Titel
Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte


Herausgeber
Winkler, Ulrike
Reihe
Neue Kleine Bibliothek 68
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 15,24
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Fg. Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Hohenheim

Politik macht Geschichte macht Politik. In dem von Ulrike Winkler herausgegebenen Band über Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Frage ihrer Entschädigung entnimmt man fast jedem der 13 Beiträge, daß sich dessen Autor bzw. Autorin nicht nur der Bestandsaufnahme historischen Wissens verpflichtet sieht, sondern auch als engagierter Munitionslieferant in der immer noch nicht ausgestandenen Debatte um die Entschädigung ehemaliger NS- Zwangsarbeiter. Das verspricht spannende Lektüre.

Im historischen Part wird die Arbeitseinsatzverwaltung im allgemeinen und im besonderen die Person ihres mächtigsten Mannes, des "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz", Fritz Sauckel, sowie das für den Einsatz von KZ-Häftlingen zuständige Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) der SS beschrieben. Außerdem wird der Einsatz ausländischer Arbeiter in den wichtigsten Wirtschaftssektoren behandelt: Industrie, Landwirtschaft, Privathaushalte und Kommunen. An den historischen Befund schließt der zweite Teil des Buchs an, der einen breiten Bogen von den ökonomischen, juristischen und moralischen Anspruchsgrundlagen bis zur politischen Semantik der aktuellen Debatte spannt. Insofern erscheint die Zusammenstellung der Themen sehr sinnvoll; insbesondere die Berücksichtigung des normalerweise vernachlässigten Arbeitseinsatzes von Ausländern in Landwirtschaft, Privathaushalten und Kommunen ist verdienstvoll. Die Qualität der Beiträge ist allerdings sehr unterschiedlich.

Einige Beiträge sind kenntnisreich, ausgewogen, bieten einen guten Überblick und bereichern die Forschungslandschaft. Dieter G. Maier beschäftigt sich mit der Arbeitseinsatzverwaltung im Nationalsozialismus und Jan-Erik Schulte mit dem WVHA. Erstere stellte den anfordernden Einsatzträgern - also Unternehmen, Kommunen und weiteren "Bedarfsträgern" - deutsche und ausländische Zivilarbeiter sowie Kriegsgefangene zur Verfügung. Dies erfolgte auf lokaler Ebene, wohingegen das in Berlin und Oranienburg ansässige WVHA die ihm unterstehenden KZ-Häftlinge zentral zuteilte. Daß ausländische Arbeiter, die meisten von ihnen unter Zwang, eben nicht nur in der Industrie, sondern auch in anderen Wirtschaftssektoren eingesetzt wurden, unterstreichen kenntnis- und faktenreiche Beiträge von Karola Fings über Zwangsarbeit bei Kommunen und Katharina Hoffmann über Zwangsarbeit in der Landwirtschaft.

Der Beitrag von Manfred Weißbecker über Fritz Sauckel fällt dagegen qualitativ ab. Weißbecker zitiert zwar eine Reihe anschaulicher Details, doch man muß von einem Überblicksartikel erwarten können, daß die vielbeschriebene Kontroverse zwischen Sauckel und Albert Speer um die westeuropäischen Arbeitskräfte wenigstens referiert wird. Sauckel einfach als "Mann Speers" (53) zu bezeichnen, greift entschieden zu kurz. Die vielschichtigen Interessenlagen, die Sauckel anschoben bzw. bremsten, kommen in Weißbeckers eher anekdotischer Darstellung zu kurz. Auch der Darstellung von Dietrich Eichholtz über den Einsatz von Zwangsarbeitern in der Rüstungswirtschaft mag der Rezensent nicht immer zustimmen. Eichholtz ist zweifellos einer der besten Kenner der deutschen Kriegswirtschaft. Seine Darstellung ist souverän im Umgang mit den Fakten, doch seine historische Bewertung, die unbeirrt Stereotypen der DDR-Historiographie wiederkäut, ist undifferenziert und oberflächlich. So erweckt er den Eindruck, daß das "deutsche Großkapital" bereits 1939-1941 für "Massenzwangsarbeit" verantwortlich gewesen sei (11) und daß diese auch nach dem Krieg beibehalten werden sollte (11f., 20). Letzteres ist eine ebenso interessante wie offene Frage der Forschung, und ersteres ist schlicht falsch, da die ersten Zwangsarbeiter ganz überwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt wurden (Polen und französische Kriegsgefangene) und Industrieunternehmen angesichts der langen Anlernzeiten und der unvorhersehbaren Kriegsdauer auch kaum Anreize hatten, ausländische Zwangsarbeiter aus gegnerischen Ländern zu rekrutieren. Und wenn Eichholtz schreibt, daß mit "Vernichtung durch Arbeit" sowohl Ausbeutung als auch Gegnervernichtung "parallel" betrieben wurde, befindet er sich in einem offensichtlichen Widerspruch. Dazu haben beispielsweise Ulrich Herbert 1 und Jens-Christian Wagner 2 weitaus differenziertere Analysen vorgelegt.

