W. Rüegg: Geschichte der Universität in Europa

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Titel
Geschichte der Universität in Europa. Band 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800-1945)


Herausgeber
Rüegg, Walter
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
607 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Der dritte Band des aufwändigen kooperativen Sammelwerkes „Geschichte der Universität in Europa“ ist erschienen. Er behandelt den Zeitraum von 1800 bis 1945, der für die deutsche Universitätsgeschichte eng mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verbunden ist. Der erste Band behandelte das Mittelalter. Der zweite führte von der Reformation bis zur Französischen Revolution, die als große Zäsur erscheint. Vor 1789 konnte man noch von einer europäischen Universität sprechen. Nach 1789 aber diversifizierte sie sich – parallel zur Entwicklung der Nationalstaaten – in eine Vielfalt von Universitäten in Europa. Diese „Geschichte“ steht noch im Kollektivsingular, weil sie sich heute – im „Bologna-Prozess“ – wieder an das Modell einer gemeineuropäischen Universität annähert.

Das Sammelwerk entstand seit den frühen 1980er-Jahren mit universitätspolitischen Zielsetzungen auf „Initiative der Europäischen Rektorenkonferenz“ (S. 11). Große Aktualität hat es heute im Kontext der Diskussionen um den Abschied vom klassischen Modell Humboldts. Dessen Modell der „Forschungsuniversität“ steht heute radikal in Frage. Man streitet darüber, ob es nur ein „Mythos“ war.1 Viele historische Studien belegen aber die breite Rezeption und den internationalen Erfolg des Modells.

Der vorliegende dritte Band bestätigt die überragende Bedeutung von Humboldts Modell auf breitester Grundlage. Er knüpft die „erstaunliche Renaissance und Expansion der Universität“ (S. 17) nach 1789 dabei an die Durchsetzung des deutschen Modells in der Konkurrenz zum französischen Modell staatlich reglementierter Spezialhochschulen. Der Herausgeber Walter Rüegg (Jg. 1918) formuliert eingangs offensiv die These, „dass die deutsche, auf der Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre beruhende Universitätsidee in der Konkurrenz zum Napoleonischen Modell staatlich gelenkter Spezialhochschulen der modernen Forschungsuniversität den Weg öffnete, auf dem der Siegeszug der Naturwissenschaften als zweite epochale Neuerung seine institutionelle Grundlage fand“ (S. 41). Er meint auch: „Die moderne Wissenschaftsidee setzte sich in dem Maße durch, in dem die nationalen Hochschulsysteme die korporative Autonomie der traditionellen Universität mit der Freiheit ihrer Mitglieder in Lehre, Studium und Forschung verbanden.“ (S. 26) Der Zusammenhang mit der allgemeinen Verfassungsgeschichte klingt hier deutlich an. Nach Rüegg ist die neuere europäische Universitätsgeschichte durch die Alternative des französischen und des deutschen Modells gekennzeichnet. Säkularisierung, Bürokratisierung und Spezialisierung prägten zwar beide Modelle (S. 26ff.). Doch die Idee der Forschungsuniversität, das Studium unter den Primat der Forschung zu stellen, sei nur durch Humboldt realisiert worden. Sie ermöglichte eine „deutsche Hegemonie“ (S. 29) auch im Übergang vom philosophischen zum naturwissenschaftlichen Zeitalter der Forschung, betont Rüegg und setzt damit einen Akzent gegen die verbreitete Annahme, dass Humboldt mit dem Aufstieg der Philosophischen Fakultät auch das Auseinanderdriften der „zwei Kulturen“ der Natur- und Geisteswissenschaften zu verantworten habe. Rüegg betont darüber hinaus noch die politische Bedeutung der liberalen, vom staatlichen Zwang emanzipierenden Wissenschaftsidee, die schon bald von den studentischen Bewegungen ergriffen wurde und den Universitäten bis in die Gegenwart hinein utopische Potentiale politischer Gegengründung zum Staat zuwies.

Das sind die starken Thesen des Herausgebers, mit denen der dritte Band antritt. Sie zünden mit ihrer Rückbesinnung auf Humboldt einigen Sprengstoff in der gegenwärtigen Debatte. Deshalb ist die Beschränkung auf Europa auch etwas bedauerlich. Denn die gegenwärtige Debatte wird ja nicht mehr vom Gegensatz des deutschen zum französischen Modell bestimmt, sondern von der Spannung zwischen Humboldt und Harvard und dem Licht, das von den amerikanischen Universitäten aus auf Bologna fallen soll. Die amerikanischen Verhältnisse konnten nicht Gegenstand des Sammelbandes sein. Immerhin findet sich ein Überblick über die globale Rezeption der europäischen Universität.

Der dritte Band gliedert sich einleuchtend in vier Teile: Themen und Grundlagen; Strukturen; Die Studenten; Wissenschaft. Der erste Teil kann dabei als Einleitung betrachtet werden. Denn der Herausgeber Rüegg exponiert zunächst, wie skizziert, die „Themen, Probleme, Erkenntnisse“ der neueren Universitätsgeschichte, die Christophe Charle dann im zweiten Kapitel „Grundlagen“ statistisch breiter ausführt, wobei er eine Krise des elitären Humboldt-Modells nach 1900 andeutet, die mit den wachsenden Ausbildungserwartungen der Masse weniger situierter Studenten verbunden war (S. 64).

