S. Klocke-Daffa u.a. (Hg.), Engelbert Kaempfer

Cover
Titel
Engelbert Kaempfer (1651-1716) und die kulturelle Begegnung zwischen Europa und Asien. Beiträge zur Reiseforschung und Wissenschaftsgeschichte


Herausgeber
Klocke-Daffa, Sabine; Scheffler, Jürgen; Wilbertz, Gisela
Reihe
Lippische Studien 18
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Almut Höfert, Historisches Seminar, Universität Basel

Der vorliegende Sammelband, der mit finanzieller Unterstützung öffentlicher und privater Institutionen gedruckt wurde, ist aus Anlass des 350. Geburtstages des Asienreisenden Engelbert Kaempfer entstanden. Das Jubiläums-Programm, das Lemgo 2001/2002 für „eine(n) seiner größten Söhne”, so die Mitherausgeberin Sabine Klocke-Daffa (S. 7), veranstaltete, umfasste eine Reihe von Vorträgen, die nun im vorliegenden Band in überarbeiteter Form vorliegen. Der Band vereinigt Beiträge von HistorikerInnen, EthnologInnen, Japanologen, einer Islamwissenschaftlerin, einem Physiker und schließlich dem derzeitigen Bundestagspräsidenten: eine interessante Zusammenstellung, wenn auch erst die eigentliche Lektüre die Befürchtung, der Topos des „großen Sohnes” könnte hier nicht nur die Finanzierung, sondern auch die Inhalte der Beiträge geprägt haben, angenehm zerstreut. Ein weiterer, wohltuender Effekt des Rahmens, in dem dieser Band entstanden ist, liegt in der großzügigen Ausstattung des Bandes und der durchgängig guten Lesbarkeit der Beiträge.

Die Beiträge sind in vier Teile gegliedert. Nach dem Beitrag von Barend Jan Terwiel, der ein neues Selbstportrait Engelbert Kaempfers in dessen Feldnotizen identifiziert, gibt der Aufsatz von Nicolas Rügge Aufschluss über die Grafschaft Lippe und die Stadt Lemgo in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Kriegsfolgen, Pest, Hexenverfolgung (Lemgo galt innerhalb der Grafschaft Lippe als eine der Hochburgen der Hexenverfolgung) und ein zaghafter, bald erneut in die Krise mündender Aufbruch prägten die Stadt, die Kaempfer bereits im Alter von sechzehn Jahren verließ, um seine Ausbildung, die ihn später nach Danzig, Krakau, Königsberg und schließlich Upsala führte, fortzusetzen. Gisela Wilbertz geht in einer detaillierten genealogischen Studie der Frage nach dem familiären Umfeld Kaempfers nach – ein Zweig der Familie verblieb im Handwerkerstand, dem anderen gelang der Aufstieg in das gelehrte Bildungsbürgertum – und untersucht die ambivalente Rolle von Kaempfers Vater während der Hexenverfolgungen.

Im zweiten Teil geht es nun auf die Reise nach Persien – Kaempfer war in Schweden offenbar 1683 von Samuel Pufendorf als Sekretär für eine schwedische Gesandtschaft an den Safawidenhof in Persien empfohlen worden, wo er sich viereinhalb Jahre aufhielt. Kaempfers Persienbericht ist zwar weit weniger als seine Japanschriften rezipiert worden, verdient aber ebenfalls Beachtung und ist, wenn die Frage nach Kaempfers Wahrnehmungsmustern gestellt wird, als Gegenstück zum Japanbericht besonders interessant.

Stefan Brakensiek zeigt, dass Kaempfers Persienbericht den zeitgenössischen apodemischen Vorgaben entsprach, im Dialog mit anderen Persienreisenden abgefasst wurde und trotz einer ambivalenten Beurteilung letztlich mit zum wirkungsträchtigen Despotiebegriff der Aufklärung beitrug, der seit dem 18. Jahrhundert als düsteres Gegenbild das europäische Modell der adelsgestützten Verfassung hell erleuchtete. Birgitt Hoffmanns Aufsatz ist ebenfalls dem Persienbericht gewidmet, der als Quelle für Iranisten eine englische Übersetzung verdiente – sie legt das Gewicht besonders auf den Einfluss des in Persien lebenden Kapuziners Raphael du Mans auf Kaempfers Persiendarstellung, der Kaempfers Analyse der persischen Gesellschaft mitprägte und neben anderen Reiseberichten mit in Kaempfers Darstellung einging.

