Titel
1848/49. Europa im Umbruch


Autor(en)
Botzenhart, Manfred
Erschienen
Paderborn 1998: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
285 S. m. 4 Ktn.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kirsch, Uni Landau

Christof Dipper und Ulrich Speck haben das spannende Experiment unternommen, zum Jubiläumsjahr der 1848er Revolution nicht eine Monographie zu schreiben, sondern einen in fünf große thematische Abschnitte unterteilten Sammelband herauszugeben, um in dieser Weise die Komplexität der Revolution von 1848 in ihren unterschiedlichsten Facetten darstellen zu können. Und man kann nur sagen: Das Experiment ist ihnen und den anderen 24 Mitarbeitern gut gelungen.

Am Beginn des Bandes stehen - ganz im kulturhistorischen Trend der Zeit - die "Revolutionsbilder", die der Erinnerung an die Revolution von 1848/49 in "Nachmärz und Kaiserzeit" (M. Hettling), "Weimar und NS-Zeit" (M. Vogt) und schließlich in der "Bundesrepublik Deutschland und DDR" (E. Wolfrum) nachgehen. Hettling spricht für die liberale und sozialdemokratische Tradition in Anlehnung an Jacob Burckhardt von einer "Verhüllung der Erinnerung", da beide Seiten ihnen unliebsame Elemente aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängten. Während die Erinnerung an 1848 in der Weimarer Zeit eher "verblaßte" (S. 28), kam es nach 1945 zu einer interpretatorischen Teilung der Revolution: hier die Traditionen von der Paulskirche nach Bonn, dort die Aneignung des Erbes des Kommunistischen Manifests durch die DDR.

Der zweite Teil ist den regionalen und lokalen Brennpunkten des revolutionären Geschehens gewidmet: Baden (P. Nolte), Sachsen (H.-J. Rupieper), Berlin (R. Hachtmann), Wien (W. Häusler), Köln (J. Herres) und schließlich noch Frankfurt und die Rhein-Main-Region (M. Wettengel). Alle sechs Beiträge liefern eine gelungene, überblicksartige Analyse über die politischen und sozialen, teilweise auch religiösen Bedingungen des Revolutionsgeschehens. Leider verzichten aber bis auf Nolte und Häusler alle anderen Beiträge auf die Darstellung der langfristigen Wirkungsgeschichte der Revolution.

Der dritte Abschnitt steht unter der Überschrift "Räume der Revolution" und wird von einem exzellenten Aufsatz von M. Gailus zur "Straße" eingeleitet. Diese eher alltagsgeschichtlich angelegte Analyse verknüpft in geschickter Weise Fragen der "kleinen" und "großen" Politik mit sozioökonomischen Problemlagen in Stadt und Land sowie mit kulturellen Verhaltensmustern und bleibt dabei nicht auf einen kleinen Raum fixiert, sondern liefert gleichzeitig einen Überblick zur "Strassenpolitik" in großen Teilen Deutschlands. Anschließend untersucht K.H. Wegert das bürgerliche Café und das ländliche bzw. kleinbürgerliche Wirtshaus überzeugend unter einer stark kulturgeschichtlichen Perspektive. Der neuen Blickrichtung von "unten" ist auch T. Mergel in seinem erhellenden Beitrag über das "Rathaus" verpflichtet. Kritisch ist an dieser Stelle aber einzuwenden, daß bei aller Neuheit des Ansatzes doch nicht der - sicherlich recht traditionelle - Blick auf Wahlen und Parteien verloren gehen sollte. Schließlich hätte sich gerade für dieses lokale Zentrum der Politik eine Einbeziehung der Wirkungsgeschichte der Revolution gelohnt. Danach führt uns U. Speck dankbarerweise in die Alltagswelt der Paulskirche. Interessant wäre hier aber gerade auch die Einbeziehung anderer Parlamente gewesen, um diesen Raum der Revolution nicht nur auf der nationalen Ebene analysieren zu können. Warum bei einer Untersuchung des parlamentarischen Alltags die soziale Herkunft der Abgeordnete nicht berücksichtigt wird, ist schwer nachzuvollziehen, stehen doch seit den grundlegenden Studien von H. Best derartige Informationen leicht zur Verfügung.1 Gut hätte in diesen Abschnitt zudem ein Beitrag über den "Verein" gepaßt.