Den zweiten Teil „Strukturen“ eröffnet Paul Gerbod mit zwei Kapiteln zu den „Hochschulträgern“ und der „Ausstattung, Finanzierung, Organisation“. Er betont die wachsende wirtschaftliche und politische Abhängigkeit der alten Universitäten von ihren staatlichen Trägern, die den Entwicklungen aber als „Erbe des Mittelalters“ noch mit korporativem Selbstbewusstsein und einigem Widerstand 2 entgegentraten. Matti Klinge schildert dann den Habitus der „Universitätslehrer“: ihre Qualifizierungswege, ihre traditionale „Verbindung von Familien- und Gelehrtenleben“ und ihren allmählichen Aufstieg in der sozialen und politischen Rolle. Zum Abschluss bieten Edward Shils und John Roberts einen materialreichen Überblick über die globale Rezeption gerade des deutschen Modells, die jedoch stets „Initiativen einheimischer Akteure im Spiel“ (S. 194) ließ. Von einer blinden Rezeption oder Oktroyierung der europäischen Universität kann also nicht die Rede sein.

Der dritte Teil behandelt „Die Studenten“. Fritz Ringer erörtert zunächst deren „Zulassung zur Universität“, wobei er den Aspekt der sozialen Öffnung besonders betont, der in Deutschland bis Ende des 19. Jahrhunderts recht gering war. Ringers verweist auf die Konjunkturen von Angebot und Nachfrage und die zyklische Wiederkehr eines „akademischen Proletariats“. Bedenkenswert scheint mir auch seine Überlegung, dass „man eher von einer Pädagogisierung der Wirtschaft als von einer Industrialisierung des Bildungswesens sprechen“ (S. 217) könnte. Entspricht die hohe Akademisierung heute wirklich Bedürfnissen der Berufswelt? Oder erzeugen die Universitäten eine Nachfrage nach Akademikern, die heute erodiert?

Den sozialen Perspektiven der Akademiker korrespondiert ihr politisches Engagement. Lieve Gevers und Louis Vos zeigen in ihrem umfänglichen Kapitel „studentische Bewegungen“, einem Herzstück dieses dritten Bandes, wie durchgängig sich die Studentenschaft nach 1789 als politische Avantgarde verstand und revolutionär engagierte: Es begann mit dem deutschen studentischen Widerstand gegen Napoleon und prägte international vernetzt allenthalben die europäischen Revolutionen. Die sehr deutsche Wendung zum antiliberalen Nationalismus datieren die Autoren dabei nach 1860 (vgl. S. 249, 260f., 266). Einen besonderen Akzent legen sie auch auf die radikale Entwicklung in Russland.

Konrad Jarausch beschließt den Teil mit interessanten Überlegungen zum „Lebensweg der Studierenden“. Er fragt erneut nach dem Verhältnis von Akademisierung und Professionalisierung und betont den ständigen „Wechsel zwischen Überschuß und Mangel“ im Akademikerzyklus. Die Universitäten waren Schrittmacher „der Entwicklung der akademischen Berufe in Deutschland“ (S. 316). Sie soufflierten der Gesellschaft einen hohen Akademikerbedarf und bewirkten im Zusammenspiel mit den staatlichen Behörden eine Anhebung der Ausbildungsnormen und Standards.

In diesen Darstellungen der politischen Rolle der Studentenschaft und des Akademikerzyklus scheint mir auch einiger Sprengstoff für aktuelle Diskussionen zu stecken. Denn die politische Rolle der Studentenschaft scheint sich heute mit dem wachsenden Druck zur Ausbildungsorientierung zu wandeln. Und die historische Betrachtung des Akademikerzyklus legt die Frage nahe, ob die politisch anvisierten Forderungen nach einer höheren Akademikerquote (von etwa 40%) tatsächlich gesellschaftlichen Interessen entsprechen. „Überqualifizierung“ und Akademikerarbeitslosigkeit ist heute schon ein durchschnittliches Schicksal. Zunehmend entdecken die Unternehmen ihren einfachen Bedarf an bloßen Anwendungsqualitäten. Humboldts Überzeugungen vom moralischen und gesellschaftlichen Nutzen methodischer Schulung der Selbstständigkeit werden da kaum noch geteilt. Der Trend scheint zu einer quantitativ höheren Akademisierung bei verkürztem Studium und qualitativer Senkung der Standards zu gehen. Das historische Studium des Akademikerzyklus und die genaue Analyse der Akteure der Akademisierung, die Ringer und Jarausch vorschlagen, eröffnet der Diskussion hier fruchtbare Perspektiven.

