M. Ströhmer, Von Hexen, Ratsherren und Juristen

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Titel
Von Hexen, Ratsherren und Juristen. Die Rezeption der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. in den frühen Hexenprozessen der Hansestadt Lemgo 1583-1621


Autor(en)
Ströhmer, Michael
Reihe
Studien und Quellen zur Westfälischen Geschichte 43
Erschienen
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolas Rügge, Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück

Die neuere, sozial- und mentalitätsgeschichtlich orientierte Hexenforschung grenzt sich gern von der „älteren“, theologie- und rechtshistorisch geprägten Richtung ab. Dabei wird leicht übersehen, dass es durchaus jüngere rechtsgeschichtliche Arbeiten gibt, die zum gegenseitigen Austausch über die Fakultätsgrenzen hinweg einladen sollten. Anregende Forschungen dürften nicht zuletzt auf dem Feld der gesetzlichen und prozessualen Grundlagen der Hexenverfolgung zu entdecken sein. So gilt die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V., die seit 1532 die Strafprozesse im Alten Reich regelnde „Carolina“, jüngeren Rechtshistorikern eher als Hindernis lokalen Verfolgungseifers, während namhafte Vertreter der sozialgeschichtlichen Richtung stärker ihre weite Auslegungsfähigkeit gegen die Interessen der Angeklagten betonen. Diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt von Michael Ströhmers Dissertation, die sich primär als rechtsgeschichtliche Arbeit versteht, sozialhistorische Fragen und Methoden aber einbezieht. Dem Autor, obwohl ebenso wenig Jurist wie sein Paderborner Doktorvater Frank Göttmann, ist eine rundum überzeugende Synthese gelungen.

Beide Deutungen der reichsrechtlichen Grundlagen können sich auf zeitgenössische Gewährsleute berufen. Vor allem das Reichskammergericht vertrat neueren Forschungen zufolge eine enge, „skeptizistische“ Auslegung der Carolina und knüpfte die Anwendung der Folter an strenge Voraussetzungen. Dem stand eine konkurrierende Lehrmeinung gegenüber, nach der schon die Gemeinschaft mit anderen Verdächtigen ein hinreichendes Verdachtsmoment darstellte und bloße Besagungen die Anwendung der Folter ermöglichten. Die „orthodoxe“ Hexenlehre hielt das Zaubereidelikt sogar für ein „crimen exceptum“, das die Strafverfolger der Bindung an das ordentliche Verfahren enthob: Stattdessen sollte ein „summarischer“ Kurzprozess ausreichen, der zwar einige Grundregeln beachtete, um der Gefahr der Nichtigerklärung zu begegnen, den Angeklagten aber nur äußerst eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeiten zubilligte.

In einer „Makroanalyse“ untersucht der Autor zunächst die Entstehung des Reichsgesetzes bis 1532, den idealtypischen Prozessgang und die rechtswissenschaftliche Diskussion gegen Ende des Jahrhunderts. Betont wird die skeptische Haltung Johanns von Schwarzenberg gegenüber den spekulativen Hexenlehren seiner Zeit, was den carolinischen Zaubereiprozessnormen eine „relative Modernität“ verschafft habe (S. 79). Diese wird insbesondere in der Tendenz zur Angleichung straf- und zivilrechtlicher Prozessmaximen gesehen, die den Einfluss der Parteien, also auch der Angeklagten und ihrer Verteidiger, auf das Verhandlungsgeschehen stärkte. Einer Weiterentwicklung in diesem Sinne trat jedoch die „orthodoxe“ Richtung entgegen, als deren Vertreter hier exemplarisch der Rintelner Professor Hermann Goehausen seinem Rostocker Kontrahenten Johann Georg Go(e)delmann gegenübergestellt wird.

Anschließend wendet sich der Autor der „Mikroanalyse“ zu: der Rezeption und Umsetzung der Carolina in den Hexenprozessen der Stadt Lemgo zwischen 1583 und 1621. Besondere Aufmerksamkeit gilt drei Entwicklungen, denen Einfluss auf das allmähliche Ende der Prozesswellen zugeschrieben wird: der Professionalisierung des örtlichen Justizpersonals, der Verwissenschaftlichung der Rechtsprechung sowie der fürstenstaatlichen Herrschaftsverdichtung. Die bislang eher für die exzessiven Verfolgungen im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts bekannte Stadt Lemgo eignet sich als lokales Fallbeispiel: Die lokale Obrigkeit beanspruchte, obwohl nicht reichsunmittelbar, die Halsgerichtsbarkeit und übte sie nach der Carolina auch aus, wobei sie erheblichem Unterordnungs- und Eingliederungsdruck des Grafen zur Lippe ausgesetzt war. Die gut erforschten, von besonders heftigen politischen und konfessionellen Auseinandersetzungen geprägten Jahre 1605 bis 1617 1 treten in der Verfolgung nicht hervor; im Gegenteil scheint der Rat in dieser Krisenzeit seine Kräfte auf die „Außenpolitik“ gegenüber dem Landesherrn konzentriert zu haben (S. 114).

