E. Emter: Literatur und Quantentheorie

Titel
Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925-1970)


Autor(en)
Emter, Elisabeth
Reihe
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 2
Erschienen
Berlin, New York 1995: de Gruyter
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Schirrmacher, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Deutsches Museum

Literatur und Physik gelten nicht nur im Bildungssystem als Interessenantipoden akademischer Betaetigungen oder schlicht als die "Zwei Kulturen" (Snow), die nicht zu verschmelzen seien (Adorno), sondern es scheint nach landlaeufiger Meinung eine Kommunikation zwischen diesen so verschiedenen und unterschiedliche Ausdrucksformen benutzenden Kulturleistungen gar nicht gelingen zu koennen. -- Will man das Gegenteil beweisen und insbesondere die Literaturwissenschaft auf die "Inspirationsquelle Physik" aufmerksam machen, dann ist eine Rezeptionsstudie, wie sie Elisabeth Emter in ihrer Berliner Dissertation vorgelegt hat, der erste und vielleicht bereits entscheidende Schritt.

Es waere einfach gewesen, von den Synthesefiguren geistes- und naturwissenschaftlicher Intelligenz auszugehen: dem Arzt Gottfried Benn, dem Chemiker Elias Canetti, dem Ingenieur Robert Musil und anderen mehr. Die Autorin moechte jedoch den schwierigeren und lohnenswerteren Weg beschreiten, statt naturwissenschaftlicher Vorbildung von Autoren die Rezeption moderner Physik wie etwa der Quantentheorie in der zeitgenoessischen Literatur darzustellen. Ziel ist es, eine "direkte Einwirkung der modernen Physik auf das Denken der Schriftsteller" nachzuweisen und die Ansicht zu korrigieren, dass es sich hier "lediglich um Parallelerscheinungen" handele. Desweiteren soll Habermas' These widerlegt werden, dass die Erkenntnisse der Atomphysik solange folgenlos fuer die Interpretation unserer Lebenswelt blieben, solange nicht "ihre umwaelzenden 'praktischen Folgen' in das literarische Bewusstsein der Lebenswelt eindringen -- Gedichte entstehen im Anblick von Hiroshima und nicht durch die Verarbeitung von Hypothesen ueber die Umwandlung von Masse in Energie." [Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1968, S. 107.]

Der Leser wird in einem 40-seitigen Kapitel in "das neue Denken der modernen Physik" eingefuehrt und mit den Grundtatsachen der Relativitaetstheorie und Quantenmechanik bekannt gemacht, bevor die "Resonanz der literarischen Intelligenz" dargestellt wird. Das Medium, das die Schwingungen des neuen Denkens transportiert, sind Zeitungen, Zeitschriften und populaere Buecher. Emters Darstellung ueberzeugt durch die Fuelle des Materials -- die Fussnoten ihres Buches werden zur Fundgrube fuer manchen Wissenschaftshistoriker. Es macht deutlich, wie stark neues naturwissenschaftliches Denken in der oeffentlichen Diskussion insbesondere in der Weimarer Zeit vertreten und wie gross das Interesse an halbphilosophischen Erbauungsschriften ueber Naturwissenschaften nach 1945 waren.

Dadurch aber, dass Emter nur die Kommunikationslinie: Wissenschaftler -> populaere Schriften -> Rezeption interessierter Literaten verfolgt und in den ersten beiden Dritteln ihres Buches den "Aspekt der Quantitaet, d. h. die Praesentation der Menge von Belegstellen ..., in denen sich Rezeptionsspuren der modernen Physik nachweisen lassen" (S. 217) in den Vordergrund stellt, bleiben Gruende und Mechanismen der Konjunkturen oeffentlicher Weltbilddiskussionen im Hintergrund. Die umgekehrte Richtung, die sich etwa in Schroedingers leider nicht erwaehntem Aufsatz von 1932 "Ist die Naturwissenschaft milieubedingt?" zeigt, wird nur kurz thematisiert, wie auch die am Anfang erwaehnte These Paul Formans, dass die Hinwendung der Physiker zur Akausalitaet in der jungen Weimarer Republik Reflex auf ihren Autoritaetsschwund in einer von Lebensphilosophie und Spenglerismus dominierten Gesellschaft war, nach der Analyse der literarischen Verarbeitung nicht wieder aufgenommen wird; aehnlich ist sicherlich nach Hiroshima eine erkenntnistheoretisch-philosphische Wendung gerade in der Physik verstaendlich, die ein Teil der kurzzeitigen Hochkunjunktur klassischer Bildungsideale nach 1945 war.