Der vierte Teil „Wissenschaft“ ist als kleine Geschichte der Forschungsdynamik angelegt. Walter Rüegg exponiert in seinem einleitenden Kapitel „Theologie und Geisteswissenschaften“ erneut seine starken Thesen zum paradigmatischen Beitrag der deutschen Universität und Wissenschaft. Er tut das sehr originell und geschickt, wenn er von der historischen Affinität von Theologie und Geisteswissenschaften ausgeht und den Anschluss an die ältere Universitätsgeschichte knüpft, indem er mit der katholischen, modernitätskritischen Theologie beginnt und dann Schleiermacher als universitätspolitischen und theologischen Vordenker der neueren Universitätsgeschichte feiert (S. 335ff.). Mit Schleiermacher und August Böckh wurde die deutsche Universität, so Rüegg, zum „Maßstab, Mekka, Modell oder Monstrum wissenschaftlicher Ausbildung und Forschung“ (S. 343). Vom Modell spricht Rüegg viel, von den monströsen Deformationen wenig. Eingehend schildert er, wie der „Durchbruch der Klassischen Philologie“ in Deutschland zum Anstoß der Entstehung der modernen Philologien wurde, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die verschiedensten Richtungen verzweigten und in der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Philosophie wieder zur universitären Einheit zurückgebunden wurden.

Rüegg ist also ein starker Verfechter Humboldts. Vielleicht ist es deshalb ein guter Kontrapunkt, dass der Engländer Asa Briggs in seinem anschließenden Kapitel „Geschichte und Sozialwissenschaften“ nicht dieser deutschen Erfolgsgeschichte folgt, sondern eher additiv und unsystematisch argumentiert. Weitere Darstellungen, die hier nicht zu referieren sind, behandeln dann „Mathematik und exakte Naturwissenschaften“ (Paul Bockstaele) sowie „Biologie und Geologie“ (Anto Leikola) und Medizin (Antonie M. Luyendijk-Elshout). Ein Kapitel „Technik“ (Anna Guagnini) markiert den Übergang zur angewandten Wissenschaft und Technik und erörtert dabei mit dem Ausbau der Industrieschulen und den Technischen Hochschulen auch die großen institutionellen Konsequenzen für die Universitätsgeschichte. Der Paradigmenwechsel von philologisch orientierten zu naturwissenschaftlich-technisch orientierten Humanwissenschaften und die Umgestaltung der Forschungslandschaft wird so gegen Ende des dritten Bandes noch sehr schön deutlich. Der Band endet dann mit einem „Epilog“ Notkers Hammersteins über „Universitäten und Krieg im 20. Jahrhundert“, der die Zerstörungen der alten Universitätskultur durch den Nationalismus und die beiden Weltkriege gerade in Deutschland betont und den Aufstieg der USA am Beispiel der Atomwissenschaft noch andeutet: Während die kriegstechnische Bedeutung der Atomforschung in Deutschland (zum Glück) nicht erkannt wurde, trieben die USA sie kräftig voran (S. 538, 542). Hätte der Krieg in Europa nur wenige Wochen länger gedauert, wäre die „Wunderwaffe“ auf Berlin gefallen.

Der Band wird abgerundet durch ein umfassendes chronologisches Verzeichnis der wissenschaftlichen Hochschulen Europas 1800-1945 sowie Personen-, Orts- und Sachregister.

Insgesamt ist er ein großes vergleichendes Lehrwerk von der einstigen Weltwirkung der deutschen Universität und vom Wandel der Leitwissenschaften von den Geisteswissenschaften zur anwendungsorientierten Naturwissenschaft. Vielleicht wurde der „Mythos“ Humboldt niemals zuvor derart fundiert und vergleichend beschworen. Das mag auch daran liegen, dass die meisten der international renommierten Autoren den älteren Jahrgängen vor 1933 und 1945 entstammen. Kein Zweifel aber, dass hier weit mehr als ein Handbuch vorliegt, das man selektiv konsultiert. Es ist eine überzeugend gegliederte, straff durchgearbeitete Monografie, die eine Morphologie der europäischen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte auf breiter Basis liefert und dabei die überragende Bedeutung der deutschen Universität und Wissenschaft gegen das französische und das stark traditionsbelassene englische Modell in seiner europäischen und weltweiten Ausstrahlung herausstellt. Dieses Buch kommt zur rechten Zeit. Jeder Bildungspolitiker sollte es lesen und im Herzen wägen. Schade nur, dass der vierte und letzte Band noch nicht vorliegt. Er dürfte ein Bild vom Niedergang Humboldts zeichnen, dessen Gründe zu bedenken wären. Mit dem Aufstieg der technischen Universitäten kündigt sich an, dass die neuere Wissenschaftsgeschichte heute nicht nur als Universitätsgeschichte zu schreiben ist. Man darf gespannt sein, wie der vierte Band den neueren Form- und Bedeutungswandel der Universitäten beschrieben wird.

Anmerkungen:
1 Zur Diskussion vgl. meine Sammelbesprechung: Der Humboldt-Mythos als Reformmodell, in: Neue Politische Literatur 45 (2000), S. 193-207.
2 Dazu vgl. Boockmann, Hartmut, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1999.

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