand der Erforschung der historischen Geografie Kleinasiens in der späten Bronzezeit entgegen Starkes Auffassung eine endgültige Lokalisierung von nur wenigen Ländern und Orten im westlichen Kleinasien zu. Anknüpfend an den Beitrag von S. Heinhold-Krahmer stellt I. Hajnal fest, dass sowohl für Taruiša = Troia als auch Wiluša = (W)Ilios eine relative formale Identität plausibel erscheint; Troia ist aber als Kulisse der homerischen Epen nicht historische Realität, sondern ein anachronistisches Konstrukt.

P. W. Haider behandelt die historische Geografie Westkleinasiens nach den ägyptischen Quellen des Neuen Reiches, denen zufolge die nordwestliche Region Kleinasiens den Namen Dardanja trug. Für dies Toponym liefern die hethitischen Texte keinen einzigen Beleg, so dass eine Lokalisierung von Wiluša in der Troas problematisch bleiben muss.

S. Heinhold-Krahmer setzt sich dann mit der von J. Latacz behaupteten Identität der homerischen Achai(w)oi mit den in den hethitischen Texten bezeugten Bewohnern des Landes Ahhiyawa sowie den von ihm angenommenen kriegerischen Beziehungen zwischen Ahhiyawa und Wiluša und der daraus abgeleiteten Historizität des Troianischen Krieges auseinander. Die hethitischen Ahhiyawa-Dokumente bieten jedoch weder für eine exakte Lokalisierung Ahhiyawas noch für feindliche Beziehungen zwischen diesem wohl dem mykenischen Bereich zuzuordnenden Land und Wiluša in Kleinasien einen Anhaltspunkt.

Der Frage nach dem Alter des Hexameters und einer möglichen Beschreibung des Troianischen Krieges in diesem Versmaß durch mykenische Epensänger wendet sich I. Hajnal zu. Er stellt jedoch fest, dass der Hexameter kein ererbtes indogermanisches Versmaß, sondern eine innergriechische Neubildung auf der Grundlage des indogermanischen Verses ist. Die Wurzeln des Epos und auch des Hexameters könnten zwar bis in die mykenische Zeit zurückreichen, doch der Prozess der Ausbildung der epischen Sprache benötigte einen längeren Zeitraum weit über diese Epoche hinaus.

Die Charakteristika der homerischen Kunstsprache (Archaismen, dialektale Uneinheitlichkeit, Formelhaftigkeit) behandelt M. Meier-Brügger. Einzelne Formeln der epischen Sprache bzw. ihre Vorstufen gehen ins 16./15. Jahrhundert v.Chr. zurück, im Wesentlichen sind die homerischen Epen jedoch erst in nachmykenischer Zeit entstanden. Um zwei Modelle der Genese der homerischen Tradition, die Oral-Poetry-Forschung und die Neoanalyse, geht es in dem Beitrag von B. Patzek. Keines der beiden Modelle kann als direkter Beweis für die Historizität der Großepen herangezogen werden. Die homerischen Epen lassen kein historisches Gedächtnis erkennen; vielmehr handelt es sich z.B. bei der Erinnerung an Troia und den Troianischen Krieg um eine konstruierte Vergangenheit.

Verbunden mit einer Klärung des literarischen Gattungsbegriffs "Heldenepik" und der Frage, inwieweit auch die homerischen Epen dazu zu zählen sind, untersucht Chr. Ulf die Motivation und die Bedingungen der Entstehung von Heldenepik und ihrer Tradierung. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Erinnerung an Früheres als Projektion aktueller Wünsche - etwa nach politischen oder sozialen Neuerungen - bestimmter Gruppierungen in eine konstruierte Vergangenheit aufzufassen ist.

Wichtig für die Diskussion um die Entstehung und das Alter der Ilias ist auch der von B. Eder behandelte Schiffskatalog (Il. 2,484-759): Diese Auflistung der griechischen Heeres- und Flottenkontingente vor Troia berücksichtigt die politische Geografie Griechenlands im 8./7. Jahrhundert v.Chr., nennt jedoch auch Orte von mythologischer Bedeutung und verbindet auf diese Weise aktuelle politische Gegebenheiten mit einer mythischen Vergangenheit - ohne dass sich der Ursprung des Schiffskatalogs zweifelsfrei in die mykenische oder nach-mykenische Zeit datieren lässt.

K. Raaflaub nimmt die Deutung und Historizität der homerischen Epen in den Blick, die er als recht lebensnahe Schilderung der politischen und sozialen Realität des 9. und 8. Jahrhunderts, zurückprojiziert in ein heroisches Zeitalter, beurteilt.

R. Rollinger skizziert die Wege des Kulturtransfers zwischen der Ägäis und dem Nahen Osten im 8. und 7. Jahrhundert. Dabei stellt er - mit der Odyssee und den neuassyrischen Königsinschriften als Quellenbasis - die Levante als eine wichtige Kontaktzone in den Vordergrund und tritt damit der jüngst von F. Starke und P. Högemann vertretenen Meinung 8 entgegen, dass nur in Anatolien die Griechen in direktem und kontinuierlichem Kontakt mit dem Alten Orient gestanden hätten.