Der vierte große Themenblock beschäftigt sich mit der Gesellschaft und der Revolution, mit ihren Akteuren und Zuschauern in Adel (H. Reif), Bürgertum (F. Lenger), städtischen Unterschichten (H. Zwahr), bei den Bauern und in den ländlichen Unterschichten (K. Ries), bei den Frauen (S. Kienitz) und Juden (A. Herzig). Es handelt sich bei allen Beiträgen - die einzige Ausnahme bildet hier nur die Darstellung von Kienitz - um sehr gut gelungene Synthesen, die es dabei aber nicht versäumen, die politische, soziale und regionale Ausdifferenzierung der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen herauszuarbeiten. So erfährt man hier, daß der Adel gestärkt, homogener und politisch bewußter aus der Zeit von 1848/49 hervorging (S. 234), womit sich Reif deutlich von Wehlers Interpretation der Revolution als eines markanten Punktes in der Geschichte des Niedergangs des Adels absetzt.2 Während Lenger dem Leser im Hinblick auf die Wirkungen der Revolution, also z.B. in ihrer Bedeutung für das politische Selbstverständnis des Bürgertums, bedauerlicherweise keine weitere Mitteilung macht, arbeiten Zwahr, Ries und Herzig die Folgen dankenswerterweise deutlich heraus. Bedauerlich ist, daß sich Kienitz bei ihrem wichtigen, geschlechtsspezifischen Zugriff zur Revolution von 1848 allein auf die Bedingungen in Südwestdeutschland konzentriert und zudem Frauen aus nichtbürgerlichen Schichten keine Berücksichtigung finden. In diesem insgesamt sehr gelungenen Abschnitt zur Gesellschaft vermißt man jedoch die Analysen zu den beiden großen Kirchen.3

Der letzte und fünfte große thematische Block des Bandes ist der Politik in der Revolution gewidmet, die als eine "Herrschaft in Bewegung" charakterisiert wird. Am Anfang steht die sehr gekonnte Übersicht zur "Kommunikationsrevolution" von W. Siemann. Danach folgt eine gelungene und abgewogene Analyse J. Breuillys zu Nationalbewegung und Revolution, die einerseits versucht aus der Sicht der Zeitgenossen zu urteilen, andererseits aber gleichzeitig unser heutiges Verständnis von Nation reflektiert. U. Frevert gibt sodann einen guten Überblick zur Frage der Nation und militärischer Gewalt von der Volksbewaffnung bis zu Feindbildwahrnehmung; sie verzichtet aber leider auf die Einbeziehung der Folgen von 1848/49, was zumindest im Hinblick auf den preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt nahegelegen hätte. Die Verfassung der Paulskirche analysiert J.-D. Kühne, der aus der Sicht eines Juristen nicht nur das zeitgenössische Staatsdenken in seiner Wirkung auf den Text, sondern auch die Wirkungsgeschichte der Konstitution bis weit in unser Jahrhundert hinein eindrucksvoll herausarbeitet. Daß die Frankfurter Reichsverfassung, wie Kühne meint, sozialstaatlich bewußter ausgestattet war als ihre westlichen Vorläufer (S. 359), darf stark bezweifelt werden, denn bereits Art. 21 der Menschenrechtserklärung der jakobinischen Verfassung von 1793 und auch Art. 13 der französischen Verfassung von 1848 sahen eine Unterstützung für Hilfsbedürftige vor. Einen sehr guten Überblick gibt auch H.-W. Hahn zur sozioökonomischen Ordnung, der zudem die regionalen und sozialen Differenzen im Bürgertum zu Freihandel/Schutzzoll und Gewerbefreiheit herausarbeitet. Am Schluß des Abschnitts steht der spannende Beitrag von L. Raphael zum Charakter der Herrschaft und 1848, der die Erfolge und Widerstände nicht nur im Bezug auf die "großen" Fragen von Verfassung und Nation, sondern auch im Hinblick auf Verwaltungsordnung, Unabhängigkeit der Justiz oder kommunaler Autonomie nachzeichnet.

