S. Heim: Kalorien, Kautschuk, Karrieren

Cover
Titel
Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933 bis 1945


Autor(en)
Heim, Susanne
Reihe
Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 5
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
280 S., 14 s/w Abb.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gesine Gerhard, History Department, University of the Pacific, Stockton

Mit ihrem Buch “Kalorien, Kautschuk, Karrieren” bringt Susanne Heim das Verständnis der Rolle der Wissenschaften im Nationalsozialismus um einen entscheidenden Schritt weiter. In ihrer Untersuchung zur landwirtschaftlichen Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten im Zeitraum von 1933-1945 kommt Heim zu der Schlussfolgerung, dass die Wissenschaften nicht nur mit dem NS-Staat kooperiert, sondern auch in großem Umfang von dieser Verbindung profitiert haben. Heim untermauert damit das Bild, das die jüngere Forschung gezeichnet hat, in der die oft hervorgehobene Wissenschaftsfeindlichkeit des Nationalsozialismus widerlegt wird. Ebenso entkräftet sie die These des angeblichen Missbrauchs der Wissenschaften im nationalsozialistischen Staat. Vielmehr belegt Heim mit konkreten Beispielen, wie Wissenschaftler entweder aus Hingabe an die Forschung, aus politischer Überzeugung oder aus Karrieregründen unter sehr günstigen Forschungsbedingungen ihre Arbeit fortsetzen und sogar intensivieren konnten. Es kann somit nicht nur von Kooperation, sondern eher von einer “Interessenkongruenz zwischen Wissenschaft und Macht” (S. 249) gesprochen werden.

Heim betont, dass es ihr nicht um die Verurteilung einzelner “belasteter” Wissenschaftler geht. Vielmehr versucht sie, das Selbstverständnis und “Verhalten einer ganzen Disziplin” (S. 248), nämlich der Agrar- und Ernährungsforschung im NS-Staat, zu beleuchten. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass nicht nur – wie bisher angenommen – die Geografie, Raumforschung und Demografie eng mit dem nationalsozialistischen Konzept eines größeren “Lebensraum” verbunden waren, sondern auch die landwirtschaftliche Forschung mit den Zielen der Agrar- und Ernährungspolitik einherging. So war etwa das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft einer der Hauptgeldgeber für die Agrarforschung, und Staatssekretär und späterer Agrarminister Herbert Backe übte starken Einfluss auf die Arbeit in den Kaiser-Wilhelm-Instituten aus. Auch im Hinblick auf die Expansionspolitik lieferte die Agrarwissenschaft theoretische Hilfestellung. So wurde die Ernährungslage in den unterworfenen Gebieten sowie der Kalorienbedarf der Kriegsgefangenen untersucht und Forschungen zur Umsetzung einer Ernährungsautarkie unternommen. Insbesondere die Züchtungsforschung entpuppte sich als eine wesentliche Stütze für die Erzeugungsschlacht und den Vierjahresplan, da sie die wissenschaftliche Grundlage für eine Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft legte.

Darüber hinaus lieferte der Krieg der Agrarwissenschaft Gelegenheit, ihren Geltungsbereich zu erweitern und von wissenschaftlichen Vorarbeiten und Ressourcen in den besetzten Gebieten zu profitieren. Neue Institute wurden in den eroberten Ländern aufgebaut oder bereits bestehende Forschungseinrichtungen übernommen. Auch von der Zwangsarbeit profitierte die Wissenschaft. So wurden im Konzentrationslager Auschwitz inhaftierte ausländische Wissenschaftler in Forschungslaboren und auf landwirtschaftlichen Versuchsgütern eingestellt. Heim beschreibt allerdings überzeugend, dass der Nutzen dieser Art Forschung unter Zwangsbedingungen weit weniger profitabel war als oft angenommen.

Die kritischste Schlussfolgerung zieht Heim in Bezug auf die Partizipation der Wissenschaft an der Expansionspolitik des NS-Regimes. Es wurden nicht nur bestehende Forschungseinrichtungen übernommen, Zwangsarbeiter beschäftigt und Expeditionsreisen in die besetzten Länder unternommen, sondern auch Nutzflächen beschlagnahmt und noch während des Rückzugs der deutschen Armee Ressourcen geraubt und wissenschaftliche Einrichtungen demontiert. Insgesamt kam es in diesen zwölf Jahren zu einer beschleunigten Verwissenschaftlichung des landwirtschaftlichen Sektors, von dem die Bundesrepublik und die DDR noch nach 1945 profitierten.

Heim unterteilt ihre Studie in drei Themengebiete. Der erste Teil, Kalorien, beschäftigt sich mit der Ernährungswirtschaft. Es wird hier insbesondere die Rolle Herbert Backes hervorgehoben, der als Ernährungsexperte für die Vorbereitung der Landwirtschaft auf den Krieg zuständig war. Vom Ernährungsministerium aus sicherte Backe die Finanzierung der KWI und bestimmte als Senatsmitglied und späterer Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft deren Forschungsinhalte mit. Die Ernährungsplanung war eng verbunden mit einem ehrgeizigen Siedlungsplan, der vorsah, deutsche Bauernfamilien als Siedler in den besetzten Ostgebieten anzuwerben. Zur Verwirklichung des umfangreichen Siedlungsvorhaben spekulierte Backe auf die Einbeziehung der Ressourcen der Sowjetunion und war bereit, den Hungertod von “zig Millionen [russischen] Menschen einzuplanen” (S. 27). Heim bescheinigt Backe damit die kaltblütige Kalkulation eines NS-Pragmatikers, der stark im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten, dem “in Blut- und Bodenmythen schwebenden Landwirtschaftsminister Darré” (S. 31) stand. Hier übernimmt Heim allerdings unkritisch ein Klischee in der Geschichtsforschung, das auf Darrés Selbstdarstellung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zurückgeht und durch Backes Selbstmord im Jahr 1947 scheinbar bestätigt wurde. Spätestens seit Anna Bramwells Buch erhielt die Vorstellung von dem „green Nazi“ eine “wissenschaftliche” Fundierung.1 In der Geschichtsforschung ist diese Einschätzung Darrés, der von den Nationalsozialisten für ihre politischen Zwecke benutzt wurde, meist unhinterfragt übernommen worden. Neuere Arbeiten zeichnen jedoch ein differenziertes Bild von Darré und seinem Nachfolger Backe.2

