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Titel
Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz


Autor(en)
Hesse, Klaus; Springer, Philipp
Erschienen
Anzahl Seiten
216 S., 335 s/w Abb.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Rudorff, Berlin

Nicht zuletzt angeregt durch die kontroversen Diskussionen um die erste Wehrmachtsausstellung zeichnete sich in den letzten Jahren in der Geschichtswissenschaft ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der Bedeutung von historischen Fotografien ab: Fotos, die historische Sachverhalte zeigen, werden zunehmend als eigenständige historische Quellen wahrgenommen und interpretiert, nachdem sie lange Jahre vor allem illustrativ eingesetzt wurden. Diese Verwendung führte oft zu einem sehr unsorgfältigen und unkritischen Umgang mit historischen Bildaufnahmen.

Die schon im letzten Jahr erschienene Publikation „Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz“ von Klaus Hesse und Philipp Springer ordnet sich ein in die Veröffentlichungen mit dem Anspruch, historische Bildaufnahmen als Quelle nutzbar zu machen. Sie geht aus einem seit 1998 durchgeführten Projekt der „Topographie des Terrors“ zur Erschließung von Fotomaterial zur Geschichte des nationalsozialistischen Terrors auf lokaler Ebene hervor. Eine dazugehörige Ausstellung war bis zum Februar diesen Jahres am Bauzaun auf dem Gelände der Topographie des Terrors zu sehen und wandert nun durch verschiedene deutsche Städte.

Klaus Hesse und Philipp Springer haben in zahlreichen Stadt- und Gemeindearchiven 335 Fotos ausgewählt, die bildlich Auskunft über den lokalen NS-Terror der Jahre 1933 bis ca. 1943 in deutschen Provinzstädten geben. Nach einem einführenden Aufsatz zur Fotogeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands von Philipp Springer teilt sich der dokumentarische Teil des Bandes in sechs thematische Kapitel, die Bildzeugnisse vom frühen Terror der Jahre 1933/34, von antijüdischen Aktionen und Diskriminierungen, dem Novemberpogrom 1938, den öffentlichen Demütigungen von „Rasseschändern“, den Deportationen und der Verwertung des jüdischen Eigentums enthalten.

Dabei setzen die Autoren einen Schwerpunkt auf Fotos der Deportationen von Juden. Die über 100 ausgewählten Bilder werden anschließend in einem Beitrag von Klaus Hesse eingehend interpretiert. Diese thematische Fokussierung ergibt sich nicht zwingend aus dem recherchierten Material, da der größte Teil der von den Archiven zur Verfügung gestellten Fotos im Wesentlichen brennende oder zerstörte Synagogen des November 1938 zeigt. Viele dieser meistens von privaten „Knipsern“ angefertigten Aufnahmen befanden die Autoren jedoch als wenig aussagekräftig, da auf ihnen oft keine Menschen zu sehen sind und ja gerade die Beteiligung der lokalen Gemeinschaft vor Ort interessierte.

Ein Verdienst der Autoren ist es, die Frage nach der Urheberschaft und Motivation sowie der Überlieferungsgeschichte der Fotos so weit wie möglich zu recherchieren und zu dokumentieren. Damit erfüllen sie wichtige Kriterien des Forderungskatalogs, den TeilnehmerInnen der Konferenz „Das Photo als historische Quelle“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung 1999 zur Durchsetzung wissenschaftlicher Standards zum Umgang mit fotohistorischen Aufnahmen erstellt haben.1 So sollten Veröffentlichungen von historischen Fotoaufnahmen stets Angaben zum Fotografen, zur Verwahrstelle, zum Ort, Zeitpunkt und Entstehungszusammenhang der Aufnahme enthalten, so weit sie mit vertretbarem Aufwand ermittelt werden können.