Im dritten Teil des Bandes kommen wir nun nach Japan. Kaempfer selbst machte noch Stationen in Indien, bis er 1690 als Arzt der niederländischen Ostindienkompanie nach Japan kam, wo er zwei Jahre lang auf Deshima, einer künstlichen Insel in der Bucht von Nagasaki, lebte. Folker Reichert zeichnet zunächst die Geschichte „Zipangos” nach, jenem Inselkönigreich im chinesischen Meer, von dem bereits Marco Polo berichtete und das seither als potentielle Station auf der Suche nach dem westlichen Seeweg nach Indien bei Kosmografen und Entdeckungsreisenden eine Rolle spielte. Diese Insel wurde zunächst wechselweise Amerika oder Asien zugerechnet, bis es nach den Berichten der Portugiesen, die 1543 als erste Europäer nach Japan kamen, allmählich von den Landkarten verschwand.

Nachdem im Artikel Brakensieks schon die Zusammenarbeit zwischen Kaempfer und japanischen Hollandspezialisten angesprochen wurde, legen die beiden folgenden Beiträge ihren Schwerpunkt auf die Frage interkultureller Verflechtungen, und nun wird es – ohne das Verdienst der vormaligen Beiträge schmälern zu wollen – erst richtig interessant. Florian Coulmas skizziert in überaus faszinierender Weise die Frage, wie japanische und europäische Zeitvorstellungen im 16. und 17. Jahrhundert in Japan aufeinander trafen. Mehr noch als in Europa war in Japan Zeit „ein zentraler Teil der Herrschaftsausübung” und die Zeitverkündung „ein Akt der sozialen Kontrolle” (S. 173f.). Dementsprechend ließ der damalige Tokugawa 1640 in Nagasaki alle Gebäude mit christlichen Jahreszahlen abreißen; auf der technischen Seite modifizierten japanische Uhrmacher die europäischen Uhren dergestalt, dass diese für die variablen, nicht auf 60 Minuten festgelegten japanischen Tagesabschnitte handhabbar wurden. Für jede geschichtswissenschaftliche Lehrveranstaltung ist dieser Aufsatz eine hochinteressante Lektüre, die nicht nur den Eurozentrismus plastisch veranschaulicht, sondern darüber hinaus uns HistorikerInnen daran erinnert, dass das europäische Zeitkonzept als eine der zentrale Kategorie der Geschichte nicht pseudo-universell zu verwenden ist, sondern kulturell, geografisch und historisch verortet werden muss.

Reinhard Zöllner richtet die Frage nach Verflechtungen zwischen europäischen und japanischen Konzepten konkret auf Engelbert Kaempfer und dessen Aussage, dass Japan eine gezielte und durchaus sinnvolle Politik zur „Landesabschließung” verfolge, da Japan keinen Handelsaustausch benötige und überdies die Fremden nur Übel und Unruhe brächten. Nicht nur in Europa wurde dieser Befund diskutiert – Voltaire und Kant stimmten Kaempfer zu, andere hielten eine derartige Abschließung für grundsätzlich verfehlt –, auch auf das japanische Selbstbild hatte er weit greifende und höchst bemerkenswerte Auswirkungen. Mit der Übersetzung von Kaempfers Abhandlung durch den japanischen Hollandwissenschaftler Shizuki Tadao 1801 fand die „Landesabschließung“ als „sakoku“ Eingang in Sprache und Geschichtsbild Japans, und bis heute wird in der japanischen Öffentlichkeit diese Periode negativ beurteilt. Seit einem Vierteljahrhundert ist die Forschung jedoch zum Schluss gekommen, dass bei einer genaueren Betrachtung der fünf „Abschließungsbefehle“ der Jahre 1633-1639 im Kontext der damaligen Situation nur von punktuellen Maßnahmen und keineswegs von einer bewussten, ideologisch abgesicherten Politik der Landesabschließung, wie sie von Japan dann im 19. Jahrhundert tatsächlich betrieben wurde, die Rede sein kann – „ein eindrucksvoller Beleg für die These [...], dass kulturelle, mithin auch nationale, Identität stets aus dem interkulturellen Dialog erwächst,“ so Zöllners Fazit (S. 207).