Im zweiten Teil beschäftigt sich Heim mit dem Kautschukanbau in den militärisch unterworfenen Gebieten. Ziel der Planung war es, das Deutsche Reich von Rohstoffimporten unabhängig zu machen und den Mangel an Gummi durch den Anbau von Kautschukpflanzen auszugleichen. Auch die synthetische Erzeugung des Rohstoffes in den so genannten “Buna” Werken der IG Farben erhielt großen Auftrieb. Im Nebenlager Rajsko in Auschwitz wurde im Jahr 1942 mit dem Aufbau einer landwirtschaftlichen Versuchsstation begonnen, in der unter der Leitung von Joachim Caesar nicht nur die wissenschaftliche Bearbeitung von Kautschukpflanzen betrieben, sondern auch Gemüse, Blumen und Getreide angebaut wurde. Während das “Pflanzenzuchtkommando Auschwitz” in der Forschung bislang eher nur als skurrile Nebenerscheinung behandelt wurde, trägt Heims Darstellung zu einem besseren Verständnis des Forschungsbetriebs bei. An dem Beispiel wird deutlich, wie das KWI von der Zwangsarbeit profitierte und eng mit der KZ-Leitung zusammenarbeitete. So wurden polnische Wissenschaftlerinnen aus dem KZ Ravensbrück in die Versuchsanstalt überwiesen, und andere Häftlinge zur Arbeit in den Gärtnereien, Forschungslaboren und auf den landwirtschaftlichen Versuchsfeldern eingestellt. Darüber hinaus kollaborierten deutsche und russische WissenschaftlerInnen, die selbst keine Häftlinge waren. Obwohl die Lebensbedingungen in Rajsko im Vergleich zum Hauptlager relativ gut waren, stellt sich die Frage nach der Rolle und dem Verhalten der deutschen Wissenschaftler. Sie haben, wenn manch einer auch Unbehagen an den Arbeitsbedingungen im Lager zeigte, die Verbrechen in Auschwitz akzeptiert und sich um den Rahmen, in dem ihre wissenschaftliche Forschung betrieben wurde, wenig gekümmert.

Insgesamt, so Heim, ist der Versuch, Pflanzenkautschuk in den besetzten Gebieten anzubauen und auf diese Weise den Mangel an Gummi auszugleichen, gescheitert. Die Gründe für das Scheitern lagen jedoch nicht an einer mangelnden Kooperationsbereitschaft der deutschen Wissenschaftler oder an der “Ineffizienz der Forschungsorganisation” im Nationalsozialismus (S. 194). Vielmehr waren es die Schwierigkeiten, das Projekt in einem besetzten Gebiet mit Hilfe von Zwangsarbeit durchzuführen sowie die zu kurze Anlaufzeit im Zusammenhang des Krieges, die den erfolgreichen Anbau von Kautschuk behinderten.

Im letzten Teil untersucht Heim die Rolle einzelner Wissenschaftler während des Krieges und ihre Karrieren nach 1945. Sie hat dafür zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten gewählt: den Züchtungsforscher Hans Stubbe, der einer der erfolgreichsten Wissenschaftler der DDR wurde, und Klaus von Rosenstiel, der aufgrund seiner Vergangenheit das KWI im Jahr 1946 verlassen musste, allerdings als Saatzuchtleiter der Nordsaat GmbH die Verbindung zum Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung bis zu seinem Tod im Jahr 1973 aufrecht erhielt. Während Rosenstiel seine wissenschaftliche Karriere eng mit dem NS-Staat verknüpft hatte und für ihn, so Heim, die Wissenschaft Mittel zum Zweck – nämlich die Stärkung Deutschlands – war, nahm Stubbe eine apolitische Rolle ein und glaubte, dass wissenschaftliche Forschung unabhängig vom politischen Regime möglich sei. Er akzeptierte die mörderischen Rahmenbedingungen der NS-Politik, solange sie in seiner Sicht den wissenschaftlichen Fortschritt vorantrieben. Stubbe und Rosenstiel haben somit auf verschiedene Weise zur Interessenkoalition von Wissenschaft und Politik beigetragen und von den erweiterten Forschungsbedingungen profitiert.

Heim liefert mit diesem Buch einen gut lesbaren, sorgfältig recherchierten und überzeugenden Beitrag zur Debatte um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, der die Bedeutung der Ernährungswirtschaft und die Rolle der Wissenschaftler im Nationalsozialismus erneut hinterfragt und einer kritischen Betrachtung unterzieht.

Anmerkungen:
1 Bramwell, Anna, Blood and Soil. Richard Walther Darré and Hitler's "Green Party", Abbotsbrook 1985.
2 Ein kritischeres Bild von Darré zeichnen Corni, Gustavo; Gies, Herbert, "Blut und Boden". Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers, Idstein 1994; Gerhard, Gesine, Richard Walther Darré—Naturschützer oder ‘Rassenzüchter’? in: Radkau, Joachim; Uekötter, Frank (Hgg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt/New York 2003, S. 257-271.

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