Am Prozessgeschehen war eine Vielzahl von Ämtern und Personen mehr oder weniger aktiv beteiligt, die Hauptverantwortung trugen die regierenden Bürgermeister. Die prosopografische Analyse zeigt, dass die intensivsten Verfolgungen einer älteren, nur rudimentär juristisch gebildeten Bürgermeistergeneration zuzuschreiben sind, während die jünger ins Amt gelangenden Volljuristen deutlich weniger Hexenprozesse führten. Die nur „semiprofessionelle Ratsspitze“ (S. 129) stützte sich aber stärker als ihre besser ausgebildeten Nachfolger auf auswärtige Gutachten, denen insgesamt ein mäßigender Einfluss auf die Strafpraxis zukam. Zwar fällt schon in den frühen 1580er-Jahren eine „stark dämonologisch geprägte Interpretation von Zaubereidelikten“ auf (S. 165), bis zur Jahrhundertwende spiegelt sich die Hexenlehre auch vermehrt in den Zeugenaussagen einfacher Bürger wider. Vor dem häretischen Aspekt galt aber der Schadenzauber als todeswürdiges Verbrechen (und wurde daher seltener gestanden), so dass die Prozessausgänge sehr unterschiedlich ausfielen: Neben Todesurteilen, Landesverweisungen und Freisprüchen sind auch Einstellungen des Verfahrens nachweisbar. Mit ihrer dem orthodoxen Standpunkt verpflichteten Sicht, die schon der „beklafften“ Teilnahme am Hexentanz großen Beweiswert zumaß, konnten sich die Lemgoer Hexenverfolger nicht immer durchsetzen. Nach einer umfangreichen Besagung, die auch Angehörige der städtischen Oberschicht betraf, sahen sie sich 1601 sogar einem „Generalangriff“ eines Prokurators ausgesetzt, der mit Hilfe der Rechtsfakultäten von Marburg und Heidelberg die Ausweisung der Verleumderin durchsetzte und damit eine drohende Prozesswelle verhinderte. Bei sozial niedrigerem Status sank die Bereitschaft, durch eine Injurienklage die bedrohte Ehre rehabilitieren zu lassen, obwohl sich der Rat in diesen Verfahren auffällig zurückhielt und um einen gütlichen Ausgleich zwischen den Parteien bemüht war.

Insgesamt boten die zurückhaltenden bzw. ungenauen Formulierungen der Carolina eher „wichtige Angriffsflächen“ für die Verteidigung als ein „Einfallstor für die Hexenlehre“ (S. 183). Dass die Gegenargumente aber häufig nicht zum Zuge kamen, ist weniger der materiell- als der prozessrechtlichen Seite des Verfahrens zuzuschreiben. Bürgermeister und Rat wachten „intensiver über die Respektierung ihrer altehrwürdigen Verfahrensherrschaft, deren Symbolgehalt die politische Autonomie der Stadt unterstrich, als über die Einhaltung der reichsrechtlichen Kautelen für den Zaubereiprozess“ (S. 185). Besagungen führten häufig zur unmittelbaren Verhaftung und Folterung der Verdächtigten; in einem Fall von 1588 lagen nicht einmal drei Wochen zwischen dem Beginn der Voruntersuchung und der Hinrichtung der Delinquentin. Den Angehörigen der Unterschicht wurde das in der Carolina vorgesehene Armenrecht vorenthalten, so dass sich nur besser gestellte Angeschuldigte eine halbwegs wirksame Verteidigung leisten konnten. Im Jahr 1603 lehnte der Rat eine Übernahme der einseitig vom Landesherrn dekretierten Peinlichen Prozessordnung ab, die für unvermögende Beschuldigte die Beiordnung eines rechtsgelehrten Pflichtverteidigers vorschrieb; im selben Jahr wurde in Lemgo die umstrittene Wasserprobe wieder eingeführt. Seit dieser Zeit sind auffällige Überschreitungen der bisher beachteten Anzahl, Dauer und Härte der Folterungen feststellbar. Gutachten auswärtiger Fakultäten, die bislang eher mäßigend wirkten, wurden von den Volljuristen der mittleren und jüngeren Bürgermeistergeneration kaum mehr eingeholt.

Bezogen auf die Ausgangshypothesen, kommt der Autor schließlich zu einem eher skeptischen Ergebnis. Die Professionalisierung des Personals an den örtlichen Strafgerichten trug allenfalls zu einem vorübergehenden Rückgang des Prozessaufkommens bei, die durchgeführten Verfahren waren aber stärker von Rechtsbeugungen zu Ungunsten der Angeklagten sowie von persönlichen und machtpolitischen Interessen bestimmt als zuvor. Auch die Verwissenschaftlichung der Rechtsprechung konnte nicht zum Rückgang der Hexenverfolgung beitragen, weil die Lemgoer Obrigkeit in ihrem „selektiven Zugriff“ auf die Carolina (S. 245) Rechte der Angeklagten bzw. Verteidiger missachtete, ohne dass ihnen die auswärtigen Gutachter diese Verfahrensverstöße vorgehalten und den weiteren Prozessgang kontrolliert hätten. Eine solche Aufsicht nahm auch der Landesherr nicht wahr: Von der fürstenstaatlichen Herrschaftsverdichtung blieb Lemgo eben weitgehend ausgenommen, weshalb hier die weniger einseitige, aber auch mit Defiziten behaftete Verfahrensführung der gräflichen Justiz nicht zum Tragen kam. Ein ausführlicher Katalog der etwa 30 untersuchten Prozesse beschließt den mustergültig klar aufgebauten Band. Hin und wieder hätte man sich eine systematischere Reflexion der „Richtungskriterien“ gewünscht (Modernität, Professionalisierung, Rationalisierung), deren normative Problematik dem Autor durchaus bewusst ist. Ansonsten ist ihm eine wegweisende Verbindung von rechts- und sozialhistorischer Analyse gelungen, die hoffentlich weitere Studien dieser Art anregen wird.

Anmerkung:
1 Schilling, Heinz, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, Gütersloh 1981.

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