Den Band beschließt ein Epilog, in welchem C. Dipper, dem Zerfall und Scheitern, dem Ende der Revolution nachgeht. Hierbei verweist er nicht nur auf die "Zonen der Stille" in Deutschland und die passiven Zuschauer, sondern betont das Auseinanderfallen der Revolution in "zwei Welten", so daß sich das nationale Projekt der Paulskirche und die kleine Lebenswelt im lokalen Bereich unverstanden gegenüber standen. Die Frage nach Erfolg oder Scheitern der Revolution von 1848 in Deutschland versucht Dipper durch eine salomonisch anmutende Formulierung zu beantworten: Die Niederlage der Revolution sei zwar unvermeidlich, aber nicht vergeblich gewesen, denn nach 1849 hätten grundlegend andere politische Bedingungen geherrscht (S. 419). Einen anderen Weg, nämlich den einer Differenzierung nach sozialen Gruppen, beschreitet K. Ries, der in Anschluß an P. Nolte zwar nicht ausschließen will, daß es sich hierbei um die "letzte Revolution der Frühen Neuzeit" gehandelt habe, für die Bauern aber von einem großen Erfolg spricht, während die ländlichen Unterschichten klar zu den Verlierern von 1848/49 gehörten (S. 270). Noch pointierter gegen die These von der "gescheiterten Revolution" wendet sich W. Siemann, der lieber von der noch nicht abgeschlossenen Revolution sprechen möchte (S. 313). Spannend wäre es in dieser Hinsicht, einmal andere Revolutionen des 19. Jahrhunderts auf die Frage nach Erfolg und Scheitern vergleichend zu untersuchen, denn bereits ein oberflächlicher Blick auf die französische Entwicklung zeigt, daß sowohl das liberal-konstitutionelle Revolutionsprojekt von 1789/91, als auch das jakobinische Experiment 1792-94 scheiterten. Und erfüllten sich nicht auch die Forderungen der Revolutionäre von 1830, 1848 und 1870 wenn überhaupt, dann doch nur zeitweise? Gleichwohl sind die "Revolutionsbilder" in Frankreich ungleich positiver besetzt als in Deutschland, womit wir wieder am Anfang des hier anzuzeigenden Sammelbandes angelangt wären.

Wer dagegen heimlich gehofft hatte, er würde durch das Werk en passant auch einen Zugang zu den europäischen Verbindungen und Ereignissen erhalten, sieht sich, von wenigen kurzen Hinweisen abgesehen, getäuscht und greift statt dessen vielleicht zum zweiten hier vorzustellenden Werk von Manfred Botzenhart mit dem verheißungsvollen Titel: "1848/49: Europa im Umbruch". Eine erste Ernüchterung erfährt der Leser im Vorwort, denn hier heißt es nun, daß die Vorgänge in Deutschland und in der Habsburger Monarchie im Vordergrund stehen (S. 11). In der Konsequenz bedeutet dies, daß das Wörtchen "Europa" im Titel nur als Chiffre für die Berücksichtigung des "europäischen Hintergrundes" zu verstehen ist. Dementsprechend sind auch nur 2 von 11 Kapiteln bzw. ca. 50 von 240 Textseiten den europäischen Rahmenbedingungen gewidmet.

Die Monographie ist chronologisch aufgebaut - sie beginnt mit einem Rückblick auf beinahe alle Staaten Europas (mit Ausnahme des Osmanischen Reiches) in der Zeit zwischen Restauration und Revolution, dem sich ein Überblick auf Deutschland im Vormärz anschließt. Sie zeichnet sodann die einzelnen Phasen der Revolution in Deutschland und der Habsburger Monarchie von der Märzbewegung über die "Septemberkrise" bis zur Liquidierung der Revolution in den einzelnen Staaten Deutschlands nach, wobei die Arbeit der deutschen Nationalversammlung (4. und 9. Kapitel) eine besondere Aufmerksamkeit erfährt, ohne daß jedoch ein Abschnitt über die Selbstorganisation der neuen Gesellschaft fehlt (8. Kapt.). Am Ende des Bandes steht vor dem Epilog noch ein Kapitel zur Niederlage der Revolution in Mitteleuropa, das neben der Habsburgermonarchie und Deutschland den Blick auf die Entwicklungen in Italien und Frankreich lenkt. Der Schwerpunkt der Monographie liegt also in der Politik- und Verfassungsgeschichte.