Ähnlich einseitig ist der Beitrag der Herausgeberin, Ulrike Winkler, über Zwangsarbeit von Hausmädchen in deutschen Privathaushalten. Winkler bemüht sich, den Arbeitseinsatz überwiegend osteuropäischer Mädchen und Frauen allen Ernstes als "Beteiligung von 'ganz normalen Deutschen' am größten Raubzug menschlicher Arbeitskraft in der bisherigen Geschichte und ihrer Nutzbarmachung für den ganz privaten Bedarf" (164) zu überhöhen. Abgesehen von der perfiden Parallele zu Brownings Buch über die Beteiligung "Ganz normaler Männer" 3 am Holocaust ist das wohl weitaus zu hoch gegriffen. Vor allem ignoriert Winkler beharrlich, daß Hausarbeit in deutschen Haushalten die noch am ehesten erträgliche Variante von Zwangsarbeit für die betroffenen Mädchen und Frauen war, wie zahlreiche Erlebnisberichte belegen.4 Inwieweit ihr durchschnittlicher Arbeitsalltag wirklich "überaus hart" (158) war und durch "fehlende Empathie" (159) der deutschen Haushaltsvorstände, die angeblich "rücksichtslos" (163) über die Ausländerinnen bestimmten, gekennzeichnet war, wäre noch zu klären. Immerhin gibt es viele Berichte darüber, daß die Ausländerinnen mehr oder weniger in die Familie aufgenommen wurden. Inwieweit das Einzelfälle sind, die ein idealisierendes Bild suggerieren, vermag der Rezensent nicht zu beurteilen. Dies aber nicht an einer einzigen Stelle zu erwähnen, ist schon sehr einseitig. Viele weitere Schieflagen kennzeichnen das Bild, das Winkler vom Zwangsarbeitseinsatz der "Ostarbeiterinnen" zeichnet, so etwa, die Behauptung, daß die Industriearbeiterinnen ihre Lager nicht hätten verlassen dürfen (158) (was nur 1942 der Fall war).

Nicht alle der Beiträge im Part über die Entschädigungsdebatte haben wissenschaftlichen Anspruch und sollten daher an entsprechenden Kriterien gemessen werden. Sehr aufschlußreich über die Verhandlungen der Jahre 1999/2000 sind die Anmerkungen von Lothar Evers, Sprecher des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, der sich wie kaum ein zweiter um die Entschädigung insbesonderer derjenigen Überlebendergruppen verdient gemacht hat, die keine Lobby in den Verhandlungen hatten. Freilich gibt Evers' Bericht nur eine Seite der Verhandlungen wieder, wie auch die Anmerkungen von Ulla Jelpke und Rüdiger Lötzer, die die Genese des Stiftungsgesetzes aus Sicht der PDS beschreiben.