Wolfgang Michel beschreibt hingegen den Einfluss der in Batavia weilenden europäischen Asienkenner und der japanischen Dolmetscher auf Kaempfers Werk und stellt Kaempfers Japanbild sowie den Werdegang der posthumen Publizierung von Kaempfers Schriften vor allem durch Christian von Dohm (1751-1820) dar. Dieser – detaillierte – Beitrag fällt auf dem analytischen Niveau leider etwas ab. Michel präsentiert psychologisierende Formulierungen („sicher keimten viele Hoffnungen“, S. 212; „hochzufrieden verließ Kaempfer 1692 Nagasaki“, S. 231), und stecken gebliebene Gedanken (die „ein wenig fehl am Platz“ wirkende Nachbarschaft der tagebuchartigen Hofbeschreibungen neben sachlich ausgerichteten Kapiteln wird wiederum psychologisch begründet, S. 228f.; rätselhafte Widersprüchlichkeiten in Kaempfers Japanbild bleiben unter dem Motto „wie immer man die Texte dreht und wendet, es bleiben Disparitäten, die nachdenklich machen“, S. 233, stehen). Dementsprechend fällt Michels Urteil über Kaempfer aus: „Natürlich erreichte [...] [Kaempfer] keine Objektivität im absoluten Sinne […]. Doch gelang es ihm besser als den Autoren vor ihm, Vorurteile und andere Wahrnehmungsfilter beiseite zu legen.“ (S. 228) Trotz der Relativierung bleibt hier eine nicht weiter erläuterte „Objektivität“ der implizite Bewertungsmaßstab. Dieser Blickwinkel ist methodisch nun wirklich überholt, und wie Jürgen Osterhammel im gleichen Band zeigt, kann die Anerkennung der ohne das Subjekt nicht denkbaren Wahrnehmung durchaus mit einer bösen (Pauschal-)Kritik an dekonstruktivistischen Ansätzen, „da und dort für tief schürfende Kulturtheorie gehalten“ (S. 280) einhergehen.

Josef Kreiners Aufsatz präsentiert einen gut lesbaren Überblick über das europäische Japanbild nach Kaempfer, auch wenn mir sein Schlussurteil, dass es „Kaempfers erstes Ziel war, Europa einen Spiegel vorzuhalten und wir uns letzten Endes in Japan immer nur selbst sehen“ (S. 260) zu pauschal erscheint, denn insgesamt ist der vorliegende Band wie auch Kreiners Beitrag selbst ein Plädoyer dafür, die simple, statische (und inzwischen ziemlich altbackene) Polarisierung vom „Eigenen und Fremden“ zu differenzieren und konkret in verschiedenen Dynamiken zu verorten, wie dies von Osterhammel vorgeführt wird. Er vergleicht Kaempfer mit anderen eher nur nominell „deutschen“ kosmopolitischen Reisenden, wie Alexander von Humboldt, und greift die von Brakensiek und Hoffmann angesprochenen Fragen über den Zusammenhang von Kaempfers Persien- und Japanerfahrung auf.

Der vierte Teil des Bandes widmet sich der Wirkungsgeschichte und Rezeptionsforschung. Lothar Weiß listet die Fälle auf, in denen sich Kaempfers Name in der Nomenklatur der Zoologie nachweisen lässt. Jürgen Scheffler geht der Instrumentalisierung Kaempfers während der Nazizeit im Lemgo nach – für den politischen Schulterschluss des Dritten Reiches mit Japan ließ sich Kaempfer gut einsetzen. Der „größte Sohn“ Lemgos (S. 325) wurde zum „Beispiel und Vorbild für deutsche Menschen aller Zeiten,“ so der damalige Kaempferforscher Karl Meier (S. 326). Nach der nationalsozialistischen Vereinnahmung Kaempfers folgt mit dem Beitrag Wolfgang Thierses schließlich die heutige offizielle politische Lesart des frühneuzeitlichen Asienreisenden als eines Vorbilds für den „Dialog der Kulturen“.

Ich habe diesen Band mit viel Vergnügen gelesen. Auch wenn abstraktere methodische Überlegungen zur frühneuzeitlichen „interkulturellen“ Wahrnehmung nur von Brakensiek und Osterhammel angesprochen werden, bringt uns diese Publikation als Ganzes doch ein gutes Stück auf diesem Forschungsgebiet weiter. Vor allem die Frage nach den interkulturellen Verflechtungen, wie sie in den Beiträgen von Coulmas und Zöllner angesprochen wird, ist fruchtbar. Darüber hinaus belegt dieser Band, dass methodische Ansätze, die wie die Kulturtheorie und Orientalismusdiskussion vor allem anhand der europäischen Wissenskonzeptionen bezüglich der „Neuen Welt“ und des „Orients“ entwickelt wurden und sich mit der Einbeziehung des europäischen Japanbildes weiter differenzieren lassen. Allein der Perspektivenwechsel in eine andere Macht- und Wissenskonstellation und ein entsprechender Vergleich wie hier zwischen dem Persien- und Japanbild Kaempfers weisen neue analytische Wege. Insofern ist Engelbert Kaempfer nicht nur für Lemgo ein Glücksfall.

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