Für Botzenhart ist die Revolution von 1848/49 ganz deutlich "gescheitert" (S. 252), wobei sein Maßstab hierbei nicht die Situation vor der Revolution ist, sondern die Erwartungshaltung der Revolutionäre im Frühjahr 1848. Sein Fazit lautet, daß "auch eine gescheiterte Revolution ... den Aufbruch in eine neue Zeit markieren" könne (S. 255), denn sie blieb in der Folgezeit nicht ohne erhebliche Auswirkungen. Neben der Vielfältigkeit der Ursachen für das Mißlingen der Revolution im innenpolitischen Bereich betont Botzenhart gerade auch den außenpolitischen Aspekt, da letztlich die großen Entscheidungen des Revolutionsjahres nicht in den Parlamenten, sondern auf diplomatischer Ebene getroffen wurden.

Die Monographie verschafft ein guten Überblick über die Entwicklung der Revolution in Deutschland und der Habsburger Monarchie. Eine besondere Stärke des Buches liegt darin, daß hierbei nicht nur die cisleithanische, sondern auch die gesamte transleithanische Reichshälfte Berücksichtigung findet, so daß das komplizierte Wechselspiel zwischen Wien, Prag, Mailand und Budapest dem Leser veranschaulicht wird. Interessant ist auch zu sehen, wie sich im Verlaufe der Darstellung Botzenharts "Deutschland"-Begriff wandelt, denn bis 1848 wird hierunter (zumindest implizit durch die Kapitelgestaltung) auch die habsburgische Herrschaft subsumiert, während ab der Revolutionszeit beide getrennt behandelt werden.

Kritisch ist anzumerken, daß der Titel des Bandes zwar eine europäische Geschichte verspricht, diesen Anspruch aber kaum erfüllt. Das gilt nicht nur für den geringen entsprechenden Seitenumfang innerhalb des Buches, sondern auch für die Art und Weise der Darstellung, denn Botzenhart reduziert die Geschichte Europas faktisch auf die Präsentation einzelner Nationalgeschichten und verzichtet beinahe vollkommen auf das Herausarbeiten nationalstaatsübergreifender Ähnlichkeiten und Unterschiede. Wer sich also vornehmlich für den europäischen Aspekt der Revolution(en) von 1848 interessiert, greift besser zu Jonathan Sperbers Analyse (ein Werk im übrigen, das sich leider auch nicht in Botzenharts Literaturliste findet).4 Dabei hätte gerade für einen ausgewiesenen Verfassungshistoriker wie Botzenhart im europäischen Zugriff eine große Chance gelegen, denn eine vergleichende Analyse der Verfassungen Europas um 1848 in Text und Anwendung sowie unter Berücksichtigung der jeweiligen transnationalen Rezeptionsgeschichte ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung.5

Anmerkungen:
1 Heinrich Best: Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich, Düsseldorf 1990; ders. / Wilhelm Weege: Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1996.
2 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 167.
3 Vgl. hierzu aber: Wolfgang Hardtwig: Die Kirchen in der Revolution von 1848/49, in: ders. (Hrsg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998, S. 79-108; Jonathan Sperber: Kirchen, Gläubige und Religionspolitik in der Revolution von 1848, in: D. Dowe / H.-G. Haupt / D. Langewiesche (Hgg.): Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 933-959.
4 Jonathan Sperber: The European Revolutions, 1848-1851, Cambridge 1994.
5 Auch J.-D. Kühne vermag diese Lücke nicht zu füllen, da sich sein Beitrag auf den Prozeß der Verfassungsgebung konzentriert: J.-D. Kühne: Verfassungsstiftungen in Europa 1848/49: zwischen Volk und Erfolg, in: D. Langewiesche (Hrsg.): Demokratiebewegungen und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998, S. 52-69.

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