Bei Musil, Broch, Juenger, Benn, Carl Einstein und Brecht werden Auseinandersetzungen mit der modernen Physik nachgewiesen: Musil z. B., der 1927 (nach dem Durchbruch der Akausalitaet in der Quantenmechanik von 1925) von der Literatur eine "Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild" forderte, war von der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits eine Auseinandersetzung mit dem Uebergang von der streng deterministischen Naturgesetzlichkeit zu nur noch statistisch angebbaren Gesetzen in seinem "Mann ohne Eigenschaften" nachgewiesen worden; die Autorin kann hier die Verschaerfung der Kausalitaetsfrage durch die Quantenmechanik hinzufuegen, wie sie sich in Musils Tagebuechern spiegelt. Als Mittlerinstanz duerfen bei Musil die Schriften Cassirers zur modernen Physik gelten, waehrend bei Carl Einstein eine Lektuere von Reichenbachs Schriften praegend war. Wohl deshalb hat die Autorin zunaechst die Rezeption der neuen Theorien durch Philosophen und Wissenschaftstheoretiker untersucht und dargestellt, bevor sie sich ihrem eigentlichen Thema, wie sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Literatur niederschlagen, widmet. Durch dieses Vorgehen ist eine direkte Rezeption durch die Literaten freilich nur noch bedingt erkennbar.

Eine Ausnahme von diesem zweistufigen Vermittlungsschema koennte Brecht sein, der in seinem Arbeitsjournal ausfuehrlich Werke ueber "das Weltbild der neuen Physik" (darunter vermutlich die Schrift gleichen Titles von Max Planck) reflektiert und sich "freier in dieser Welt als in der alten" fuehlte. Zentral bei den Ueberlegungen der Literaten ist also meist eine Abkehr vom kausal-mechanischen Weltbild, die allerdings nicht einseitig als Resultat der Quantentheorie gesehen werden darf, sondern einem Zusammenspiel verschiedener kultureller Entwicklungen entspringt.

Gewisse Probleme bereitet bei der Studie der Untersuchungszeitraum, der erst 1925 mit der Quantenmechanik und somit mitten in der Weimarer Republik beginnt. Sowohl die fruehere Quantentheorie und Atomphysik (Lichtquanten, Bohrsches Modell mit Quantenspruengen, Zerfall radioaktiver Atome etc.) wie auch die Grundlagenkrise in der Mathematik sind von Schriftstellern rezipiert worden (z. B. von Musil in seinen Feuilletons). Die Ausdehnung der Arbeit bis 1970 wirft Probleme hinsichtlich der vielfaeltigen nicht thematisierten politischen und gesellschaftlichen Kontexte auf. Als Fallbeispiele werden Duerrenmatts "Dramaturgie des Unwahrscheinlichen" und die "Konkrete Poesie" (Bense, Grominger, Mon, Heissenbuettel) angefuehrt, in denen jedoch im ersten Fall statt der Quantenphysik die Wahrscheinlichkeitstheorie einfliesst und im zweiten die Physik nicht mehr ihrem eigentlichen Inhalt nach, sondern lediglich als Assoziationsmittel rezipiert wird. Habermas' These werden jedoch eine grosse Anzahl von Gegenbeispielen gegenuebergestellt, die zeigen, dass nicht erst die technischen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse die Literaten beeindruckt, sondern es bereits die Konzepte, Begriffe und die daraus abgeleiteten Weltbilder sind.

Die Autorin beschraenkt sich auf eine Richtung des Rezeptionsflusses zwischen zwei Faechern. Wollte man die Entwicklung der Physik ebenso wie die der Literatur aber auch von Kunst, Musik, Theater, Psychologie etc. als gegenseitig sich beeinflussende, z. T. phasenverschobene Entfaltungen einer Moderne verstehen, die etwa durch Subjektivitaet, Abstraktion und Pluralitaet ebenso wie Lebensphilosophie, Biologismus und technischen Fortschritt gekennzeichnet ist, so waere dies ein anderes Buch geworden.

Elisabeth Emter hat in ihrem detailreichen, aufwendig recherchierten und gutinformiertem Buch reichhaltiges Material praesentiert, an dem sich Rezeptionslinien, aber auch Mechanismen kulturellen Ideenaustausches zwischen Disziplinen und (Sub-)Kulturen aufzeigen lassen. Eine uebersichtliche Gliederung und ein sorgfaeltig erstelltes Namenregister machen es zu einer wertvollen Informationsquelle weit ueber literaturwissenschaftliche Fragestellungen hinaus.

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