P. Bräutigam: Mittelständische Unternehmer im Nationalsozialismus

Titel
Mittelständische Unternehmer im Nationalsozialismus. Wirtschaftliche Entwicklungen und soziale Verhaltensweisen in der Schuh- und Lederindustrie Badens und Wuerttembergs


Autor(en)
Bräutigam, Petra
Reihe
Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Suedwestdeutschland 6
Erschienen
Muenchen 1997: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
449 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael C. Schneider, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Die Lederindustrie und die auf diesen Rohstoff angewiesene Schuhindustrie befanden sich seit Machtantritt der Nationalsozialisten in einer besonders prekaeren Lage: Wegen des Devisenmangels wurde die zu weiten Teilen auf auslaendischen Rohstoffbezug angewiesene Lederindustrie von den hier schon im Fruehjahr 1934 ergriffenen Kontingentierungsmassnahmen schwer getroffen; die Schuhproduktion verlor ausserdem wichtige Auslandsmaerkte. Die Untersuchung von Petra Braeutigam, hervorgegangen aus einer Tuebinger Dissertation von 1995, widmet sich sowohl der Entwicklung der wirtschaftlichen Lage beider Branchen im Nationalsozialismus, als auch den verschiedenartigen Reaktionen ihrer Unternehmer auf die nationalsozialistische Autarkie- und Ruestungspolitik.

Das Thema ist aus zwei Gruenden sinnvoll gewaehlt: Zum einen ist die Entwicklung der Konsumgueterindustrie in den Jahren des Dritten Reiches noch zuwenig beleuchtet; zum anderen liegen auch Strategie und Verhaltensweisen der Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen in diesem Zeitraum noch weitgehend im Dunkeln. Als Quellengrundlage dienen im wesentlichen Unternehmensakten sowie die Ueberlieferung jener Behoerden, die in den verschiedenen Phasen des NS-Regimes fuer die Leder- und Schuhindustrie zustaendig waren.

Der Mittelstandsbegriff, der der Verfasserin zur Benennung des Untersuchungsgegenstandes dient, scheint jedoch nur bedingt geeignet, auch ausgepraegte Grossunternehmen wie Salamander (1930 nahezu 5.000 Mitarbeiter) und Freudenberg (in den zwanziger Jahren ueber 3.000 Mitarbeiter) unter diesen Begriff zu fassen, zumal die de facto mittelstandsfeindliche Politik, deren Konsequenzen die Autorin am Beispiel kleinerer Firmen auch zutreffend schildert, ja gerade Unternehmen groesseren Zuschnitts und rationeller Produktionsweise beguenstigte.

Die Schilderung wirtschaftlicher wie politischer Handlungen etwa des Lederfabrikanten Richard Freudenberg macht deutlich, dass auch ein Nutzniesser der nationalsozialistischen Aufruestungspolitik durchaus widerspruechliche Facetten aufweisen konnte: In den Jahren der Weimarer Republik Abgeordneter der DDP im Badischen Landtag, uebernahm er bereits 1934 aus juedischem Besitz die Aktien der Schuhfirma Tack (wobei Braeutigam die noch relativ fairen Bedingungen dieser Transaktion betont); auf fruehe Diversifikation in die Leder-Ersatzstoffproduktion aufbauend, erweiterte Freudenberg diesen Produktionsbereich seines Unternehmens, was sich in starken Umsatzsteigerungen dieser Sparte waehrend des Krieges niederschlug; andererseits geriet Freudenberg mehrfach in Konflikt mit der Gestapo, nachdem er wegen regimefeindlicher Aeusserungen denunziert worden war, blieb aber, wohl auch wegen seiner kriegswichtigen Produktion, letztlich unbehelligt. Dass alle diese Aspekte aufeinander bezogen sind und ihre Einheit in der Person Freudenbergs finden, wird in der Darstellung leider nicht unmittelbar evident. Da zwischen diesen einzelnen Aspekten jeweils umfangreiche, thematisch anders gelagerte Textpassagen liegen, muss die Rekonstruktion dieser und anderer Unternehmerpersoenlichkeiten wie auch namentlich der oekonomischen Randbedingungen ihres Handelns im Kopf des Lesers stattfinden. Freilich ist dieser Einwand nicht zu schwerwiegend, gibt es doch bisher keine Studien, die die herausfordernde Aufgabe, auf der exemplarischen Basis einiger Firmen eine Branchengeschichte in der an Komplexitaet gewiss nicht armen NS-Zeit zu schildern, methodisch und darstellerisch gleichermassen ueberzeugend geloest haetten.