R. Bichler beleuchtet die Rezeption des Troianischen Krieges in der antiken Literatur. Mit dem Anschein äußerster Exaktheit wurde wiederholt - rein spekulativ - der Zeitpunkt der Ereignisse um Troia berechnet. Dies war der Versuch, die griechische Frühzeit in ein chronologisches System einzubeziehen.

Mit diesem Band liegt erstmals eine Zusammenstellung der bisher nur verstreut publizierten Argumente der Korfmann-Kritiker vor: Die wichtigen Streitpunkte der Kontroverse werden dem Lesepublikum präsentiert, das Hilfestellungen zur Einarbeitung in ein zentrales Thema aller mit dem ägäischen und vorderasiatischen Raum befassten Fächer erhält. Auch wenn die derzeitige Pattsituation keine Annäherung der Kontrahenten in der Troia-Debatte erwarten lässt, wäre die Anregung zur Fortführung der Diskussion um Troia in einem vergrößerten fachwissenschaftlichen Kreis ein weiterer wünschenswerter Erfolg dieses Sammelbandes.

Anmerkungen:
1 Stuttgart 17.3.-17.6.2001, Braunschweig 14.7.-14.10.2002, Bonn 16.11.2001-1.4.2002; vgl. auch den gleichnamigen Begleitband zur Ausstellung: Latacz, Joachim (Hg.), Troia - Traum und Wirklichkeit. Begleitband zur Ausstellung "Troia - Traum und Wirklichkeit", 17. März bis 17. Juni 2001 Stuttgart, 14. Juli bis 14. Oktober 2001 Braunschweig, 16. November 2001 bis 17. Februar 2002 Bonn, Stuttgart 2001.
2 Vgl. die Zusammenstellung von Medienberichten unter http://www.uni-tuebingen.de/troia/deu/pressereview.html.
3 Berliner Morgenpost, 17.7.2001, Schwäbisches Tagblatt, 24.7.2001; Kolb, Frank, Ein neuer Troia-Mythos? Traum und Wirklichkeit auf dem Grabungshügel von Hisarlik, in: Behr, Hans-Joachim; Biegel, Gert; Castritius, Helmut (Hgg.), Troia - Traum und Wirklichkeit. Ein Mythos in Geschichte und Rezeption, Braunschweig 2002, S. 8-39.
4 Einen Bericht über das Symposion bietet Sehlmeyer, Markus (29.7.2002): http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=9.
5 Stellvertretend seien genannt: Cobet, Justus; Gehrke, Hans-Joachim, Warum immer um Troia streiten?, GWU 53, Heft 5/6 (2002), S. 290-325; Ulf, Christoph, Herkunft und Charakter der grundlegenden Prämissen für die Debatte über die historische Auswertung der homerischen Epen, Klio 84 (2002), S. 319-354; Hertel, Dieter, Die Mauern von Troia. Mythos und Geschichte im antiken Ilion, München 2003.
6 Folgendermaßen begründete J. Latacz seine Absage im Selbstzitat (FAZ, 22.2.2002): "Ich halte die Weiterbehandlung dieser Thematik auf professionellem Niveau für ganz und gar überflüssig [...] Jeder Klardenkende hat genug gehört und gesehen [...] Mag der Zweiflerzirkel künftig in sich kreisen. ‚Es ist Zeit, zur Arbeit zurückzukehren.'" (S. 38, Anm. 57).
7 Starke, Frank, Troia im Kontext des historisch-politischen und sprachlichen Umfeldes Kleinasiens im 2. Jahrtausend, Studia Troica 7 (1997), S. 447-487; Ders., Troia im Machtgefüge des zweiten Jahrtausends vor Christus. Die Geschichte des Landes Wilusa, in: Latacz (wie Anm. 1), S. 34-45.
8 Starke (wie Anm. 7); Högemann, Peter, Der Iliasdichter, Anatolien und der griechische Adel, Klio 82 (2000), S. 7-39; Ders., Zum Iliasdichter - ein anatolischer Standpunkt, Studia Troica 10 (2000), S. 183-198.

Kommentare

Von Latacz, Joachim04.11.2003

In Anm. 1 des Textes der Rezension von Monika Schuol zu Ulf, Christoph (Hrsg.), Der neue Streit um Troia (HSK, 27.10.2003) wird "Latacz, Joachim" als Herausgeber des Bandes 'Troia - Traum und Wirklichkeit' bezeichnet. Prof. Dr. Joachim Latacz (Universität Basel) legt Wert auf die Feststellung, daß nicht er der Herausgeber ist, sondern - wie aus den Angaben auf S. 3 des Bandes hervorgeht - folgende Institutionen:

Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg / Troia-Projekt des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Eberhard-Karls-Universität Tübingen / Braunschweigisches Landesmuseum, Braunschweig / Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen, Braunschweig / Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Bonn. - Herr Prof. Latacz war als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats (S. 18 des Bandes) verantwortlich für Teil I der Katalogkonzeption (S. 4 des Bandes) sowie für die "Abteilung I (Homer und die Ilias)" der Ausstellungskonzeption (S. 18 des Bandes).


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