Der juristische Part wird von Wolf Klimpe-Auerbach übernommen, der sich mit den Entscheidungen deutscher Zivil- und Arbeitsgerichte bzw. deren übergeordneter Instanzen auseinandersetzt. Seine ebenso sachliche wie engagierte Darstellung hebt sich wohltuend von der aufgeregten Diktion einiger anderer Beiträge ab. Dazu gehört in Teilen auch der in der Sache eigentlich kompetente Beitrag von Rolf Surmann, der die (Nicht-) Entschädigung der Nachkriegszeit beschreibt. Surmann vertritt die These, daß auch heute kein Wandel in der Haltung gegenüber den NS-Opfern eingetreten sei und daß lediglich ein Wandel der äußeren Form eingetreten sei. Nicht jeder wird allen Punkten zustimmen können, doch der Kern seiner Ausführungen ist sehr bedenkenswert. Abgeschwächt läßt sich dies auch für den Beitrag der "gruppe 3 frankfurt a.m." sagen, die eine semantische Analyse der Entschädigungsdebatte vornimmt. Hier paaren sich unfaire Spitzfindigkeiten, indem Zitate aus ihrem Kontext gerissen und als vermeintlich antisemitisch gebrandmarkt werden, mit aufschlußreichen Analysen. Allerdings hinterließ der Beitrag Ratlosigkeit beim Rezensenten: Kritik an jüdischen Interessenverbänden oder an Anwälten, von denen jeder weiß, daß sie Juden sind, muß legitim bleiben. Wo hört sachlich berechtigte Kritik auf, und wo fängt antisemitischer Subtext an? Hier wird der Leser alleine gelassen.

Das wird er auch, wenn er den Beitrag von Thomas Kuczynski verstehen will, der die ökonomische Fundierung der materiellen Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter legen soll und somit als Scharnier zwischen dem historischen und dem politischen Part des Buchs fungiert. Kuczynski unternimmt den heroischen Versuch, die Ansprüche der zu entschädigenden Zwangsarbeiter quantitativ festzulegen und kommt auf eine Summe von 180 Mrd. DM. Bei allem Respekt für die Schwierigkeiten seines Unterfangens kann diese Zahl nicht überzeugen. Die methodischen Unzulänglichkeiten aufzuzählen, würde den Rahmen einer Rezension sprengen.

Kuczynskis Beitrag ist symptomatisch für das ganze Buch und illustriert den Hauptkritikpunkt, der einigen Autoren, vor allem aber der Herausgeberin angelastet werden muß. Daß Historiker mit ihren Ergebnissen zu tagespolitischen Fragen Stellung nehmen sollen, hält zumindest der Rezensent für völlig legitim. Daß Zwangsarbeit im Dritten Reich schrecklich war, weiß mittlerweile jeder, der bereit ist, sich ernsthaft mit der Problematik auseinanderzusetzen. Und daß zahlreiche Institutionen, angefangen von Großunternehmen bis hin zu Familien, auf die eine oder andere Art in das System verstrickt waren, ist spätestens nach der Lektüre des Bandes offensichtlich. Nicht offensichtlich jedoch ist, wo historische Schuld verortet werden kann und wie ihr geeigneterweise 55 Jahre später politisch Rechnung getragen werden sollte. Was sind die juristischen, ökonomischen oder ethischen Normen, die der Entschädigung zugrundeliegen sollten? Wie stehen die Ansprüche der Zwangsarbeiter im Vergleich mit denen anderer Opfer des NS-Regimes dar? Nur eine ernsthafte und ausgewogene Beantwortung dieser Fragen kann zu schlagkräftigen politischen Handlungsempfehlungen führen; nur so können die Beiträge von in der Sache kompetenten Historikern und Historikerinnen politische Durchsetzungskraft haben. Ohne eine Spezifizierung konkreter Schuld läuft die wohlfeile Forderung nach Entschädigung ins Leere. Insofern ist abschließend festzustellen, daß der Band zwar einige gute historische Beiträge bietet, aber in Hinsicht auf die Entschädigung an der Oberfläche bleibt.

Anmerkungen:
1 Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der "Weltanschauung" im Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.), Europa und der "Reichseinsatz". Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen: Klartext 1991, S. 384-426.
2 Jens-Christian Wagner, Das Außenlagersystem des KL Mittelbau-Dora, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialisitischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 2, Göttingen: Wallbaum 1998, S. 707-729; ders. Noch einmal: Arbeit und Vernichtung. Häftlingseinsatz im KL Mittelbau- Dora, in: Norbert Frei/Sybille Steinbacher/Bernd C. Wagner (Hg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit: Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik (Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz, Bd. 4), München: Saur 2000, S. 11-41.
3 Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek: Rowohlt 1996.
4 So etwa Margarethe Ruff, "Um ihre Jugend betrogen". Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg 1942-1945 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs, Bd. 13), Bregenz: Vorarlberger Autoren Ges. 1996.

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