Die von Hesse und Springer ausgewählten Fotos dokumentieren nur einen Aspekt der Realität im nationalsozialistischen Deutschland – den des inszenierten Terrors im Gegensatz zur alltäglichen Diskriminierung, zu behördlichen Maßnahmen oder zum im Verborgenen ausgeübten Terror in Folterkellern oder Konzentrationslagern. Sie zeigen die massenweise „Inschutzhaftnahme" von politischen Gegnern, die ab März 1933 häufig mit der öffentlichen Demütigung prominenter Gefangener einherging, die verkleidet und mit Schildern versehen durch die ganze Stadt geführt wurden. Diese Umzüge rufen Assoziationen an die im Mittelalter übliche Zurschaustellung von Delinquenten hervor. Neben ihrer Funktion als warnende Botschaft an die Zuschauenden, dienten solche Spektakel auch zur Manifestation der Macht des Strafenden. Öffentlichkeit war, laut Hesse und Springer, auch deshalb ein notwendiger Bestandteil der Inszenierung, da die symbolisierte Ausschließung aus der „Volksgemeinschaft“ nur durch Anwesenheit derselben dargestellt werden konnte. Ähnliches zeigen Fotos aus den 40er-Jahren, auf denen Demütigungen so genannter „Rasseschänder“ – Frauen, denen Kontakte mit ausländischen Zwangsarbeitern vorgeworfen wurden - zu sehen sind. Bilder der Deportationen von Juden zeigen dagegen ein etwas anderes Bild. Hier befand sich die zuschauende Bevölkerung eher vereinzelt und zufällig am Straßenrand.

Generell jedoch bleibt die Beweiskraft der Bilder schwierig: über die wirklichen Motive des Publikums, über Zustimmung oder Scham, Folgebereitschaft oder Verführung der zuschauenden Bevölkerung sagen die Bildquellen wenig aus. Die auf den Fotos sichtbaren Reaktionen reichen von ausgelassener Freude bis hin zu ernster Anspannung in den Mienen der Umstehenden, die auch immer nur einen Ausschnitt der Bevölkerung wiedergeben. Wie sehr die Interpretation der Publikumsmotivation ungesichert ist, versucht Klaus Hesse in seinem Aufsatz zu den Deportationen deutlich zu machen. Wünschenswert wäre gewesen, wenn auch den anderen thematischen Abschnitten des Bandes textliche Annäherungen dieser Art beigefügt worden wären.

Ungeachtet der Ambivalenz der Bilder und der daraus folgenden Interpretationsschwierigkeiten sind die Fotos dennoch Belege dafür, dass der NS-Terror gegen politische Gegner und gegen Juden keineswegs nur im Verborgenen, sondern im unmittelbaren Lebens- und Erfahrungsbereich stattfand. So kommt Philipp Springer im einführenden Text zu der deutlichen Schlussfolgerung, dass der Massenmord seinen Ausgangspunkt in den Dörfern und Städten des Deutschen Reichs hatte und die Aufnahmen des lokalen Terrors eine Alibifunktion, man habe von nichts gewusst, verweigern.

Durch ihre scheinbare Alltäglichkeit, dem Fehlen von offener Gewalt, zwingen die Bilder den Betrachter, sich die tatsächliche Grausamkeit des Dargestellten bewusst zu machen und verhindern damit ein abgestumpftes Konsumieren „schrecklicher Bilder“. Bei diesen Fotos, so Reinhard Rürup im Vorwort, sei noch kein Gewöhnungs- oder Vernutzungseffekt eingetreten, der den Zugang zu dem, was gezeigt werden soll, nicht erleichtert, sondern erschwert. Damit ist die Hoffnung verbunden, die Fotos könnten ein genaueres Hinsehen, eventuell sogar Nachdenken evozieren. Der Band leistet auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur Erschließung und Veröffentlichung einer neuen Bildwelt des Nationalsozialismus.

Anmerkung:
1 Vgl. Fotogeschichte, 19. Jg., Heft 74 (1999), S. 74f.; Bericht und Text des Forderungskatalogs auch in: Der Archivar, 52 Jg., Nr. 4, 1999, http://www.archive.nrw.de/archivar/hefte/1999/Archivar_1999-4.pdf (03.11.2003).

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