Interessant sind die unterschiedlichen Reaktionen der Unternehmer auf die Weltwirtschaftskrise, von der verschiedene Firmen in unterschiedlichem Ausmass betroffen wurden, und die offensichtlich unterschiedliche Strategien zu ihrer Bewaeltigung entwickelten. Auf der Ebene des jeweiligen Unternehmens macht die Autorin mit detailfreudiger Akribie Ursachen fuer Behauptung oder Niedergang waehrend der Krise aus; fuer die Erklaerung durchaus widerspruechlicher Befunde (bei Freudenberg wirkt sich der Einbruch des Exportes schaedlich aus (S. 57), nicht jedoch bei der ebenfalls aussenhandelsorientierten Firma Schweizer (S. 53f.)) waere ein systematisch angelegter Vergleich sinnvoll gewesen, der zu einer praeziseren Benennung von krisenverschaerfenden oder -mildernden Ursachen und den entsprechenden Management-Strategien haette fuehren koennen. So bleiben die Ergebnisse der Ursachenforschung bisweilen sogar offen unvereinbar, beispielsweise wenn die Autorin die Krise in der Schuhindustrie in den Jahren nach 1927 "auf das scharfe Anziehen der Lederpreise" zurueckfuehrt (S. 35), waehrend sie wenige Seiten zuvor noch einen "Preisverfall fuer Leder waehrend der Weltwirtschaftskrise" (S. 30) konstatiert hatte. Es sind solche Stellen, bei denen es sich stoerend bemerkbar macht, dass die Verfasserin auf eine Wiedergabe der Zahlenreihen, auf die sie sich im Text und in den Diagrammen stuetzt, weitgehend verzichtet - dies erschwert die Ueberpruefung ihrer Argumente sehr.

Plastisch sind hingegen die Auswirkungen der Rohstoffkontingentierung auf die sich deutlich verschlechternde Qualitaet der in den dreissiger Jahren in Deutschland erhaeltlichen Lederwaren geschildert, die neben dem Mangel des natuerlichen Rohstoffes auf die Verwendung von noch unausgereiften Kunst- und Ersatzstoffen zurueckzufuehren war. Auch die fuer den einzelnen Unternehmer de facto nicht mehr ueberschaubare Regelungsflut, die eine rationale Kalkulation zunehmend beeintraechtigte, wird eindrucksvoll geschildert. Wie die zahlreichen Verfahren vor dem Reichswirtschaftsgericht, wohin dann die Missachtung solcher Regelungen fuehren konnte, zeigen, wertete das Regime solche Unuebersichtlichkeit jedoch nur selten als Entlastungsgrund.

Einen zu Recht hohen Stellenwert nimmt die Frage nach der Verstrickung nicht- juedischer Unternehmen in die "Arisierung" dieser Branche ein, die Frage nach den Motiven, die nicht-juedische Unternehmer die Zwangslage ihrer juedischen Kollegen ausnutzen liessen, sowie nach den Resultaten der "Arisierungen". Plausibel arbeitet die Autorin heraus, dass das Risiko einer "juedischen" Firma, von den nationalsozialistischen Boykotten des Jahres 1933 erfasst zu werden, mit der "Kundennaehe" des Unternehmens rapide zunahm: Waehrend Firmen wie Salamander oder Tack, die ueber ein dichtes Netz von Verkaufsfilialen verfuegten, intensiv boykottiert wurden, was auch zur "Arisierung" der Eigentumsverhaeltnisse beitrug, wurden juedische Lederhersteller, die nicht in direktem Kontakt zu den Endverbrauchern standen, kaum von antisemitisch motivierten Uebergriffen behelligt. Erneut wird deutlich, dass das Interesse an einer Anhebung der eigenen Rohstoffkontingente ein entscheidendes Movens fuer "Arisierungs"-Bestrebungen nicht-juedischer Unternehmer war, auch wenn sich die hierauf gerichteten Erwartungen bisweilen zerschlugen (S. 328f.). Interessant ist die Beobachtung, dass eine Reihe von "Arisierungen" in die Herausbildung vertikal integrierter Konzerne muendete (S. 332); die Frage, ob hier vielleicht ein laengerfristiger, die Dauer des Regimes uebergreifender und durch die NS-Judenpolitik verschaerfter Trend niederschlug, wird indes nicht gestellt.

So bleibt ein insgesamt ambivalenter Eindruck zurueck: Die Autorin foerdert auf der Basis gruendlicher Quellenrecherchen eine Reihe von durchweg interessanten Einzelbefunden zutage, schreckt aber zu rasch davor zurueck, diese mit weiterreichenden Fragen interpretatorisch zu verknuepfen.

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